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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

anderes, das sei Nebensache – und gab mir fürs erste die Mittel zur Weiterreise nach Laibach in die Hand. Dabei schüttelte er aber den Kopf. Ob sich in der schönen weiten Steiermark denn nicht eine einzige Schule aufthun wolle, in der ein Lernbegieriger umsonst sitzen könne? Ob sich denn die Steirer das anthun lassen mögen, daß ein bildungsbeflissener junger Landsmann zu den Krainern gehen müsse, um sich weiter zu bringen? Derlei glaubte ich aus dem Kopfschütteln des Herrn Peter Reininghaus lesen zu können – oder kam es mir nur so vor? Ich ging gern in die weite Welt, je weiter fort, desto lieber; etwa nach dreißig oder vierzig Jahren gedachte ich einmal zurückzukehren, um zu sehen, ob die steirischen Berge noch alle dastünden.

In Graz war mir mein Taschentuch zu klein geworden. Ich hatte einen schwarzen Festtagsrock geschenkt bekommen und Beinkleider und feine Wäsche – als wohlhabender Mann bin ich in die Fremde gezogen.

Sieben Stunden währte die Fahrt durch den nebligen Wintertag, und als ich in Laibach einzog, brannten zu beiden Seiten der Straße schon die Laternen. Jetzt war ich in der Fremde, das Herz jubelte mir. Ein neues Lebe! Ein neues Leben!

Im Hause des Buchhändlers Giontini wurde ich freundlich aufgenommen und eingetheilt in die Wohnung und in das Geschäft. Die Leute sprachen mit mir eine sehr hochdeutsche Sprache, sie war ganz eckig vor lauter hochdeutsch. Das war schön. Untereinander redeten sie eine fremde Zunge, die ich mein Lebtag nicht gehört, krainerisch, slavisch – und das war noch schöner. Als erste Arbeit im Geschäft erhielt ich krainerische Gebetbücher zu falzen, die Giontini in Druck und Verlag hatte. Da kam mir das erste Mal der Gedanke, daß die Muttergottes und die Heiligen auch slavisch verstehen müßten. Etwas so Gescheites war mir daheim nie eingefallen.

Am andern Tag wurde ich in die Leihbibliothek gestellt die der Buchhändler betrieb. Daheim war ich oft stundenlang gelaufen über Berg und Thal, um ein einziges Buch aufzutreiben, hier war ich buchstäblich eingemauert in Bücher – wie empfand ich mein Glück! Es gab ja auch sehr viele deutsche Werke darunter, ja mehr deutsche als slavische; denn die Krainer hatten damals in ihrer Litteratur nur Gebet- und Traumbücher, die weltliche Unterhaltung mußten sie sich von den Deutschen und Franzosen entlehnen. Es gab stets viel zu thun, um die verlangten Bücher hervorzusuchen und die zurückgebrachten einzureihen. Kaum daß ich Zeit fand, ihre Titel zu lesen und die Nummern am Rücken. Ein oder der andere Band wurde abends mit ins Bett genommen, aber bald war ich müde. Wäre es nur auch weiter so gewesen, daß mir der süße Schlaf treu blieb! Allein es nahten die Nächte da ich wachend lag bis zum Morgen, und die Hausfrau fand, daß meine Augen den Bücherstaub nicht vertrügen, weil sie so geröthet wären.

Zu Mittag war allemal eine Stunde frei, da ging ich an die Lehne des Schloßbergs und schaute gegen Norden hin, wo das Felsengebirge stand; doch zumeist war dieses von Nebel bedeckt. Dann eilte ich nach dem Bahnhof und schaute die Eisenschienen an, und es that mir wohl, zu denken, diese Eisenbänder gehen ununterbrochen bis Obersteier, bis Krieglach, verbinden mich mit meiner Heimath.

Alle Essenslust war dahin; wenn ich slavisch sprechen hörte, ward mir so übel im Magen, als ob ich Speck gegessen und Wasser darauf getrunken hätte. Am liebsten war es mir in der Kirche bei der Messe, denn der Priester sprach nicht krainerisch, sondern lateinisch, genau wie unser Pfarrer daheim zu Krieglach.

Damals ist mir der Knopf aufgegangen, weshalb die Sprache der katholischen Kirche in der ganzen Welt lateinisch ist. Die lateinische Sprache ist nirgends daheim, also auch nirgends fremd; sie ist eine verbindende Kraft. So weit war’s gekommen, daß ich daheim zu sein glaubte, wenn an mein Ohr das „Dominus vobiscum!“ klang.

