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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Weltausstellungsbriefe aus Chicago.

Von Rudolf Cronau.
II.
Die Eröffnung der Ausstellung.
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Unter den zahllosen figürlichen Bildwerken, welche aus Anlaß der Kolumbischen Weltausstellung zu Chicago entstanden sind, hat keines meine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt wie jene schöne Frauenstatue, welche die Stadt „Chicago“ personifi[c]iert: eine von jugendlicher Schönheit umflossene königliche Gestalt, die an die Figur der Jungfrau von Orleans erinnert und die auf ihrem Haupte ein aus lodernden Flammen gebildetes Diadem trägt, von dem sich der Vogel Phönix emporschwingt. Wenn diese Symbolik in glücklicher Weise an die nur zwei Jahrzehnte hinter uns liegende Zeit erinnert, wo infolge einer furchtbaren Feuersbrunst das junge Chicago in Schutt und Asche versank, um bald darauf in desto herrlicherer Pracht wieder zu erstehen, so ist der über der Brust des Frauenbildes zu lesende Wahlspruch „I will“ nichts als der Ausdruck jener bewundernswerthen Entschlossenheit und jener wahrhaft unerschütterlichen Zuversicht, welche die hervorstechenden Züge in dem Wesen der Bewohner von Chicago sind.

„I will“, das ist die stolze Losung der Weltstadt am Michigansee, und dieses „Ich w[i]ll“ ließ neuerdings auf einem von Sümpfen und Lagunen durchzogenen öden G[e]lände eine Stadt von Palästen und Tempeln erstehen, wie die Welt sie kaum vorher gesehen hat.

Es verlohnt sich, in kurzen Zügen einen Rückblick auf die Geschichte, auf die Entwicklung dieser Stadt der Paläste zu thun.

Als gegen Ende des Jahres 1889 der Plan angeregt wurde, alle Nationen der Erde zur Theilnahme an der Feier der vierhundertjährigen Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus einzuladen, und in weiterer Ausführung dieses Planes die Veranstaltung einer Weltausstellung beschlossen wurde, welche ganz besonders die Fortschritte der Kultur seit der Entdeckung der Neuen Welt vor Augen führen solle, da traten als Bewerberinnen um die Ehre, Sitz der Kolumbischen Weltausstellung zu sein, drei Städte auf: das königliche New-York, Washington, die politische Hauptstadt der Verein[i]gten Staaten, und – das junge Chicago. Daß sich das letztgenannte, kaum einige Jahrzehnte alte Gemeinwesen vermaß, mit New-York und Washington in ernsthaften Wettbewerb zu treten, rief allgemeines Kopfschütteln, ja stellenweise sogar Spott und Hohn hervor, und nicht gering war darum die Verblüffung, als nach langem Ringen die Sache vor dem Kongreß der Union zur Entscheidung gebracht wurde und – das junge Chicago den so heiß umstrittenen Preis erhielt.

Die Frage, ob Chicago befähigt sei, die nun übernommene riesengroße Aufgabe auch wirklich zu lösen, ist gar oft aufs ernsthafteste erörtert worden. Wenn man aber heute, nach erfolgter Eröffnung der Weltausstellung, durch die Straßen der sogenannten „White City“ geht und staunend den Blick über das Geschaffene hinweggleiten läßt, so muß sich auch der eingefleischteste Gegner Chicagos zu dem unumwundenen Geständniß bequemen, daß die junge Weltstadt voll und ganz ihre Pflicht gethan hat.

Einen glänzenderen Beweis für die Thatkraft, die Leistungsfähigkeit und den Opfermuth seiner Bürger hätte Chicago niemals erbringen können, und ganz besonders derjenige wird sich verdutzt die Augen reiben, der da zugegen war, als am 1. März des Jahres 1891 der erste Spatenstich in dem Sumpfe gethan wurde, an dessen Stelle sich heute die „Weiße Stadt“ in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit erhebt. Ungezählte Tausende mußten hergegeben werden, bevor aus einem Labyrinth von stehenden Pfuhlen und Tümpeln jene blanken Seen, Lagunen und Wasserstraßen gewonnen wurden, die zu den mächtigen Gebäuden den wirkungsvollsten Gegensatz bilden und unstreitig dem Kolumbischen Weltausstellungsplatz zum eigenartigsten Schmuck gereichen.

Und welche Unsummen verschlang erst der Aufbau der „Weißen Stadt“ selbst!

