Seite:Die Gartenlaube (1893) 410.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

hervortretend und eins mit dieser, zog sich ein breiter rauher Steinvorsprung in Sitzeshöhe hin. Auf der anderen Seite des Gemaches standen an der Wand entlang das harte Bett und ein hölzerner Tisch und Stuhl. Aber Polyxene saß am liebsten auf dem nackten Stein, weil sie von da den Blick durch das Fensterlein nach dem hellen Westhimmel richten konnte. Und dürstend, in verzehrender Sehnsucht blickte sie immer und immer nur dort nach Westen hinaus, als ob die Welt sich auf jener Seite weiter öffnete und als ob die unermeßliche Ferne droben die Kraft hätte, sie zu sich ins Freie zu ziehen.

Es war ein frischer windiger Herbsttag heute; Polyxene konnte das merken am raschen Zuge der Wolken. Sie hatte auch nach tagelanger Mühe endlich das eingerostete kleine Fenster zu öffnen vermocht, nur spannenweit, und nun versuchte sie es auf alle Weise, so nahe zu kommen, daß der kühle Luftzug sie traf und ihr Stirn und Wange berührte. Durstig athmete sie ihn ein, denn herbe war die Entbehrung des frischeu Gotteshauches für sie, die an ein freies Schweifen in Wald und Feld vor andern gewöhnt war.

Sie wäre ein rührender Anblick gewesen für den, der sie so gesehen hätte – wenn es nicht gerade ein Jesuit oder eine alte Nonne war – wie sie den schlanken jungen Leib nach dem Fensterschacht hinauf reckte und das geduldig schmachtende Antlitz hob. Noch war ihre stolze Blüthe nicht abgestreift, aber über dem holden Gesicht lag es doch wie über dem Kelche einer von heißem Winde oder vom Froste leicht versehrten Rose. Es fing an zu erbleichen und dunkle Schatten umgaben die Augen, die einen seltsam starren und zugleich ruhelosen Ausdruck hatten.

Das Fräulein war es nur langsam und dann mit lähmendem Grauen innegeworden, daß sie wirklich hier nichts als eine Gefangene sei, und zwar eine, mit der man schwerlich Gutes vorhabe. Manche andere hätte das schneller begriffen als sie. Aber obwohl Polyxene wahrlich nicht ohne Scharfsinn war – in dem in vornehmer Unschuld und Reinheit aufgewachsenen Mädchen lebte etwas, was ihr das rasche Verständniß des dunklen Treibens und der lichtscheuen Pläne anderer erschweren mußte. Auch wäre wohl gegenüber den qualvollen Räthseln, die eins nach dem andern sie bedrängten, selbst ein weltlicherer und gewandterer Sinn hilflos gewesen. Erst Lutzens Verschwinden und dann das Auftreten einer feindlichen unheildrohenden Macht gegen sie, die sich keiner Schuld bewußt war! Polyxene wußte nichts und verstand nichts mehr, als daß sie unsäglich unglücklich und verlassen sei und auf einem dunklen Wege immer größerem Elend zugetrieben werde.

Heute, wie sie das zerzauste weiße Gewölk hinjagen sah an dem hellblauen Himmel und den frischen Hauch spürte, da dachte sie an ihren letzten sorglosen Pirschgang mit Lutz, da sie die Spur des Luchses entdeckt hatten. War das wirklich erst vor Wochen gewesen und nicht vor vielen vielen Jahren? Hatte der Jammer, den sie seitdem dnrchgekostet, und die furchtbare Veränderung ihres Loses, hatte sich das alles in eine so kurze Spanne Zeit zusammendrängen lassen? Sie staunte, ja ein wehvolles ungläubiges irres Lächeln trat bei diesen Gedanken auf ihre Lippen.

Nicht eher als bis alle Glieder sie geschmerzt von der unbequemen Stellung, hatte sie endlich die Festerhöhle verlassen und lehnte nun auf dem Steinsitze an der Mauer, von wo sie das Stückchen Himmel sehen konnte. Sie dachte an den Wald an jenem Tage, an den alten Strieger und wie sie damals zuerst von der Magdalena erfahren hatte. So kamen ihre Gedanken heute von dieser Seite zu der toten Frau, die ihr eigentlich immer gegenwärtig war. Ja, war es nicht fast, als ob die Magdalena hier mit eingekerkert sei, gebunden, wie sie es damals auf ihrem Lager gewesen war mit Ketten des Siechthums, und doch frei, doch beseligt und daher ein steter Vorwurf für ihr eigenes banges Verzagen?

Dort drüben auf dem Tische lag ein schwarz gebundenes Buch, das der Pater Gollermann Polyxenen gebracht hatte. Es enthielt Sündenbekenntnisse, Gebete zur Mutter Gottes und zu verschiedenen Heiligen, und er hatte sie ernstlich ermahnt, das alles zu lesen und wieder zu lesen und herzusagen; einzelne Gebete und Litaneien hatte er ihr genannt und ihr aufgegeben, dieselben so und sovielmal am Tage äbzubeten. „Mag der hochfahrende Verstand sich dagegen sträuben, meine Tochter,“ hatte er gesagt, „kämpft ihn nieder, denn seiner bedient sich der Feind der Seelen, um Euch zu verderben. Befleißigt Euch jetzt zunächst des Gehorsams, und nur des Gehorsams gegen Euere geistlichen Lenker! Die heilsamen Folgen werden nicht ausbleiben.“

