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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Und wirkt schließlich das Trinkgeld nicht auch auf den Geber und auf unsere gesellschaftlichen Zustände entsittlichend, indem es den Gast an eine Schroffheit des Kommandierens und an eine rücksichtslose Ueberhebung gewöhnt, die auf keiner andern Berechtigung ruht als auf der des Geldbeutels?

Dem angespanntesten Scharfsinn wird es nicht gelingen, den Grund zu entdecken, warum die pünktliche Bedienung des Besuchers eines Speisehauses nothwendig das Trinkgeldsystem erfordert, die Bedienung der Käufer in einem beliebigen Laden aber nicht. In England und Nordamerika ist in der That im Gastwirthschaftsgewerbe das Trinkgeldwesen im weitesten Umfange unbekannt. Welche Bedeutung für die Volksgesittung müßte es haben, wenn die Beseitigung des Trinkgelds auch in Deutschland gelänge!

Die große Schwierigkeit liegt nur in dem Uebergang vom Alten ins Neue. Aber es regt sich glücklicherweise seit Jahrzehnten eine Bewegung zum Besseren, welche die Ueberwindung dieses Uebergangshindernisses versucht, und zwar will sie zunächst in den Gasthöfen die Trinkgelder abschaffen. Im Gasthof ist die Reform nämlich etwas leichter, weil der Gasthauskellner schon jetzt nicht so ausschließlich auf Trinkgelder angewiesen ist wie der Gastwirthschaftskellner. Die Kellner selbst stehen der Neuerung vielfach noch mit einem begreiflichen Mißtrauen gegenüber, aber die Stimmung scheint sich allmählich zu wenden. Der entscheidende Anstoß muß jedenfalls von den Wirthen selbst ausgehen. Der „Internationale Verein der Gasthofbesitzer“, der die meisten großen deutschen Gasthofbesitzer zu Mitgliedern zählt, hat es unlängst in die Hand genommen, die öffentliche Meinung für einen so folgenreichen Fortschritt zu bearbeiten. Derartige Bestrebungen von Gastwirthsvereinigungen reichen freilich schon weit zurück, mindestens bis ins Jahr 1842; sie haben manches Fiasko erlebt, die unglückselige Einführung der „Service“-Berechnung ist ein trauriges Zeugniß dafür. Aber es giebt boch eine immerhin stattliche Reihe von Gasthöfen, die mit dem Trinkgeldsystem nicht nur gebrochen haben, sondern größtentheils auch mit den erzielten Erfolgen seit Jahren und Jahrzehnten sehr zufrieden sind. Es sind fast ausschließlich die besseren und besten Häuser, die mit solchen Versuchen vorgehen, wie ja überhaupt die großen Reformen überall von einzelnen Großbetrieben zuerst ins Werk gesetzt zu werden pflegen. Der Verfasser einer kürzlich erschienenen kleinen Schrift („Der Kellnerberuf, eine soziale Studie“. Von Dr. K. Oldenberg. Leipzig 1893, Verlag von Duncker und Humblot), an die diese Ausführungen sich anlehnen, hat es sich angelegen sein lassen, eine Reihe von Aeußerungen der betreffenden Besitzer über ihre Erfahrungen zu sammeln. Es zeigt sich dabei, daß das Verfahren der Trinkgeldablösung außerordentlich verschieden sein kann. Am zweckmäßigsten ist wohl dasjenige, welches ein ehemaliger Kellner Hartmann als Direktor des Hospizes der Berliner Stadtmission seit zwei Jahren eingeführt hat; den Gästen wird ein fester Prozentsatz ihrer ganzen Hotelrechnung (5 bis 15%, je nach der Dauer des Aufenthalts etc.) als Trinkgeldvergütung mit der dringenden Bitte angekreidet, keine weiteren Trinkgelder an irgend einen Bediensteten zu zahlen; dafür bekommen Pförtner und Oberkellner, die früher ohne Gehalt angestellt waren, jetzt monatlich je 250 Mark, Kellner statt 20 jetzt 75 und 100 Mark etc., nebst freier Station. Hier waren alle Angestellten sofort mit der Neuerung einverstanden; anderwärts waren sie es zwar zu Anfang nicht, wie im „Habsburger Hof“ zu Innsbruck; aber „nach einigen Wochen schon,“ so berichtet der Besitzer, „zeigte es sich, daß die Gäste dem Personal gegenüber ein ganz anderes Benehmen an den Tag legten; dem ehemals oft so schroffen und demüthigenden Tone hatte die Freundlichkeit Platz gemacht, und das Personal benahm sich wohl nicht mehr so unterwürfig und, wie es oft der Fall war, kriechend, sondern aufmerksam und zuvorkommend, wohl wissend, daß es im eigensten Interesse gelegen ist, wenn das Haus viele Gäste hat.“ Von der Zufriedenheit des Publikums wird auch sonst berichtet, zum Theil in den lebhaftesten Ausdrücken, und einige Wirthe räumen selbst ein, wie gut sie sich dabei stehen. So schreibt der Besitzer eines Hotels in Hannover, der schon seit 1874 die Trinkgelder abgeschafft hat: „Ich habe durch diese Einrichtung einen das ganze Jahr fortlaufenden regelmäßigen Fremdenverkehr, da jeder Fremde, welcher einmal von der Annehmlichkeit profitiert hat, unterwegs auf der Eisenbahn und in seiner Heimath über die Sache spricht und auf diese Weise Propaganda für mich macht.“

