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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Sande. Alles in allem war der Anblick der beiden, die eng aneinander geschmiegt, schwarz wie das leibhaftige frierende Unglück in dem Sonnenglanz dastanden, wohl geeignet, einen mit jenem Schauer die Schritte beschleunigen zu lassen, mit dem der Gesunde vor dem Anschauen unheilbarer Krankheit flieht.

„Es ist meine Hauswirthin, Frau Doktor Kolw, mit ihrer Tochter“, flüsterte der Sanitätsrath. „Sie begehen heute den fünften Jahrestag des Ereignisses, das dem Mädchen da das linke Auge gekostet hat.“

„Die Arme!“ rief ich aus. „Sie kann noch nicht alt sein und war jedenfalls nicht häßlich.“

„Sie ist heute sechsundzwanzig Jahre alt und war einundzwanzig, eine Schönheit, die Braut eines sehr reichen Mannes von bestrickender Liebenswürdigkeit, der sie vergötterte, als ihr das sogenannte Unglück in einer Sekunde die volle Sehkraft, Jugend, Schönheit, den Geliebten und die Zukunft raubte,“ antwortete mein alter Freund.

„Das sogenannte Unglück?“ wiederholte ich befremdet. „Ich meine, vor Thatsachen gleich dieser müßte auch Ihr Optimismus die Segel streichen, Doktor. Schönheit und Liebe auf einen Schlag zu verlieren – wo gäbe es ein schlimmeres, unversöhnlicheres Geschick als dieses?“

„Wenn nun aber in dieser Schönheit und dieser Liebe der Keim eines noch größeren dauernden und unversöhnlichen Unglücks verborgen gewesen wäre?“ erwiderte mein Begleiter. „Denn darüber sind wir wie alle nachdenklichen Menschen doch wohl miteinander einig, daß Glück und Unglück – das echte Glück und das wahre Unglück, nicht die sogenannten, die in äußeren Umständen beruhen – ganz individuell sind und im Frieden oder Unfrieden mit uns selbst, im Sichausleben oder Unterdrücktwerden unserer Natur, das heißt unserer stärksten drängendsten Eigenschaften und Kräfte bestehen. Und wenn die Geschichte dieses Mädchens wieder einmal schlagend die Richtigkeit des so klaren und doch immer wieder vergessenen Satzes von der individuellen Prägung von Glück und Unglück bestätigte? – Aber statt zu docieren, will ich Ihnen erzählen. Kommen Sie weiter in den Wald hinein, damit wir ungestört sind!“

Und im Weiterschreiten erzählte mein alter Freund:

„Ich muß weit ausholen, wenn ich Ihnen Mariannens Geschick ganz verständlich machen soll. Denn es ist, wie gesagt, das Ergebniß ihrer Charakteranlage, und die Bildung und Entwicklung des Charakters greift weit in die Kindheit, ja in Charakter und Geschick der Eltern zurück. Ich kannte Mariannens Eltern genau; als bester Schulfreund eines jüngeren Bruders ihres Vaters war ich fast täglicher Gast in dessen Elternhause; als dann Fritz – so hieß Mariannens Vater – als rasch zu Namen gekommener Frauenarzt eine Klinik errichtete, machte er mich, der eben promoviert hatte, zu seinem Assistenten und nahm mich in sein Haus und an seinen Tisch. Ich bin ihm Dank schuldig und habe ihn auch ohne das rechtschaffen lieb gehabt; denn er war ein guter Kerl, so, was man ‚eine Seele von einem Menschen‘ und ‚ein fideles Haus‘ nennt, von jener Gutmüthigkeit, die eigentlich in Leichtsinn, und jener Heiterkeit, die in Oberflächlichkeit ihren Grund hat, die aber, verbunden mit einem sprudelnden Humor, seine Persönlichkeit bis ins reife Mannesalter mit dem Zauber unverwüstlicher Jugendlichkeit umgab. Zudem war er ein bildschöner Mensch – Gardelieutenants-Typus – blond, prächtige Figur, breite Schultern, schmale Hüften, das unwiderstehliche Schwerenötherlächeln unter dem kecken Schnurrbärtchen und in den kornblumenblauen Blitzaugen. Natürlich war er Don Juan und Herzenbrecher bis ins reife Mannesalter, und ebenso natürlich ein schlechter Haushalter, der nicht nur seine reichen Einnahmen, sondern auch das große Vermögen seiner Frau in Sekt und Spiel und noblen Passionen mit guten Freunden verthat. Und nun diese Frau! Es lief eine Anekdote über seine Werbung um, von der ich zu seiner Ehre annehmen will, daß sie erfunden war, die aber so treffend seinen Charakter und sein Verhalten kennzeichnet, daß ich sie in höherem Sinne wahr nennen muß. Er war der sehr reichen Betty Löwenberg auf einem Juristenball vorgestellt worden und hatte einen Walzer mit ihr getanzt. Darauf geht er sofort ans Büffett und sagt zu einem Corpsbruder: ‚Brr – einen Schnaps! – Aber ich nehm’ sie doch!‘

