Seite:Die Gartenlaube (1893) 642.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

und Enkel, nichts von dem, was im Alter das Leben versüßt, und doch zugleich das Entsetzen vor dem Altern selbst, welches geistig sehr bedeutenden und dabei egoistischen Menschen zu allen Zeiten eigen ist. Nicht alle haben den glücklichen Humor der Madame de Sévigné, welche, selbst beglückte und liebenswürdige Großmama, einem gealterten Unwiderstehlichen, der sich über seine neue Großvaterwürde nicht trösten konnte, scherzhaft schrieb: „Pätus, es schmerzt nicht!“ Madame du Deffand besonders konnte sich nicht darein finden, und obgleich sie klar einsah, daß dem Alter Zurückhaltung und Entfernung aus der Gesellschaft wohl anstehe, war ihr schon der Gedanke entsetzlich, einen Abend allein zu sein, sie wollte, wie sie einmal sagte, lieber einen Minoritenbruder zur Gesellschaft haben, als die schreckliche Langeweile des Alleinseins erdulden, die sie als ärgste Geißel des Lebens fürchtete.

„Verschaffen Sie mir ein Geheimmittel gegen den ennui,“ schreibt sie einmal, „und ich will Ihnen dankbarer sein, als wenn Sie mir den Stein der Weisen geoffenbart hätten.“

Wohl trug die Abhängigkeit der Blinden von Vorleserin und Sekretär sehr dazu bei, dieses Gefühl zu schärfen, sie sprach es aber auch schon aus, als sie noch sehend war; es ist das allgemeine Leiden einer Zeit, welche den Genuß an Stelle der Arbeit setzte.

Den schwierigen Posten einer Vorleserin nahm bei der Marquise jahrelang zu ihrer großen Zufriedenheit ein junges Mädchen ein, deren Name als Freundin d’Alembert’s ebenfalls unzertrennlich von jener Glanzzeit französischen Geistes ist: Julie de Lespinasse. Sie war das Kind einer adligen Dame, mußte aber ihrer Verhältnisse wegen froh sein, als 1754 die damals schon fast ganz erblindete Madame du Deffand sie als Gesellschafterin zu sich nahm, Es war kein leichtes Geschäft für das zarte Mädchen, der schwer zu befriedigenden Gebieterin, die an fortwährender Schlaflosigkeit litt, mit Gespräch und Lektüre die Nächte hinbringen zu helfen, und manchmal erlag die Gesellschafterin fast der Aufgabe. Eifersüchtig wachte dann abends die alte Frau darüber, daß die außerordentliche Anmuth der Jüngeren, ihre seltene Grazie und glücktiche Gabe, das interessanteste Gespräch zu beginnen, nicht ihren eigenen berühmten Geist verdunkle, und besonders durfte d’Alembert, der sich von Anfang an aufs entschiedenste zu Julie hingezogen fühlte, nicht wagen, dies in Gegenwart der Gebieterin zu zeigen, die ihn wegen seines glänzenden Geistes und liebenswürdigen Herzens vor allen auszeichnete. So wie er fühlten sich auch die anderen nach und nach durch die ungestümen Ansprüche der Herrin des Salons etwas beengt und sehnten sich nach einem unbefangenen Gespräche mit der liebenswürdigen Julie, deren gleichmüthige Sanftheit im Ertragen der alten launenhaften Frau die allgemeine Bewunderung erregte. Es war nicht schwer, eine solche Gelegenheit zu finden, aber alle Besucher von St. Joseph und Fräulein de Lespinasse namentlich wußten, daß dies einem Todesverbrechen gegen die Marquise gleichkam und strengstens verheimlicht werden mußte. Die Besucher kamen einfach abends eine Stunde früher, ehe Madame du Deffand, die den Tag zur Nacht machte, aufstand, und versammelten sich in dem Stübchen ihrer Gesellschafterin zu ebener Erde, wo dann ohne Zwang in bester Laune geplaudert werden konnte, und dieser „salon de contrebande“, wie ihn einer nannte, ging jedem von ihnen weit über den der Marquise.

Jahre lang fanden sich hier die ersten Geister von Paris zusammen, um nicht nur esprit zu haben, wie im oberen Stockwerk, sondern um von den großen politischen und socialen Gebrechen, von den Mitteln zu ihrer Heilung zu reden, für welche Madame du Deffand sich nicht interessierte. Endlich aber wurde das Geheimniß offenbar, und nun kannte die Entrüstung der alten Frau keine Grenzen. Sie sah sich betrogen und verrathen von ihren Nächsten, sie, die an den Menschen kaum etwas anderes mehr achtete, als die Wahrhaftigkeit und mit vollem Recht sowohl d’Alembert als seine junge Freundin für wahrhaft gehalten hatte. Kein Bitten und Zureden half, sie entließ Fräulein de Lespinasse sofort, und als sie hörte, daß in deren neuem Quartier dieselben Menschen, die ihren eigenen Soupers anwohnten, sich bei einem Glas Zuckerwasser zusammenfanden, da stellte sie ihren Gästen einfach die Alternative: sie oder ich! Weil es ihr unmöglich schien, d’Alembert’s Umgang zu missen, glaubte sie dasselbe auch von ihm, allein er zögerte keinen Augenblick und entschied sich für seine junge Freundin.