Bis jetzt waren sie ausgeblieben, obwohl Polyxene sich bemüht hatte, jene Aufgabe zu erfüllen. Aber das hatte sie nicht abgünstig gemacht. In ihr wohnte kein hochfahrender Trotz, der sie getrieben hätte, von vornherein gegen diesen Mann sich aufzulehnen, denn ihre eigene innere Wahrhaftigkeit und Treue ließ sie immer zuerst von einem jeden, der in ihren Kreis trat, vermuthen, er möge es wohl redlich meinen und in seiner Weise recht haben. In seiner Weise, denn für sie, das merkte sie bald, blieben jene Gebete und Formeln tote Buchstaben. Wie ganz anders sprachen sie aber auch als das alte Buch, das Vermächtniß ihrer Mutter, das sie, kaum überkommen, nun wieder entbehren mußte! Die geistlichen Herren würden es wohl an sich genommen haben; Polyxene hatte die „Teutsche Theologie“ nicht wieder gesehen, seitdem sie von der Herrenmühle fortgebracht worden war.

Aber obwohl sich Polyxene nach dem Buche sehnte – in unüberwindlicher Ehrlichkeit, auch gegen sich selber, zweifelte sie dennoch daran, ob es ihr zu dem Gottesfrieden und zu der Ergebung geholfen haben würde, nach denen zu streben sie sich mühte. Warum nahte ihr nicht der unsichtbare mächtige Helfer und Freund in ihrer großen Noth, der so geheimnißvoll neben dem Bette der siechen Armen gestanden hatte? Sie betete und rang; sie vermeinte zuweilen, daß diese herbe Prüfung ihr vielleicht geschickt sei, damit sie seine Macht, zu helfen und aufrecht zu halten, kennenlerne; sie hatte ein Gefühl, als ob man in derselben Lage wie sie, ganz abgeschlossen von irdischer Liebe und Freude und Hoffnung, gerade desto wunderbarerer innerer Erfahrungen könne gewürdigt werden, wenn man sich völlig bereit halte, sie in sich zu empfangen. Aber das wollte ihr nicht gelingen. Ihr Beten half nichts; fühlte sie doch, und das war das Qualvollste von allem, daß sie nicht einmal mit aller Kraft ihrer Seele zu beten vermöge um diesen überirdischen Frieden, der sie frei gemacht hätte trotz ihrer Feinde. In ihrem Inneren wechselte matte trübe Nacht und Dumpfheit mit qualvoller Unruhe, mit dem jammernden verzweiflungsvollen Sehnen nach Errettung. Ach, die Magdalena hatte gelebt; die hatte nichts mehr verlangt vom Erdendasein, in das bei ihr schon der nahe Himmel hinein gestrahlt hatte, mit seiner Lichtfluth das Leuchten irdischer Sterne verschlingend. Aber Polyxene war jung, und der Himmel, obwohl sie ihn mit frommer Hoffnung als das Ziel der wohl durchlaufenen irdischen Bahn verehrte, war ihr immer sehr fern, eben am Ende einer langen Bahn erschienen. Schön, ach schön war der Sommer, war der Lenz auf der Erde, war der ernste Wald, war der frühe thauige Morgen! Wer hatte wie sie das freie Schweifen in Wald und Feld genossen, wer das unzertrennliche Zusammensein mit einem fröhlichen Gefährten, wie es Lutz gewesen, der ihr so ganz zusagte! Aber Lutz war aus ihrem Leben verschwunden! Ihr Verlangen, um sein Schicksal zu wissen, ihn wieder zu besitzen, war grenzenlos. Doch wenn sie nun darum betete mit aller Inbrunst ihrer Seele, dann fiel ihr ein: solche Gebete wie das um Befreiung, um den Wiederbesitz des geliebten Knaben sind die richtigen nicht, Gott hat alles dies von mir nehmen wollen; alles, was mich sonst freute, soll ich entbehren lernen, alles, was mir bisher gefiel, soll mir nicht mehr gefallen – solche Sätze hatte sie in der „Teutschen Theologie“ gelesen – nur nach dem unsichtbaren Gute allein soll ich verlangen. Wenn sie recht matt von Jammer war nach einem durchgequälten Tage, dann war es ihr zuweilen, als ob diese Selbstentäußerung ihr gelingen könnte. Aber der Schlaf in der Nacht, der sie zum Glücke doch noch besuchte, pflegte das mühsam Aufgerichtete wieder niederzureißen. Er erneute ihre kräftige Jugend, und diese bäumte sich auf, manchmal sogar zu dem, was sie nachher als gottlose Rebellion gegen das Heilige in bitterer Angst bereute, und so erneuerte sich das Ringen, erneuerte sich die Verzweiflung.

Dann konnte es ihr geschehen, daß sie sich in vermeinter Feindseligkeit abwandte von der göttlichen Gestalt, die sich durch das schmachvolle Kreuz verherrlicht und das Leiden geheiligt hatte, daß sie ihre Gedanken suchend, aber muthlos suchend, umherschickte nach einem irdischen Beistand. Der Oheim? Gebilligt hatte er ihre Fortführung nicht und sie kannte ihn genug, um zu wissen, daß die ebenso unsinnige wie fürchterliche Anschuldigung, die man gegen sie erhob, ihn nicht bewegen würde, an ihr zu zweifeln. Aber so abgeschieden von aller Welt, wie er seit Jahren lebte,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_410.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2021)