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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Vater nicht gescheiter gewesen wäre! Sie hätte ebensogut sechstausend Franken fordern können, und Du hättest auch zugreifen müssen! O, sie bringt unser Kaffeehaus mit einem Schlag in die Mode! Eine wahre Goldgrube, das! Wenn die Sache nur zwei Jahre so fortgeht, sind wir die reichsten Leute!“

Von diesem Augenblick an hatten die Pariser eine neue Mode, eine neue Liebhaberei, einen neuen Stern – das „schöne Limonadenmädchen“, „la belle limonadière“.


5. Die Büffettdame.

Am Tage nach Paulinens erstem Erscheinen sprach man in ganz Paris thatsächlich von nichts anderem als von dem schönen Limonadenmädchen. Die wunderbare Vollendung ihrer Züge, der Glanz ihrer Augen, ihr reiches Haar, die edle Form ihrer Hand und ihres Fußes, ihr vornehmes Wesen – das alles fand tausend Bewunderer, die von früh bis abends förmliche Hymnen über sie sangen.

Alles drängte in das mit einem Schlag berühmt gewordene Kaffeehaus, und als Pauline gegen vier Uhr nachmittags ihren Sitz am Büffet wieder einnahm, erschallte aus der dichtgedrängten Menge ein Beifallklatschen, das kein Ende nehmen wollte und sich immer wieder erneuerte. Seit Jahren hatte man die Pariser in keinem solchen Begeisterungstaumel gesehen – es war wie ein Delirium. Die Leute in der Glasgalerie draußen verlangten so stürmisch die schöne „Limonadière“ zu sehen, daß sie sich endlich vom Büffett erheben und an den großen Scheiben längs des Durchgangs zeigen mußte. Da erhob sich auch draußen ein unendlicher Beifallssturm. Die Zeitungen besprachen sämtlich am nächsten Morgen diese Vorfälle; man verglich Pauline in den Feuilletons mit allen Schönheiten, die jemals die Welt in Entzücken versetzt hatten. Aber die Erfolge der jungen Witwe beschränkten sich nicht darauf; die kleineren Theater nutzten die Begeisterung des Publikums aus und brachten die „Limonadière“ in mehreren Gelegenheitsstücken auf die Bühne; es fanden sich sogar Theaterdirektoren, die ihr den Vorschlag machten, sie unter glänzenden Bedingungen zu engagieren, wenn sie sich nur entschließen könne, in einem dieser Stücke auf der Bühne zu erscheinen, sei es auch nur in einer stummen Rolle. Ja, der Besitzer eines anderen Kaffeehauses bot ihr fünfundzwanzigtausend Franken jährlich, wenn sie bei ihm Dienste nehmen wolle. Umsonst! Pauline hatte für alle diese Vorschläge nur eine abweisende Antwort und erklärte, auch ohne Vertrag würde sie sich verpflichtet fühlen, bei der Familie Mussault auszuharren. Das wurde bekannt und erhöhte noch das allgemeine Interesse. Sie war für die Pariser nun vollends nicht nur schön wie eine Fee, sondern auch hochherzig und edeldenkend wie eine Heldin. Und Herr Mussault, der ungeheure Geschäfte machte, hingerissen von der Begeisterung ringsum, erhöhte das Gehalt Paulinens von selber auf zwölftausend Franken und bewilligte ihr einen Antheil an seinem Reingewinn.

