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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Nievern blickte nicht ohne Bewunderung zu dem sonderbaren Ehrenmanne hinüber. „Eins wüßte ich, was der Niedertracht den Mund stopfte – aber freilich auch nur das eine,“ sagte er dann gepreßt. „Daß man vor sie hinträte, den totgeglaubten Junker an der Hand –“

„In Anbetracht der besonderen Umstände des Falles, wonach der Junker vielleicht jetzt auf einer holländischen Brigantine nach Indien segelt, müßte man dazu schon etwas von der berühmten schwarzen Kunst verstehen, deren Besitz sie mir nachsagen,“ meinte der von Gouda mit grimmigem Humor. Er konnte sich von dem Gedanken nicht los machen, es sei der Schlingel, der Lutz, davon und unter die Werber in Rotterdam gelaufen. Die Erfahrungen seiner eignen im Kriegsdienste der Generalstaaten zugebrachten Lebenszeit mochten ihm diese Vermuthung eher als eine andere nahe legen.

Der Herr von Nievern ließ ihn dabei; wenigstens hütete er sich, merken zu lassen, welch abenteuerlichen Gedanken er selbst im Innersten barg. Und so hatten sich die Männer getrennt, mit dem Vereinbaren, daß jeder dem andern, was er etwa von Belang erfahre, mittheilen solle, aber ohne große Hoffnung auf solche Mittheilungen und schwerer Sorgen voll.

Nun saß der Oberjägermeister, ganz gegen seine Art stundenlang vor sich hinbrütend, am Kaminfeuer. Die Dämmerung war hereingebrochen, dann die Nacht. Den Diener aber, welcher den Armleuchter mit Kerzen hereinbringen wollte, hatte er, der sonst gütige Herr, unfreundlich angefahren, er solle mit dem Lichte draußen bleiben. Und das Kaminfeuer, welches er sonst hell und prasselnd liebte, erhielt er nur eben, so daß es ärmlich glimmte und nur dann und wann einmal rasch ersterbende Lichter von dem letzten Aufflackern eines Scheites durch das Gemach fuhren.

Das kam daher: er war täglich, so auch heute, so nahe er konnte am Hause der Ursulinerinnen vorüber geritten. Er wußte jetzt, wo hinaus das kleine Fenster von Polyxenens Zelle liegen mußte. Und noch keinmal hatte er hinter irgend einem der Fenster des Glockenhauses, in dem sie verwahrt war, ein Licht gesehen. Da saß sein armes süßes Lieb heute wie alle Abende in der Finsterniß! Und so mochte auch er sich die freundliche Kerzenhelle nicht gönnen; Licht und Wärme, die sie vielleicht entbehren mußte, waren ihm zuwider. So saß er und warf Pläne zu Polyxenens Befreiung im Kopfe herum. Einmal hatte er doch wieder, kargend wie ein Geizhals, ein dünnes Scheit auf das Kaminfeuer gelegt, damit es nicht gar erlösche. Das Holz flammte lustig auf zu kurzer Helle und beleuchtete etwas Weißes, das auf dem Tische lag, war jedoch wieder erloschen, ehe Nievern, halb gedankenlos auf jenen Fleck starrend, den Gegenstand erkannt hatte. Nun besann er sich, wie man in müßiger Laune pflegt, was dort auf dem Tische liegen könne, und fand mit gleichgültiger Verwunderung, daß ihm nichts einfiel, worauf die flüchtig wahrgenommene Gestalt des Dinges passe. So bog er sich denn aus seinem Sessel vor, griff danach und hielt eine dünne Rolle in der Hand. Jetzt rief er nach Licht und sah dann vergilbte Blätter, mit krauser blasser Schrift bedeckt und wohl umschnürt. Verständnißlos betrachtete er sie und mußte endlich den Diener fragen, woher das Ding komme.

Der Mann schien erstaunt. Das habe ja der Herr Oberjägermeister selber bei sich getragen! Aus der Tasche des alten Lederkollers des gnädigen Herrn habe er es gezogen, ehe er das Gewand in den Schrein gehängt, in der Befürchtung, die Schriften möchten dort vergessen werden.

„Das wären sie, bei Gott,“ sagte Nievern, sich jetzt erst besinnend. Es mußte die Papierrolle sein, die der Strieger ihm gegeben hatte und die von jener im Kirchenbann Verstorbenen stammte, deren sich Polyxene zu ihrem Unheil angenommen hatte.

Er zog den Leuchter heran und löste die Schnur. Mehrere lose Blätter groben Papiers fielen ihm entgegen, die er mißlich ansah. Er versuchte hier und da zu lesen – eine ungeübte verworrene Schrift, der Inhalt schien geistlich zu sein, die Ergießung einer der Schwärmerei verfallenen Seele aus dem Häuflein der Abgesonderten wahrscheinlich. Nievern entzifferte hier und da ein Wort von Angst, Verworfenheit und Gnade, von Fürbitte der Brüder und Schwestern und dergleichen, und es muß gesagt sein, daß ihn dies alles erstaunlich wenig anmuthete. Aufs Gerathewohl blickte er noch einmal in die Blätter, nahm halb gelangweilt davon Notiz, daß die Schrift wohl einem Manne, aber keinem Kleriker oder eigentlichen Schreiber angehören möge, und schob die Papiere unmuthig von sich.

