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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Deiner Ehre? Das darf, das kann nicht sein!“ rief sie heiser, sich stolz aufrichtend, ihre Hand wie in gebieterischer Abwehr ausgestreckt, die schwarzen Augen flammend.

„Ach, was versteht Ihr Frauen davon!“ entgegnete er mit der Rücksichtslosigkeit, welche das Unglück in schwachen verwöhnten Glückskindern wachruft. Und Herr van Eyckens war ein Schwächling trotz all seiner glänzenden Eigenschaften; er war es in demselben Grade, in dem seine zarte junge Frau stark und tapfer war. „Verlust über Verlust hat mich getroffen,“ fuhr er grollend fort. „Ein Unglück zieht da das andere nach sich – wo sich erst ein Mörtelstückchen loslöst, klafft bald eine Lücke. Dann kam das Schreckliche – die Handelsschiffe, die mir zu Grunde gingen. Ich mußte suchen, die Lücke wieder auszufüllen, ich spekulierte – spekulierte gewagt, tollkühn, wie eben ein sinkender Mann spekulieren muß. Ich setzte die Gelder anderer dran, um mich, um uns vielleicht dennoch zu retten – nun ist alles verloren! Nur schleunige Flucht kann mich vor dem Gefängniß, vor einer entehrenden Verurtheilung retten. Flucht! Was rede ich von Flucht! Sterben muß ich!“ Und er vergrub sein Gesicht in die verschlungenen Arme, in die Polster des Sofas, und ein lautes Stöhnen schien ihm die Brust zersprengen zu wollen.

Jetzt aber lag sie auch schon neben ihm auf den Knien; ihre weißen Arme umklammerten ihn und hielten ihn fest, fest, als wollte sie einen Versinkenden aus brandenden Fluthen emporhalten mit Aufwendung aller ihrer Kräfte. „Sterben?“ keuchte sie. „Du, Du, Georg? Dein Weib verlassen und Dein Kind? Unseren Adrian? Das kannst Du nicht wollen, das wäre feig, und Du bist nicht feig, Du bist es nicht, wie könnte ich Dich sonst so lieb haben!“ Und auch ihr Schmerz zerfloß jetzt in Thränen. Aber sie besaß ein tapferes muthiges Herz, diese mädchenhafte Frau von zwanzig Jahren, die man fast noch für ein Kind hätte halten können; sie richtete sich entschlossen auf. „Es muß einen Ausweg geben, eine Rettung!“

„Es giebt keine!“ erwiderte ihr Gatte tonlos. „Kaum daß es mir geglückt ist, Deine Mitgift zu retten aus dem allgemeinen Zusammenbruch. Du brauchst nur die Schriften zu unterzeichnen, die ich hier mitgebracht habe, und Dich auf unseren Heirathsvertrag zu berufen ...“

„Wie, Georg? Ich sollte wohlhabend bleiben, während Du in Schande und Tod getrieben wirst? So also verstehst Du unsere Vereinigung, die Treue, die wir einander gelobt haben? Du redest von meiner Mitgift – Gott gebe, daß die halbe Million genügt, um die Gelder, die Dir anvertraut waren, zu decken, Deinen Namen rein zu erhalten! Warum willst Du diesen Ausweg nicht? Ich habe Deinen Reichthum getheilt und werde fortan Dein Elend theilen. Du darfst nicht sterben, Georg! Wir geben den Gläubigern, was wir besitzen, und sagen ihnen, daß wir arbeiten wollen – arbeiten ohne Unterlaß, Tag und Nacht, bis wir die letzte Schuld getilgt haben. Der Himmel wird uns Muth und Kraft dazu verleihen, Geliebter!“

„Aber das Elend, die Armuth, die Schande, Pauline . . .“

„Armuth ist noch nicht Schande!“

„Und unser Kind?“

„Unser Kind? Wir werden ihm einen ehrlichen Namen hinterlassen, das wird mehr sein als Gold. Wir werden ihn arbeiten lehren, an ein stilles fleißiges Leben gewöhnen. Das übrige ist Gottes Sache!“

„Aber ich kann dieses Opfer nicht von Dir annehmen! Ich allein bin der Schuldige, ich allein muß die Folgen meines Leichtsinns oder meines Irrthums tragen! Du darfst es nicht. Du nicht!“

Sie lächelte – eine rasche Bewegung und die Schriften, die sie vom Tische genommen hatte, flatterten zerrissen in das Feuer des Kamins, in diese ruhige behagliche Flamme, umrahmt von dem künstlerischen Marmorgewinde.

„Pauline!“ rief er.

Sie antwortete nicht, sondern klingelte.

Frau Hinrik, ihre Kammerzofe, trat ein, eine echte vlämische Erscheinung: groß und stark, nichts weniger als anmuthig; alles bei ihr ging in die Breite. Die Haare hatte sie so straff nach hinten gestrichen, daß es schien, als hätten sie die Augenbrauen in die Höhe gezogen – wenn man die blonden Schatten über den rehbraunen runden Augen überhaupt so nennen konnte. Ihr Stumpfnäschen schaute aus dem weißen Gesicht munter und zugleich erstaunt in die Welt. Ihre Schürze, ihr Krägelchen, ihre Manschetten waren immer so blendend weiß, daß es den Eindruck machte, als rieche die ganze Person nach Waschtag und Plätteisen.