Schwerlich sind jemals so riesige Werthe auf einem derartig begrenzten Raum zusammengehäuft worden wie hier, und wir müssen Zahlen zu Hilfe nehmen, um klar zu machen, wie die „Worlds Columbian Exposition“ selbst die Weltausstellung in Paris vom Jahre 1889 weitaus übertrifft, die doch alles bisher in dieser Richtung Dagewesene in Schatten stellte. Nahm jene mit ihren Ausstellungsgebäuden und Anlagen ein Areal von 173 Ackern ein (1 Acker etwa = 40½ a), so bebecken Jackson Park und die mit ihm zusammenhängende Midway Plaisan[c]e, die beiden für die Kolumbische Weltausstellung gewählten Anlagen, einen Raum von rund [6]00 Ackern, von welchem die Gebäude allein 200 beanspruchen. Wurden für die Herstellung der Gebäude und für sonstige Zwecke der Ausstellung in Paris 6 Millionen Dollar verausgabt, so belief sich die Höhe der von den Ausstellungsbehörden für die Kolumbische Weltau[s]stellung aufgewendeten Gelder auf über 20 Millionen Dollar. Von jenen 20 Millionen steuerten die Bürger Chi[c]agos allein 11 Millionen bei und außerdem stellten sie dem Direktorium noch weitere 5 Millionen leihweise zur Verfügung.

Zu diesen von der Ausstellungsbehörde verausgabten 20 Millionen kommen noch weitere 12 Millionen, die zur einen Hälfte von den einzelnen Staaten und Territorien der Union, zur anderen von den ausländischen Regierungen hergegeben wurden, um neben ihren eigenen Interessen den allgemeinen Erfolg der Ausstellung sichern zu helfen.

An einzelnen Bauwerken umfaßt die Ausstellung deren gegen 4[0]0, von welchen einige wahrhaft riesige Maße besitzen. So z. B. bedeckt der Palast für Industrie und freie Künste allein den ansehnlichen Raum von 1 328 000 Qu[a]dratfuß (= 123 420 qm), während die Maschinenhalle 72 490, der Landwirthschaftspalast 53 160 und das Gebäude, in welchem das Transportwesen veranschaulicht wird, 56 320 Quadratmeter beanspruchen.

Daß dies alles in dem kurzen Zeitraum von nur zwei Jahren geschaffen wurde, gereicht Chicago zur hohen Ehre, und um so höher muß man das Erreichte anschlagen, wenn man bedenkt, daß die Ungunst der Witterung große Schwierigkeiten in den Weg warf. War es doch namentlich der letzte, äußerst lange anhaltende Winter, der mit seiner ungewöhnlichen Strenge wochenlang fast alle Arbeiten unmöglich machte! Die Versäumnisse, die hierdurch entstanden, mußten eingeholt werden, und so sah man in den letzten Tagen vor der Eröffnung eine Armee von mehr als 16 000 Mann und 3000 Pferden mit unzähligen Dampfmaschinen, Winden, Krahnen, Wagen etc. in fieberhaftester Arbeit, um alles bis zum Festtage, dem 1. Mai, fertigzustellen. Ist das auch nicht ganz vollständig gelungen, so grenzt doch das, was in jenen Tagen auf dem Weltausstellungsplatze geleistet wurde, ans Fabelhafte, und sicher wird gar manchem Besucher dies Bild ungeheuerster Thätigkeit zum mindesten ebenso interessant erschienen sein als später die fertige Ausstellung selber.

So kühn und groß geplant, wie diese es war, so gestalteten sich auch die Festlichkeiten, welche gelegentlich ihrer Eröffnung gefeiert wurden.

Diese Festlichkeiten nahmen ihren Anfang mit einer am 27. April in der Mündung des Hudson abgehaltenen Flottenschau, zu welcher fast alle civilisierten Nationen der Alten und Neuen Welt ihre auserlesensten Schlachtschiffe entsendet hatten. Die Schiffe versammelten sich in der mächtigen Chesapeake Bai, um am 26. April in langer Doppelprozession ihren Einzug in die herrliche Bai von New-York zu halten. Von dem scharfen Licht der Morgensonne umflossen, glitten 35 zumeist schwergepanzerte Kriegsfahrzeuge mit einer Besatzung von zusammen über 10 000 Mann vor den Augen der von weit und breit herbeigeströmten Zuschauer vorüber. Auf der Backbord-, also der linken Seite des Doppelzuges bewegten sich zunächst zwölf schneeweiß angestrichene Panzerschiffe der Union dahin, ihnen fo[l]gten ein argentinischer Kreuzer,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 416. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_416.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2018)