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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Und nun, nachdem sie wieder ein nothdürftiges Heim besaßen, galt es, nach Arbeit zu schauen. Und das Glück gönnte ihnen einen bescheidenen Sonnenstrahl. Sie fanden beide Beschäftigung bei einem Kaufmann, dem Georg die Bücher führen sollte, während seine Frau Stickereien und Toilettearbeiten anzufertigen hatte. Daneben versah die muthige Frau noch die kleine Wirthschaft und that alles, was die Sorge für ihr Kind irgend erforderte.

Während das Ehepaar sich so in die Armuth einzuleben versuchte, verbreitete sich in Antwerpen erst langsam und dann mit Blitzesschnelle die Nachricht von dem Sturz des großen Handelshauses und erregte einen Sturm von Unwillen und Angst. Denn obgleich Pauline ihr großes Erbe zur Masse geschlagen hatte, verloren die zahlreichen Gläubiger doch immer noch ein Viertel ihrer Forderungen. In Paris würde die edelmüthige Entsagung der jungen Frau, die ihre ganze Habe opferte, für eine Narrheit gehalten worden sein; in Antwerpen, wo noch patriarchalische Sitten herrschten, verwunderte man sich nicht einmal darüber. Für alle Antwerpener hatte Frau van Eyckens einfach ihre Pflicht erfüllt, und nicht einmal die Schuld oder die Unvorsichtigkeit ihres Gatten erschien diesen dadurch in einem milderen Licht. Die Gläubiger theilten sich in das ganze noch vorhandene Vermögen, ohne sich viel darum zu kümmern, daß Pauline und ihr Kind an den Bettelstab geriethen. Doch gelang es den Bemühungen einiger Freunde und vor allem dem selbstlosen Eifer des ersten Buchhalters, wenigstens die Ehre des Banquiers zu retten; die Gläubiger willigten in einen Vergleich, und der Bankerott wurde nicht gerichtlich erklärt. Das waren die Nachrichten, welche die beiden Gatten in Paris ereilten, und zwar durch einen unerwarteten Boten.

Eines Morgens nämlich, als Pauline, einen Korb am Arm, mit ihren kleinen Wirthschaftseinkäufen vom Gemüsemarkt nach Hause ging, müde von der Arbeitslast, die auf ihr lag, stieß plötzlich eine Frau, die von der entgegengesetzten Seite der Straße kam, einen Ruf der Ueberraschung aus. Freude und Bestürzung mischten sich in diesem Schrei. Es war Frau Hinrik, die getreue Hinrik, die in dieser Weise ihren Gefühlen Luft machte beim Anblick ihrer einstigen Herrin, welche wie eine Dienerin gekleidet ging und den plumpen Korb schleppte; die robuste, einfältige, aber goldherzige Vlämländerin konnte sich der Thränen nicht erwehren.

„Frau Hinrik! Sie hier in Paris?“ rief Pauline erstaunt.

„Ja, ich bin heute morgen angekommen“, antwortete die Magd halb schluchzend, halb lachend. „O, und wie gut ist’s, daß ich Ihnen nachgefolgt bin! Sie brauchen doch jemand, der Sie bedient! Du himmlische Güte, ich werde flennen müssen, so oft ich dran denke, wie ich Sie da wiedergefunden habe!“

„Sie – Du bist also nur unseretwegen hergekommen?“

„Warum denn sonst? Bin ich denn nicht bei Ihnen im Dienst, seit Sie auf der Welt sind? Habe ich Sie nicht schon als kleines Kind auf den Armen gehalten? Und kann ich denn leben ohne Sie, Madame? Ich sage Ihnen, vom Morgen bis in die späte Nacht habe ich geweint, seit Sie mich in Antwerpen allein zurückgelassen haben. Das Herz war mir stets voll zum Zerspringen. Zuletzt hab’ ich’s nicht mehr aushalten können. Ich habe den Herrn Buchhalter so lange gebeten, bis er mir die Adresse des gnädigen Herrn gab und den Weg sagte, den ich bis hierher zu nehmen hätte. Da hab’ ich mich denn auf die Reise gemacht und schon die Postkutsche bezahlen wollen, als mir einfiel, wir könnten vielleicht das Geld hier besser brauchen, und so bin ich statt dessen auf eigene Faust hergewandert, manchmal zu Fuß, manchmal auf einen Leiterwagen aufsitzend, wie sich’s eben traf. Der Weg war freilich lang und ich bin oft müde genug geworden, denn ich machte tüchtige Strecken, um nur desto eher bei Ihnen, bei unserem kleinen Adi und beim gnädigen Herrn zu sein. Na, bis hierher nach Paris ging’s gut trotz allem. Aber, Du lieber Himmel, seit ich in dieser verrückten großen Stadt bin, kenne ich mich nicht mehr aus! Ich verirre mich in den Gassen, und wenn ich rechts gehen soll, gehe ich just verkehrt. Zuletzt wußte ich gar nicht mehr wo aus und ein, bis ich da auf einmal vor Ihnen stehe! Ist das eine merkwürdige Geschichte! O, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich erst auf den kleinen Adi freue! Ich könnte wahrhaftig mitten auf der Straße zu tanzen anfangen!“