Madame du Deffand wurde deshalb noch nicht einsam, sie hatte nur einige von denen verloren, welche allabendlich den gelben Salon von St. Joseph bevölkerten, aber unter ihnen eben den Einen, den sie nie vergessen konnte. Ihr Haß gegen Julie de Lespinasse trotzte jeder Vermittelung, und als sie fünfzehn Jahre später deren Todesnachricht erhielt, war ihre einzige Bemerkung: „Wäre sie damals gestorben, so hätte ich d’Alembert behalten!“ Nicht ohne Beziehung auf jene Vorfälle ist auch ihr Wort: „Warum hat sich wohl Diogenes so viel Mühe gegeben, einen Menschen zu suchen? Es konnte ihm ja nichts Besseres passieren, als keinen zu finden, denn wenn er ihn wieder hergeben mußte, würde ihm das alle anderen verleidet haben!“

Und seltsam! Dieser herben, sarkastischem menschenverachtenden Seele sollte inmitten ihres verhärteten Egoismus das scheinbar Unmögliche widerfahren, im hohen Alter eine Empfindung kennen zu lernen, die sie ihr Lebtag gelästert und verleugnet hatte, und mit siebzig Jahren zum ersten Male zu lieben wie ein siebzehnjähriges Mädchen. Ein vornehmer Engländer, Horace Walpole, betrat wie so viele ausgezeichnete Fremde den Salon der Marquise, den man gesehen haben mußte, wenn man von Paris heimkehrte. Voltaire sagt von ihr: „Wenn man sich in Gesellschaft der Madame du Deffand befindet, wüßte ich niemand, den man nicht entbehren könnte.“ Walpole, ein sehr energischer, ebenfalls höchst geistvoller Mann, empfand anfangs diesen Zauber durchaus nicht, sondern schrieb an einen Freund von der „alten blinden Geistesschwelgerin“, mit der er gestern abend zu Nacht gegessen habe. Ihr aber hatte der männliche Klang seiner Stimme, die freimüthige und sehr rücksichtslose Ausdrucksweise einen Eindruck gemacht wie nie etwas vorher, und mit glühendem Enthusiasmus strömte sie das neue Gefühl aus, das im Schnee des Winters als ungeahnter Frühling über sie hereinbrach.

Walpole selbst war im Anfang sehr betreten, er fürchtete, wie alle glänzenden Weltmänner, die Lächerlichkeit über alles und trat mündlich und brieflich mit der größten Härte den Aeußerungen einer Zärtlichkeit entgegen, die für ihn, den achtundvierzigjährigen Mann, geradezu unerträglich war. Der Briefwechsel der beiden liefert Belege, die in ihrer Art einzig dastehen – von der willenlosesten Hingabe der sonst so hochmüthigen Egoistin und der grausamsten Verhöhnung ihrer Ergüsse von seiten Walpoles.

„Sie lassen mir keinen Zweifel über Ihren Widerwillen gegen mich,“ schreibt Madame du Deffand einmal. „Wissen Sie, was mir das für einen Effekt macht? Daß ich Sie nicht weniger liebe als vorher . . . Ohne den verwünschten Ocean, der so übel placiert ist, weil er uns trennt, wäre ich trotz meines Alters die Glücklichste der Menschen.“

Einer solchen Anbetung widerstand auf die Dauer auch ein Horace Walpole nicht. Trotz gelegentlicher strenger Zurückweisungen wurde er doch nach und nach wärmer und erwiderte wenigstens mit aufrichtiger Freundschaft die an Vergötterung grenzende Zärtlichkeit der einsamen alten Frau. Sie interessierte ihn doch bald aufs höchste, er brachte bei einem zweiten Aufenthalt in Paris, den sie stürmisch herbeigesehnt hatte, lange Stunden in ihrer Gesellschaft zu und bewunderte ihre geistige und körperliche Lebhaftigkeit, wie sie in diesem Alter selten genug ist. Einem Freunde schrieb er damals: „Sie hat mit 73 Jahren eben so viel Feuer, als andere mit 23, sie macht Couplets und singt sie und erinnert sich an alle, die sie je gesungen hat. Durch ihre Lebensdauer von der angenehmsten Zeit des Jahrhunderts an bis auf unsere (1774)), welche die philosophische genannt werden kann, vereinigt Madame du Deffand die Vorzüge von Alter und Jugend ohne ihre Fehler: Liebenswürdigkeit ohne Eitelkeit und Vernunft ohne Grämelei, Ich habe sie mit allen möglichen Leuten über jedes mögliche Thema sprechen hören, und sie bleibt niemals stecken. Sie schlägt die Gelehrten, setzt die Anfänger an ihre Stelle und findet das richtige Wort für jeden. Sie ist so lebhaft und eindrucksfähig wie Madame de Sévigné, aber sie theilt nicht deren Vorurtheile und hat einen viel umfassenderen Geschmack.

Trotz ihrer zarten Körperbeschaffenheit führt sie in ihrer unglaublichen Beweglichkeit ein Leben, das mich einfach ruinieren würde, wenn ich hier bleiben müßte. Wenn wir um ein Uhr morgens von einem ländlichen Souper heimkehren, so schlägt sie noch einen Spaziergang über die Boulevards vor, weil man ‚so früh doch unmöglich schon schlafen gehen könne‘. Vorige Nacht hatte ich alle erdenkliche Mühe, sie, die sich noch dazu unwohl fühlte, vom

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_642.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2022)