Im Geschäft gerieth alles, was ich anfaßte, verkehrt und ungeschickt. Mein Hausherr blickte mir manchmal ins Gesicht, das kam ihm bedenklich vor, und so sagte er einmal, ich solle nur spazieren gehen draußen in der frischen Luft, es würde schon besser werden. – Besser werden? Wie sollte es besser werden? Nur einschlafen können und in alle Ewigkeit fortschlafen, das zu denken war die einzige Labe, So oft ich eines meiner Kleidungsstücke betrachtete, das mir die Mutter genäht, die Schwester geglättet hatte, hub die Bestie an zu graben. In der freien Luft wurde es nur ein wenig milder, wenn ich lief und lief; aber immer kann man nicht laufen, und was hilft alles Laufen, wenn es doch nicht heimwärts geht. Wo alles ganz fremd war, da ging es fast eher noch; wo aber irgend etwas nur enfernt an heimathlich Trautes erinnerte, da war der leidige Satan los, da folterte mich die Sehnsucht nach Daheim wie höllisches Feuer.

Eines Tages schickte Giontini mich zum Buchbinder, um einen Armvoll Gebetbücher abzuholen. Der Meister war just allein in der Werkstatt; erst das zweite Mal sah ich ihn und schon sank ich jetzt an seine Brust und hub an so heftig zu weinen, daß er einen krainerischen Schrei that und dann in schlechtem Deutsch fragte, ob ich Zahnweh hätte! Als das verneint wurde, war all sein Mitleid verscherzt – wenn man nicht Zahnweh hat, wozu dann solche Sachen! Und ich hätte ihm meine Noth nicht einmal klagen können, weil kein Name dafür vorhanden, weil nur ein unbeschreibliches Beklemmen und Bangen in mir war, ohne daß ich wußte, was mir fehlte und was ich wollte. Ich konnte es ja nicht wahrhaben, daß ein grauses Heimweh mein Herz zermalmte, so herb, als läge dieses zwischen zwei Mühlsteinen. So namenlos weh! Was die Seekrankheit für den Leib, das ist das Heimweh für die Seele. Noch heute kann ich keinen Buchbinderleim riechen, ohne daß der Wiederschein jenes Seelenleides leise aufdämmert, denn dieser Leimgeruch erinnert mich an Laibach im Krainerlande.

Die Schlaflosigkeit der Nächte war aber nicht das Schrecklichste, noch schrecklicher war endlich der kurze Schlaf, der mir im Traum mein Vaterhaus zeigte und mich der Meinen traute Stimmen hören ließ. Das Erwachen darauf in der fremden frostigen Kammer spottet aller Pein, die ich je in diesem Jammerthal kennengelernt habe.

So litt ich eine Woche lang. Viele Jahre schon vermeinte ich in der Fremde zu sein – was war derweil daheim wohl alles geschehen! Und nur acht Tage vergangen, seit ich mit fast tanzenden Schritten das stille Haus in den Waldbergen verlassen! Die dreißig, vierzig Jahre, bis ich wieder einmal nach den steirischen Bergen sehen wollte, konnten schon etwas länglich ausfallen. Alles kam mir wie ein Gefängniß vor. Von meiner Kammer aus sah ich in einen engen Hof, auf eine Mauer mit Spinnweben und etlichen gelben Striemen. Vom Fenster meines Vaterhauses aus hatte ich meilenweit über die blauen Berge hingesehen – nie war mir beigekommen, das wäre schön; jetzt wußte ich’s aber.

Die Hausgenossen bei Giontini waren nicht unfreundlich, doch floh ich ihre Ansprachen, bis sie sich um mich weiter nicht kümmerten. Am leichtesten war mir noch, wenn’s in der Leihbibliothek recht viel Arbeit gab. Selten that ich in die Bücher einen Blick; als wären sie Holzscheite oder Steine, so legte ich sie hin und her, und nimmer glaubte ich, je einmal an einem Buche Gefallen gefunden zu haben.

Da geschah es am Samstag spät abends. Die Buchhandlung war schon geschlossen, nur in der Leihbibliothek gingen immer noch Leute ein und aus, um sich für den Sonntag Lesefutter auszutauschen. Ich stieg mit der Laterne die Leiter auf und ab an den Bücherwänden. Da kam noch ein Knabe, brachte einen breiten Band zurück und eilte wieder davon. Als ich den Band hoch oben in seine Spalte schieben wollte, entfiel er mir, kollerte die Leiter herab und blieb, die zwei Deckel auseinandergeschlagen, auf den Dielen liegen. Ich ging, das Buch aufzuheben; ein Band der „Gartenlaube“ war’s, und dort, wo einem Blatt im Falle die Ecke geknickt worden war, fiel mein Auge auf ein Gedicht: „Wenn Du noch eine Heimath hast …“

Was war das? Auf der untersten Stufe kauernd, las ich:

„Wenn Du noch eine Heimath hast,
So nimm den Ranzen und den Stecken
Und wandre, wandre ohne Rast,
Bis Du erreicht den theuren Flecken.“

Weiter las ich nicht mehr in dem Gedicht,[1] denn ich war schon erlöst. Heim! Heim! Kein Klagen mehr. Mein Herz war leicht,

  1. Es befindet sich im Jahrgang 1856 der „Gartenlaube“, S. 705
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_590.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)