„Daheim kannst Du tanzen, soviel Du willst – da sind wir schon!“

„Und ich lasse Sie da immer den schweren Korb tragen! Wo hab’ ich meine Gedanken! Die Freude, daß ich Sie endlich wieder habe, macht mich ganz wirbelig!“

Und Frau Hinrik nahm ihrer jungen Herrin den Korb fast mit Gewalt ab und folgte ihr in das düstere kasernenartige Wohnhaus.

Im ersten Stockweck angekommen, blieb sie stehen. Pauline lächelte traurig und sagte: „Wir sind noch nicht am Ziel, es geht noch drei Treppen hinauf.“

„Die Häuser hier in Paris scheinen wahre Kirchthürme zu sein,“ rief die Hinrik, den Korb fester fassend und lustig weiterschreitend.

Die Anwesenheit der Frau Hinrik in der Familie van Eyckens brachte freilich eine Person mehr in die Kost, enthob aber die junge Frau der gröbsten Arbeiten und gestattete ihr, desto mehr Zeit auf ihre Stickereien zu verwenden und auf diese Weise das kleine Einkommen zu vermehren, von welchem sie jetzt leben mußten. Und dank ihrer Umsicht und dem fast krankhaften Geiz der Magd kam man eben durch. Frau Hinrik machte sich jedes Stück Brod, das sie aß, zum Vorwurf; wenn sie abends in die kleine Bodenkammer trat, die man für sie gemiethet hatte, zündete sie sich nicht einmal ein Lichtstümpfchen an. Bald übernahm sie noch im Hause die Bedienung mehrerer lediger Herren und von Zeit zu Zeit ließ sie irgend ein größeres Geldstück in die Tischlade ihrer Herrschaft gleiten und leugnete dann mit eherner Stirne, etwas davon zu wissen. Nur für ihren kleinen Adi wurde sie zu einer wahren Verschwenderin; sie ging nie mit ihm aus, ohne ihm eine Näscherei oder ein kleines Spielzeug zu kaufen, denn Adrian war ihr Stolz, ihr Abgott. Wenn die vierschrötige Vlämländerin mit ihrem „Adi“ an der Hand stolz und glücklich über die Gasse schritt, da kam ihr keine Königin gleich. Und als sie im Tuileriengarten einst zwei Damen davon sprechen hörte, daß die einzige anständige Gewandung für kleine Knaben ein Sammetkleidchen sei, da wurde sie von der fixen Idee erfaßt, Adrian müsse um jeden Preis in Sammet gehen. Sie arbeitete Tag und Nacht, strickte, stickte, that Dienste für alle Nachbarparteien, kroch förmlich vor den alten Junggesellen, bei denen sie aufräumte, um Extratrinkgelder zu erschmeicheln, und warf endlich eines Abends mit mürrischer Miene und hochroth vor Verlegenheit ein Stück Sammet auf den Tisch und sagte: „Da ist nun der Sammet zu dem Kleidchen für unsern Adi.“

Frau van Eyckens schaute erstaunt, fast bestürzt von ihrer Arbeit auf und sah bald den Stoff, bald die Magd an. „Was hast Du denn nur?“ Da fuhr die Hinrik fast giftig auf. „Nun freilich – wir können doch unser Kind nicht herumgehen lassen wie einen Betteljungen! Jeder anständige Knabe hat ein Sammetkittelchen – und Sie thun mir wirklich leid, Madame, wenn Sie das noch nicht wissen!“ Damit floh sie erbost aus dem Zimmer, und als Pauline ihr nacheilte, fand sie die treue Dienerin auf der Treppe zu ihrem Dachstübchen hockend, die blüthenweiße, brettsteife Schürze über den Kopf geschlagen, in herzzerbrechendem Schluchzen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_607.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2022)