Nach den gegenwärtigen Aussichten ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die Reformbewegung weitere Kreise zieht. Gerade unter den in ihrem Stande angesehensten und einflußreichsten Wirthen fehlt es ihr nicht an Freunden, und sobald es erst einmal für vornehm gilt, Trinkgelder zu verpönen, hat die Reform gewonnenes Spiel. Unter den Kellnern selbst neigt gerade das jüngere Geschlecht eher dem Gehaltssystem zu, und die Generationen wechseln rasch im Kellnerstande. Der ausschlaggebende Thell wird dann das reisende Publikum sein. Das Publikum soll die Reform dadurch unterstützen, daß es in den Häusern, welche das Trinkgeld abgeschafft haben, auch wirklich keines anbietet und daß es etwaige Unbequemlichkeiten des Uebergangs nachsichtig beurtheilt. Man darf überzeugt sein, daß auf die Dauer der Gast gut dabei fährt, wenn er von Männern bedient wird, die etwas mehr Selbstachtung und Rückgrat haben, als dies bei unseren heutigen Kellnern zumeist der Fall ist. Diese Zeilen wollen nicht zum wenigsten dem Zwecke dienen, für die Sache zu werben. Man mache für die Reform Stimmung; man nehme auch die Gelegenheiten wahr, die Meinung von Kellnern und Wirthen über die Frage zu erfahren. In einzelnen Fällen können auch die Gäste von sich aus vorgehen; Tischgesellschaften oder Vereine, die den Kellnerdienst regelmäßig in Anspruch nehmen, überhaupt Stammgäste können sich mit den Kellnern über eine monatlich zu zahlende Bauschsumme einigen, zunächst versuchsweise. Dergleichen Einrichtungen würden den Uebergang zum reinen Gehaltssystem erleichtern und nahelegen.

Die Beseitigung des Trinkgelds würde für den Kellnerstand einen großen Schritt vorwärts bedeuten. Manches bleibt immer noch zu thun, insbesondere wird sich auch die Gesetzgebung noch mit der Begrenzung des Arbeitstags und der Sonntagsruhe der Kellner demnächst zu beschäftigen haben. Aber ein Anfang wäre immerhin gemacht und ein Mißton aus der Welt geschafft, der dem sinkenden 19. Jahrhundert nicht zur Ehre gereicht. K.     




Aus dem Harz.


„Auf den Bergen wohnt die Freiheit,
Auf den Bergen thront das Licht,
Menschenbrust wird leichter droben,
Was sie drückte, fühlt sie nicht.

Hin drum zu den blauen Höhen,
Wo die frischen Lüfte wehen,
Wo in seinem Reich der Aar,
Und der Sterne Pracht so nah!“


Ein gleiches oder ähnliches Gedicht fand ich einstmals als Motto einem längst verschollenen Buche über den Harz von Wilhelm Blumenhagen vorgedruckt, und es gerieth mir in Erinnerung, als ich Lewins Harzbilder betrachtete. Die Zeiten, in denen ich entweder mit dem Ranzen auf dem Rücken die Krone der niedersächsischen Gaue durchstreifte, oder später in bequemerer Weise mich an seinen Schönheiten erfreute, kamen mir ins Gedächtniß, und das Verlangen regte sich, das alles einmal wiederzusehen. Und so geht es wohl jedem, der einmal den Harz besuchte, es ergreift ihn die Sehnsucht, zurückzukehren sich einmal wieder in dieser herrlichen Natur einige vergnügte Tage zu machen oder sich durch längeren Aufenthalt die geschwächte Gesundheit zurückzuerobern. Nahrung für ein fröhliches und Labung für ein krankes Herz bietet ja der Harz wie wenige Landstriche Deutschlands durch seine reine Luft und den würzigen Athem, der aus den Legionen seiner Tannen strömt. Nichts herrlicher als des Harzes Thäler durchwandern, dem Rauschen seiner Wasserfälle lauschen, in seine Wälder hinabtauchen oder seine Berge erklimmen zu dürfen! Alles erschließt sich uns, Berg und Wald und grüne Wiesen, reizend gelegene Ortschaften oder geschichtlich denkwürdige Städte, Gastwirthschaften hart am Rande eines rasch dahineilenden, silberglänzenden Gewässers, versteckte Schluchten mit unheimlichen Abgründen, Waldseen, im tiefsten Grün verborgen, Fichtenstände mit ewigem Schatten, oft nur einen kleinen Ausschnitt lassend, von dem dann der entzückte Blick weit hinausschweift in die Ebene! Freilich ist beim Reisen häufig die Erinnerung soviel werth wie das Reisen selbst, ja oft mehr! Das Lästige, Beschwerliche, das nicht ausbleibt, tritt in den Hintergrund, es haftet nur der Eindruck des Angenehmen, Erquicklichen. –

Die unvermeidliche Figur des Engländers gehört auch noch heute zu der stehenden Staffage jeder berühmten Sehenswürdigkeit. Damals ärgerte uns die Empfindungslosigkeit, der Mangel an jeder Fähigkeit, sich zu begeistern, die Manier, selbst die bedeutsamsten Dinge mit gemüthloser Gleichgültigkeit hinzunehmen. Ich erinnere mich, daß mir gerade auf einer Harzpartie ein Engländer gezeigt wurde, der einem in einen Abgrund Gestürzten, mit dem er tags zuvor erst bekannt geworden war, zugerufen hatte: „Warten Sie unten, bis ich Hilfe geholt habe. Sollte es nicht möglich sein, so leben Sie wohl! Freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben!“

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