Die Lage Paulinens war nun, wenn auch nicht glücklich, so doch tröstlich geworden. Jeder Tag benahm ihrer Stellung etwas von dem Peinlichen, das diese hatte, und sie empfand sogar – sie wäre sonst kein echtes Weib gewesen – eine Art Befriedigung über die schmeichelhafte Berühmtheit, deren sie sich zu erfreuen hatte. Und doch – wie viel sie in diesem äußerlich glänzenden Leben entbehren mußte, das kam ihr zum Bewußtsein, wenn sie alle zwei Wochen den freien Tag, den man ihr verstattet hatte, in der Familie des guten Doktor Destrée verbringen konnte, ihren Knaben auf dem Schoß, ohne Lärm, ohne Aufregung um sie her. Daß sie ihren Sohn nicht selbst erziehen durfte, war ihr bitterster Schmerz. Zwar lief sie jeden Morgen nach der Pension Adrians, um ihn zu umarmen, zu ermahnen, sich nach seinen Fortschritten zu erkundigen, und war glücklich, wenn sie erfuhr, daß der Knabe alle seine Mitschüler an Fleiß übertreffe. Aber wie wenig war doch das alles für ihr liebedürstendes Mutterherz! Nur ein Gedanke tröstete sie dabei: die Zukunft ihres Knaben würde frei von Sorgen sein. Sie legte fast ihre ganze große Einnahme auf Zinsen und entnahm ihr nur die für Adrians Erziehung nothwendigen Summen. Ihre eigene Wohnung und Verpflegung kosteten sie nichts, und auch ihrer treuen Dienerin, der Frau Hinrik, hatte sie eine auskömmliche Stelle in der Kaffeeküche verschafft. So konnte sie sicher darauf rechnen, nach den fünf Jahren, auf die ihr Vertrag lautete, ein hübsches Vermögen erspart zu haben, das die Zukunft sicherte. Diese frohe Aussicht war der unzerstörbare Halt, dessen sie in ihrer Stellung bedurfte, um nicht von Kleinmuth überwältigt zu werden. Ihre Schönheit trug ihr so manche plumpe und dreiste Aeußerung zudringlicher Bewunderung ein, und obgleich sie die mündlichen Huldigungen alle mit demselben kalten Lächeln abthat, die Briefe ungelesen verbrannte, so fühlte sie sich doch im Innersten wehrlos. Und als ihr einige Stutzer zu folgen anfingen, wenn sie abends in ihre Wohnung zurückging, begleitet von Frau Hinrik, war sie zuletzt gezwungen, eine kleine Wohnung im Kaffeehause selbst zu beziehen, um sich vor diesen Belästigungen sicherzustellen.

So verflossen vier Jahre – vier Jahre der Arbeit, der Hoffnung auf die Zukunft.

*  *  *

Eines Nachmittags saß Pauline wie gewöhnlich in dem Büffett, aus dem sie den Thronsessel Napoleons hatte entfernen lassen, um ihn mit einem weniger theatralischen Lehnstuhl zu vertauschen. Sie trug – wie fast stets, seit es ihr gelungen war, von den Rathschlägen der Frau Mussault sich unabhängig zu machen – ein einfaches schwarzes Kleid, das aber ihre Schönheit nur noch mehr hervorhob und zu dem melancholischen Reiz ihrer Züge vortrefflich paßte. Gedankenlos ließ sie ihre Augen durch den Saal schweifen, als sie plötzlieh im Kreise einiger Freunde einen jungen Menschen erblickte, der sie in wahrhaft taktloser Art anstarrte. Es schien dabei, als ob ihn seine Kameraden wegen einer Prahlerei verspotteten, auf der er offenbar beharrte. Endlich ließ er sich von einem Kellner Tinte und Feder bringen und schrieb auf ein Blatt seines Notizbuches einige Zeilen. Er riß das Blatt heraus, faltete es briefartig zusammen und ließ es durch den Kellner der Büffettdame überreichen. Diese glaubte, es enthalte irgend eine besondere Bestellung, entfaltete es und las: „Den schönsten Kaschmirshawl für einen Kuß!“

Es war das erste Mal, daß ihre öffentliche Stellung dazu mißbraucht wurde, sie auf so rohe Art zu beleidigen. Sie wurde brennend roth vor Entrüstung und warf den Zettel verächtlich von sich. Jetzt erhob sich der junge Mann, der schon einige Flaschen Champagner getrunken hatte, von seinem Tischchen und trat an das Büffett, um seine Rechnung persönlich zu begleichen. Er zog eine Handvoll Goldstücke aus der Tasche und legte sie vor Pauline hin, die den Betrag der Rechnung davon wegnahm, das übrige aber mit der Hand zurückschob. Der Fremde rief den Kellner und strich ihm den Rest der Goldstücke in die Schürze. „Ich habe Dir einen Brief zur Besorgung übergeben,“ sagte er, „verlange die Antwort!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_644.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)