Von der Ehe, die auf solchen Grundlagen ruhte, können Sie sich einen Begriff machen. Ober Sie können’s doch nicht; denn was den Konflikt verschärfte und unheilbar machte, war der Charakter der Frau. Betty Löwenberg hatte früh gewußt, daß sie sehr häßlich sei: etwas schief gewachsen, klein, mit rundem Rücken, großer Nase, schmutzig braunem Teint. Sie hatte allerdings sehr schöne, große, traurige, schwarze Augen – Marianne hat sie von ihr geerbt – aber wer schaut einem so häßlichen Mädchen in die Augen? Weil sie aber einen scharfen und klaren Verstand hatte, war sie sich früh über ihre Häßlichkeit und deren Folgen klar geworden und zog sich von der Welt zurück, die für sie keine Freuden übrig hatte. Je älter sie wurde, desto mehr vereinsamte sie, desto mehr warf sie sich in ihre Bücher und Studien hinein und wurde so eine gelehrte Frau – eine Menschengattung, die damals noch mehr als heute von der Dummheit und Oberflächlichkeit, die nie dem Warum und sehr selten dem Wie auf den Grund geht, als eine Abnormität geächtet und verspottet wurde. Armes Geschöpf! Natürlich gab ihr bißchen oberflächliche Frauenbildung ihren Studien keine feste Grundlage; natürlich konnte sie auf dem der Frau überall versperrten Wege nicht zu einem Ziele kommen, das des aufreibenden Kampfes verlohnt hätte; natürlich schätzte sie das Erreichte viel zu hoch, weil sie’s mit so großer Mühe erlangt hatte – und natürlich hatte darum die Welt recht, wenn sie diese kleine arme ‚Gelehrte‘ eine verbildete verbitterte Närrin nannte. Und zu ihrem Unglück hatte dies arme Ding ein heißes Herz, und das schrie um so lauter nach Freude und Liebe, je länger es von fremdem Uebelwollen und eigener Selbstbeherrschung grausam geknebelt worden war. Als nun der schöne, von Heiterkeit und Liebenswürdigkeit strahlende Doktor Kolw auf jenem Balle, den Betty einer Freundin zuliebe mitmachte, sie mit seinen scheinbar von innen herausstrahlenden hübschen Huldigungen überschüttete, da sprang das geknebelte Herz auf und jubelte laut. – Armes Ding! Ob sie sich wirklich über die Beweggründe seiner Werbung getäuscht, ob die spät aufflammende Leidenschaftlichkeit ihrer Natur um jeden Preis nach Befriedigung verlangt hat – wer weiß es! Sicher ist nur eins: daß sie unglücklich werden mußte und in der That schon in den Flitterwochen bis zur Verzweiflung unglücklich war. Denn was das Schlimmste war: sie liebte ihren Mann, alle die Jahre hindurch, und schämte sich bitter dieser Liebe, über die er lustig und gutmüthig gelacht hätte, wenn er von ihr gewußt hätte. Aber sie verbarg sie ihm freilich gut genug unter der abweisendsten starrsten Kälte, denn sie wußte, daß er sie fortwährend betrog, und all ihr Stolz und ihre Frauenwürde sträubten sich dagegen, ihm das Geheimniß ihres Herzens zu verrathen. So verbitterte und vergrämte sie immer mehr.

Ich befand mich damals schon in ihrem Hause. Ich war ein junger Mensch, urtheilte oberflächlich und stand – in der ersten Zeit wenigstens – naturgemäß auf seiten des liebenswürdigen lustigen Mannes gegen die finstere scharfzüngige geizige Frau. Viel später erst habe ich die Tragik begriffen, die darin liegt, wenn ein Mensch sich seiner natürlichsten Regungen schämen muß – dessen schämen, was anderer Glück und Stolz ausmacht – nur darum, weil äußere Umstände bei ihm zur Lächerlichkeit stempeln, was andere schmückt und adelt.

Bei Mariannens Geburt – nach zehnjähriger unglücklicher Ehe – that ich den ersten Blick in dies vereinsamte heiße Herz.

Fritz Kolw hatte als Arzt und Ehemann gefordert, daß das Kind gleich nach der Geburt, welche der Mutter fast das Leben gekostet hatte, von der Schwerkranken getrennt und einer Wärterin übergeben werde. Als er nun von der letzteren hörte, daß Betty sich entschieden weigere, das Kind von sich zu lassen, war er sehr ärgerlich in ihr Zimmer und an das Bett getreten. Da lag das Püppchen, roth und zufrieden wie das Leben selbst, in ihrem Arme, und sie – das Haar hing ihr grau in die Stirn, ihre Züge waren verfallen wie bei einer Todkranken; die Hände hatte sie geballt, die Zähne aufeinander gebissen, als leide sie unsägliche Schmerzen. Da, als er mit einem Machtwort der Quälerei ein Ende machen wollte, hob sie die Augen zu ihm auf. Und diese schwarzen großen ausdrucksvollen Sterne, die er viele Jahre nur verfinstert oder in bitterem Zorne glühend gesehen hatte, strahlten von einer wahrhaft himmlischen Glückseligkeit.

‚Laß sie mir – sie darf ich lieben!‘ flüsterte die Frau.

Das war auch dem leichtherzigen Fritz Kolw durch und durch gegangen, und er erzählte es mir, um sich von dem Eindruck zu entlasten. Ich aber sah damals zuerst in den Abgrund von

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