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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


und beißt sich auf die Lippen, und mir altem Kerl ist auch übel zu Muth. Da sehe ich, wie Betty mit der Hand nach dem Herzen fährt und kreideweiß wird, Ich springe auf, nehme sie in die Arme und führe sie halb, halb trage ich sie aufs Sofa; denn ich merke, daß ihr alter Herzkrampf im Anzug ist, der sich immer bei großen Aufregungen einzustellen pflegt. Kurt und Marianne sind auch aufgesprungen, und Kurt, dem die Scene sehr unangenehm ist, sagt: ‚Bring der Mutter doch ein Glas von Deinem Rothwein, Schatz; der wird sie schon wieder herstellen.‘

Ehe ich noch einwenden kann, daß Wein für diesen Fall kein Heilmittel sei, ist Marianne ins Schlafzimmer gelaufen. Aber sie kommt und kommt nicht zurück. Zuerst merken wir über unsern Bemühungen um Betty nicht, wie die Zeit verstreicht; dann aber, als Betty anfängt, sich zu erholen, sagt zuerst sie mit schwacher Stimme: ‚Wo ist Marianne?‘

Kurt will nun zur Thür, sie zu holen; ich aber, der ich Mariannens mädchenhafte Scheu kenne, ihren Bräutigam im Schlafzimmer zu sehen, schiebe ihn mit einem: ‚Erlauben Sie, junger Herr,‘ fort und gehe selbst, nach Mariannen zu sehen.

Wie ich die Thür zum Schlafzimmer öffne, ist es drinnen stockdunkel. Aber ein leiser Laut, wie Stöhnen und zugleich wie Warnung, kommt von dem vermaledeiten alten Schränkchen her. Ich reiße mein Feuerzeug aus der Tasche und stecke Licht an. Die Marianne liegt vor dem Schrank auf dem Gesicht in einer Blutlache. Ich zünde mit zitternden Händen die Kerze an, die auf dem Schränkchen steht, und beuge mich zu ihr; um sie aufzuheben.

‚Kind,‘ stammle ich, ‚Kind, was hast Du?‘

‚Das Auge, Onkel,‘ sagt sie, ‚das Auge!‘

Ich setze mich auf die Erde und hebe vorsichtig ihren Kopf auf meine Knie, Ich stoße einen Schreckenslaut aus – aus dem linken Augapfel quillt Blut.

‚Still, Onkel,‘ flüstert sie, ‚daß die Mutter nicht erschrickt.‘

Und dann mit einem süßen Lächeln: ‚Hab’ ich mich nicht tapfer gehalten, Onkel? Es that sehr weh, aber ich hab’ nicht geschrieen.‘

Die Thränen stürzen mir altem Kerl aus den Augen. Das Herz dreht sich mir um vor Jammer, und zugleich möcht’ ich niederknieen und dem Mädchen den Saum des Kleides küssen. ,Kind!‘ sag’ ich aber nur, ,Kind!‘ Und erst nach einer Weile: ‚Du hast die furchtbare Qual abgehalten und nicht einen Laut von Dir gegeben, um die Mutter nicht zu erschrecken?‘

‚Sie hätte ja den Tod davon haben können, Onkel,‘ erwidert sie einfach.

Ich lasse Marianne nun sanft zur Erde gleiten und hole die andern; denn wir müssen die Kranke, ohne sie viel zu bewegen, zu Bett bringen und vorläufig das Auge, das zusehens schwillt, mit kalten Umschlägen versehen. Den Umfang des Unglücks kann ich augenblicklich noch gar nicht überschauen.

Nun, den Jammer können Sie sich denken, den meine vorsichtig angebrachte Mittheilung erregte. Das heißt, nur der Kurt schrie auf und riß sich verzweifelt die Haare; die Mutter wurde bloß kreideweiß, stand auf und ging straff aufgerichtet uns voran ins Unglückszimmer. So war sie immer, die Betty, und von ihr hat’s die Marianne: in Gefahr und Unglück keinen Laut gegeben, Kopf kühl, das Herz fest gehalten, die Hände geschickt und stark. Nachher, wenn die Gefahr vorbei ist, klappen solche Menschen zusammen.

Wir bringen nun Marianne vorsichtig zu Bett und Betty legt ihr Umschläge aufs Auge, während Kurt zu unserm berühmtesten Augenarzt stürzt, Professor Schleiden kommt denn auch bald, läßt sich die Veranlassung des Unglücks erzählen – Marianne hat sich in der Dunkelheit des Schlafzimmers rasch niedergebückt, um den Rotwein aus dem Schrank zu nehmen; die Thür desselben hat aufgestanden, der Riegel war in die Höhe geschnappt und Marianne hat beim eiligen Bücken das Auge mit voller Wucht daraufgestoßen. Professor Schleiden besieht und betastet sorgfältig den Riegel, untersucht lange das Auge und sagt schließlich in seinem heitersten Tone zu Marianne: ‚Wenn Sie sehr artig sind und völlig regungslos liegen bleiben, mein liebes Fräulein, dann wird sich die Sache schon machen. Morgen komme ich wieder. Aber unbedingte Regungslosigkeit! Namentlich den Kopf dürfen Sie auch nicht um ein Haarbreit aus seiner jetzigen Lage bringen. Nun, wie gesagt, es wird schon werden – Sie tapferes kleines Fräulein!‘