„Frau Hinrik,“ sagte Pauline gefaßt, „wissen Sie, wann vom ‚Goldenen Lamm‘ der Stellwagen nach der französischen Grenze abfährt?“

„Um sieben Uhr, Madame.“

„Dann gehen Sie sogleich hin und lassen zwei Sitze vormerken. Zwei Innensitze!“

„Zwei Innensitze?“ fragte die Hinrik erstaunt und gedehnt.

„Ja. Hören Sie denn nicht? Auf was warten Sie noch?“

Die Hinrik ging schweigend hinaus, und bald darauf sah man sie mit einem dicken Tuch über Kopf und Schultern durch das Schneegestöber der Gegend zutraben, wo sich der Gasthof zum „Goldenen Lamm“ befand.

„Unsern Adrian werde ich auf dem Schoß halten,“ sagte Frau van Eyckens lächelnd zu ihrem Gatten, als die Dienerin sich entfernt hatte. „Wir haben noch den ganzen Nachmittag Zeit. Ich packe rasch einen Koffer mit Wäsche und den nöthigsten Kleidern. In meiner Sparbüchse – ach, es ist das tönerne Büchschen, das mir Adrian vom letzten Jahrmarkt mit nach Hause brachte! – befinden sich viertausend Franken, die ich mir nach und nach von meinem Nadelgeld erspart habe. Das ist das einzige Geld, das wir mit gutem Gewissen mitnehmen dürfen. Und Du, Georg, fasse Muth! Besprich Dich mit Deinem ersten Buchhalter! Herr Goevaert ist klug und treu – er muß die ganze Lage des Geschäftes erfahren. Gieb ihm eine Generalvollmacht und laß die Urkunde aufsetzen, in der ich meine Mitgift Deinen Gläubigern überlasse. Die Veröffentlichung unseres Ruins darf uns nicht mehr hier treffen. In Frankreich, in Paris lassen sich die Ereignisse besser abwarten. Und sollte Deine Anwesenheit hier nothwendig werden, so kannst Du immer wieder zurückkehren.“

Eine wunderbare Entschlossenheit war über sie gekommen und sprach aus jedem ihrer Worte. Georg van Eycken fügte sich in allem den Anordnungen seiner Gattin. Mit dem Reichthum schien seine ganze Thatkraft, sein ganzes vornehmes Selbstbewußtsein verschwunden zu sein. Es giebt Menschen, die nur in der Treibhauswärme des Ueberflusses leben können, die nur da Halt und Ansehnlichkeit bewahren. Kommt die Armuth, so legt sie sich tödlich über sie wie Frühlingsfrost über Blüthen.

Es war schon finster und die Laternen warfen ein kümmerliches Licht über die Straßen, als der Stellwagen dem Stadtthore zu holperte. Ein glücklicher Zufall fügte es, daß sich die beiden Gatten mit ihrem Kind allein in dem Gefährt befanden. Als der Wagen aus dem Thore rollte, brach der junge Banquier wie in sich selber zusammen und schluchzte auf. Seine Gattin zog ihn an sich, lehnte das Haupt des Unglücklichen an ihre Schulter und setzte den Knaben auf den Schoß dieses verzagten vernichteten Mannes mit der reckenhaften Gestalt und dem verzweifelnden Herzen.

„Der Himmel wird uns nicht verlassen,“ sagte sie mit sanfter Stimme, „denn wir haben unsere Pflicht gethan.“


2. Lebensstürme und Strandgut.

Nach langer mühseliger Fahrt kamen die Flüchtlinge in Paris an und stiegen in einem bescheidenen Gasthaus ab. Nichts vermag so sehr die Traurigkeit des Gemüthes zu vermehren als diese kleinen kahlen Miethwohnungen, die sich dem ersten Besten öffnen, die ewig ihre Bewohner wechseln und deren schäbige und gebrechliche Möbel von dem Glückswechsel früherer Besitzer erzählen, von zwangsweisen Versteigerungen, bei welchen sie gesammelt wurden. Wie traurig war da die erste Nacht für die Drei! Van Eycken hatte fast keine Antwort auf die Ermuthigungen seiner jungen Frau, der kleine Adrian schmiegte sich ängstlich, verschüchtert an die Mutter, und Pauliue mußte all’ ihre Kraft zusammennehmen, um nicht selber zu verzweifeln und in einen Strom von Thränen auszubrechen.

Ueber die nächsten Wochen kann man kurz hinweggleiten. Der Kampf mit dem Leben begann. Pauline suchte und fand in einer Vorstadt eine kleine, im vierten Stockwerk gelegene Wohnung, die nicht allzu theuer war und im Sommer wenigstens den Blick auf das Grün der benachbarten Gemüsegärten freilassen mußte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_606.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2022)