Wie kam es, daß er sie später, nach Stunden, lange nachdem er sein einsames Nachtmahl beendet hatte, doch wieder aufnahm? Er hätte es selber kaum zu sagen gewußt. War es ein halb unbewußter Griff müßiger Unlust gewesen oder vielleicht der heimliche Gedanke, nicht umsonst habe vorhin der Flackerschein des Feuers die Rolle so ins Licht gesetzt, daß sie seine Blicke auf sich ziehen mußte? Wie dem auch sei – der Oberjägermeister las jetzt, las, ohne sich anders zu unterbrechen, als daß er hastig suchend zwischen den Blättern umher fuhr, um allemal das anschließende zu finden, und das wurde naturgemäß je länger je leichter, da sich die gelesenen häuften, der anderen immer weniger zurückblieben. Und waren das wirklich die Ergießungen eines überreizten Schwärmers, nur ein Meer von Worten, gewidmet einer grübelnden Selbstbeschauung? Diese Lektüre, bei welcher ein Zug eiserner Spannung sich über die Stirn des Herrn Viktor legte, und zuletzt ein wilder Triumph ihm aus den Augen zu blitzen begann?

Gegen Mitternacht hatte er geendet. Er mußte zuletzt die Gegenwart vergessen haben, denn als er jetzt aufblickte, da schaute er sich in seinem eigenen Gemach um, als müsse er sich erst hierher zurückfinden. Dann schob er seine Blätter sorgfältig zusammen und hielt dabei fast liebevoll die Hand darüber, wie wenn er da einen Schatz hege. Er stand auf und schien zögernd zu überlegen, wahrscheinlich, wo er seinen Fund während der Nacht bergen solle. Die Rolle in der Hand trat er an den Seitentisch mit der Schatulle darauf, in welcher allerhand Urkunden, überhaupt was er Schriftliches von Werth besaß, aufbewahrt wurde. Aber – einige Besitztitel, seine Bestallungsurkunde mit Unterschrift und Insiegel der Pfalzgräfin und dergleichen mochte da sicher genug liegen, diese Blätter nicht! Es konnte in der Nacht Feuer auskommen, und da rettet man am leichtesten das, was im Bereiche der Hand liegt. Daher trug er die Papiere mit sich in sein Schlafgemach.

Noch einmal ehe er das Licht löschte, nahm er sie zur Hand, einer Stelle wegen, die er nicht ganz mühelos auffand in dem Wirrwarr von krausen abgeblaßten Buchstaben, mit denen ein Blatt wie das andere bedeckt war. „Für ein Glück erachtete ich es damals, in diesem Stande der Armuth, als mich die Väter der Gesellschaft Jesu, in deren Hände ich schmählich – so denke ich jetzt – meinen reformierten Glauben abgeschworen hatte, in Dienste zu einer adligen Herrschaft in eben jener Unglücksstadt Philippsburg brachten. Unglücksstadt nenne ich diese nicht nur, weil sie meine schändliche Abtrünnigkeit von dem für mich einst abgelegten Taufgelübde gesehen hat, sondern vielmehr noch dessentwegen, was ich in Diensten meines armen Herrn François von Méninville und seiner Gemahlin dorten erleben mußte.“

Das war es, das Blatt, auf welchem jener Name deutlich leserlich ausgeschrieben stand! Unschätzbar, denn es war das einzige; so oft auch im Verlauf der Aufzeichnung der von Gewissensbissen geplagte Urheber jenes Herrn François Erwähnung that, nannte er ihn nur immer „mein Herr“ oder „mein armer Herr“, das Weib aber, durch weiches er seinen Seelenfrieden unwiederbringlich eingebüßt hatte, wurde von ihm in eingemischter Gewöhnung unveränderlich als „meine gnädige Frau“ bezeichnet.

Als der Herr von Nievern im Verlauf jener langen Stunden gerade diese Thatsache sich klar gemacht hatte – daß der Name des Paares, dessen Diener, in ein Verbrechen verwickelt, auf diesen Blättern ein Bekenntniß seiner Mitschuld ablegte, nur jenes eine Mal genannt war – da dünkte sie ihn das allerwunderbarste von allem. Der Mann hatte wahrscheinlich gar nicht die Absicht gehabt, den Namen zu nennen. Derselbe war ihm unvermerkt aus der Feder geflossen. Denn bei denjenigen, in deren Hände er diese seine Beichte ablegte, kam es auf Namen und Stand nicht an, hatten sie doch nichts mit der schon hier auf Erden rächenden und strafenden menschlichen Justiz gemein. Es handelte sich, wie aus der Schrift deutlich wurde, um eine jener stillen Gemeinden in den Niederlanden, um ein Häuflein Leute, welche es ernst und schwer mit ihrer Seelen Seligkeit nahmen. Wer ihr verborgenes Leben innigster christlicher Brüderlichkeit und gegenseitiger Auferbauung theilen, in Gefahr und Noth einer der Ihrigen sein und bleiben wollte, von dem verlangten sie zuerst und zumeist: daß er sein Herz offen darlege vor Gott und den Brüdern. Doch sollte aus solchem Bekenntniß keine öffentliche Schmach für neu sich Anschließende erwachsen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_503.jpg&oldid=- (Version vom 20.3.2021)