Als Schleiden hinausgeht, folgen wir beiden Männer ihm. Im Hausflur bleiben wir alle stehen. Schleiden winkt mir mit den Augen. Aber Kurt Trenk bricht das Schweigen. Seine Stimme schwingt, als er herauspreßt: ‚Ist das Auge fort, Herr Professor? – Wird sie lebenslang entstellt bleiben?‘

Schleiden steht still und sieht ihn an. ‚Ach, Sie sind der Verlobte des Fräuleins,‘ sagt er langsam, ‚Ob das Ange gerettet werden kann, weiß ich noch nicht; doch hoffe ich es. Jedenfalls haben wir uns auf lange hin in Geduld zu fassen, Der Fall ist schwer, aber bei sorgsamster Pflege und völliger Ruhe des Körpers und Gemüths nicht hoffnungslos – vorausgesetzt, daß an dem Riegel keine Schmutztheilchen gehaftet haben, die eine Eiterung herbeiführen könnten.‘

Er giebt mir dann als seinem Kollegen noch besonderen Bericht, der aber im wesentlichen mit dem an Kurt übereinstimmt, schüttelt uns die Hände und geht. Kurt steht noch immer da, wühlt sich in den Haaren und ruft: ‚Mein Glück! Meine schöne schöne Marianne! Diese wundervollen Augen! – In vier Wochen sollte sie mein sein!‘

Ich sage nichts und schiebe ihn zur Hausthür hinaus; der Haß gegen den Bengel würgt mich an der Kehle.

Drinnen finde ich Betty, wie sie still an Mariannens Bett sitzt und ihr Umschläge aufs Auge legt. Sie leidet nicht, daß ich bei ihnen bleibe – sie wolle allein wachen. Im Nothfall schlafe ja das Dienstmädchen in der Nebenkammer, und zu Häupten von ihrem eigenen Bett hänge der Glockenzug, dessen Leitung unmittelbar in mein Zimmer führe. Ich füge mich endlich, denn ich erkenne das tiefe Bedürfniß der Frauen miteinander allein zu sein. Auch sind sie beide ja so vernünftig, und für ganz unwahrscheinliche Zwischenfälle sind Mädchen und Glocke da. Ich wünsche den Frauen also eine gute Nacht und lege zum Abschied noch meine Hand leicht auf die Mariannens. ‚Du wirst sehr verständig und gehorsam sein, nicht wahr, Kind?‘ sage ich. ‚Bist ja ein gescheites Mädchen, Du mußt unter allen Umständen still liegen bleiben, hörst Du, unter allen Umständen! Eine einzige hastige Bewegung kann Dich viel kosten –‘

‚Ich weiß, Onkel,‘ sagt sie leise, ‚das Auge – und den Bräutigam.‘

Mir fährt ein Schreck durch den Leib über soviel klares Erkennen, aber ich bezwinge mich und brumme nur: ‚Na also!‘

Ich lege mich in meinen Kleidern aufs Bett und horche lange auf jeden Laut, schleiche auch ab und zu an die Thür zu Mariannens Zimmer und lege das Ohr an die Ritze. Aber es ist drinnen alles still, nur einmal höre ich Mariannens Stimme, wie sie mit unbeschreiblicher Innigkeit: ‚Meine liebe Mutter!‘ flüstert.

Endlich muß ich doch eingeschlafen sein, denn ich fahre bei grauendem Morgen in jähem Schreck auf und kann mich zuerst nicht darauf besinnen, was vorgefallen ist, Dann aber fährt mir die Erinnerung in den Kopf und mit ihr die Erkenntniß, daß es die Glocke gewesen ist, die mich geweckt hat, Ich springe nun vom Bett und stürze nach dem Krankenzimmer.

Und ich denke, der Schlag soll mich rühren. Am Boden liegt die Betty, in tiefer Ohnmacht, und vor ihr – vor ihr kniet Marianne und beugt sich über sie und versucht mit aller Anstrengung, die Mutter aufzurichten.

‚Marianne!‘ schrei’ ich, ‚Marianne! Was hast Du gethan?‘ und fasse sie und trage sie in ihr Bett zurück.

‚Sieh’ nach der Mutter, Onkel,‘ sagt sie, ‚sonst stirbt sie mir – und dann hab’ ich keinen Menschen mehr auf der Welt.‘

Nun, die Betty bringe ich schon wieder zum Leben. Es ist wieder der Herzkrampf gewesen, der sie als Rückschlag der ungeheuren Aufregung nochmals jählings überfallen hat. Aber die Marianne, die Marianne! Die Tücher auf ihrem Auge sind blutig.

‚Bring’ die Mutter fort!‘ flüstert sie mir zu, und ich führe Betty in mein Zimmer und befehle ihr mit aller Autorität des Arztes und alten Freundes, zu schlafen, Sie fällt auch wirklich in tiefen Schlaf, Sie hat noch keine Ahnung, womit das Kind ihr heute ihre Mutterliebe bezahlt hat.

Dann sitze ich wieder an Mariannens Bett und kühle ihr Auge und sage: ‚Kind, Kind, was hast Du gethan?‘

‚Die Mutter gerettet, Onkel,‘ sagt sie einfach. ‚Sollte ich

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