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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


„Arme Schelme,“ sagte Nievern halb vor sich hin. „Mir war im Vorbeireiten gerade, als winkte mir einer von ihnen heimlich zu. Es spazierten ihrer immer zwei längs des Gitters hin und einer nahm uns scharf aufs Korn ...“

„Ja, zwei und zwei gehen sie stets, damit einer auf den anderen aufpasse,“ schaltete der Kanonikus ein.

„Ein blutjunges Bürschchen, soviel ich von weitem sehen konnte, das sich wunderllch ausnahm in der geistlichen Tracht und mit dem kurzgeschorenen Kopfe Er war mit einem Male dicht am Gitter, als wollte er hindurch. Auch war mir, als säh’ ich ein weißes Tüchlein wehen, doch will ich nicht darauf schwören. Denn als ich mich im Weiterreiten noch einmal umschaute, sah ich nur die schwarzen Vögel wieder paarweis im Garten.“

„Es mag ein frischer Zögling gewesen sein, ein Junker, dem die Klausur dort noch nicht schmeckt,“ meinte Herr Engelbert gleichmüthig. „Hat er wirklich gewinkt, so ist es ihm schlecht bekommen. Denn, wie gesagt, alles, was widerspenstig ist, zu biegen oder zu brechen sollen sie doch in St. Menehould ausnehmend gut verstehen.“

Als die Herren beim Nachtisch angelangt waren und die aufwartende Dienerschaft sich entfernt hatte, da zog Nievern seinen Brief hervor. „Sieh, was mir hier zugeflogen ist, Engelbert,“ sagte er. Dabei entnahm er dem Umschlag aber nur das eine Schreiben, das der Pfalzgräfin, und reichte es dem Kanonikus über den Tisch hinüber.

Herr von Wildenfels zog lächelnd die Augenbrauen in die Höhe und las, erst murmelnd und dann laut, als setzte er voraus, daß Nievern so viel Huld, von seiner fürstlichen Herrin eigenhändig zu Papier gebracht, nicht ungern noch einmal von des Freundes Lippen hören werde. Die Pfalzgräfin war nämlich eitel Güte und Freundlichkeit in diesem Schreiben. Von Empfindlichkeit über den erzwungenen Urlaub und die verlängerte Abwesenheit ihres Kavaliers keine Spur! Allerdings zeigte sie die bestimmte Erwartung an, daß seine Rückkehr nun nahe bevorstehe. Und für diesen Fall geruhte sie ihm einen Auftrag zu geben – daß er ihr nämlich einen Edelfalken aus der vortrefflichen Zucht des Meisters Nikolas in Malmedy besorge.

„Der Tausend, Du hast eine sehr gnädige Frau an der Pfalzgräfin!“ sagte der Domherr, indem er noch einmal in das Blatt schaute und sich dabei leicht schmunzelnd mit der Hand ums Kinn strich. „Darfst das Weibchen am Ende nicht mehr allzu lange schmachten lassen, Viktor. Einer Pfalzgräfin kann man schon ein wenig zu Gefallen sein.“

„Ja, ich werde bald reiten müssen,“ gab der Oberjägermeister ruhig zur Antwort, welche Gelassenheit wohl die wirksamste Abwehr gegen den anzüglichen Scherz war. Nievern fühlte sich seit einer Stunde – genaner gesagt, seit er den Brief erbrochen hatte – wieder so sehr wie nur je im Vollgenusse seiner kräftigen Persönlichkeit, die alles Gelingen an sich bannte. Wie war ihm da wieder das Schicksal zu Hilfe gekommen! Die Rückkehr nach Birkenfeld ließ sich ohne eine gröbliche Beleidigung der ihm günstigen Fürstin nun nicht wohl länger verzögern. Und wie völlig lag diese Rückkehr in einer Richtung mit der Neigung, die er sich jetzt zu gestatten, ja die er voll auszukosten beschlossen hatte!

Die beiden Herren besprachen über dem Weine noch den Falkenkauf und sagten dann einander Gute Nacht. Während aber der Domherr auf seinem weichen Bett und unter seidenen Decken schon längst in gesundem Schlafe lag, saß Nievern noch im Sessel am Kamin, in seinem verschwiegenen Schlafgemach, und hatte den Brief in Händen, den er seinem Vetter und Gastfreund heute nicht gezeigt hatte. Es war nämlich das Schreiben der Fürstin zu ihm gereist in friedfertiger Gesellschaft mit einem anderen, von dessen Sendung im gleichen Umschlage Frau Sabine Eleonore offenbar keine Kenntniß gehabt hatte. Ihre ergebene Vertraute, die Frau von Méninville, hatte sich ohne viele Bedenken, wie es schien, die Gelegenheit zu nutze gemacht, dem Kavalier eine Probe ihres Briefstils zu geben. Und es zeugte diese Probe von einer so überraschenden Kunst, daß es wirklich schade gewesen wäre, wenn die fromme Frau ihr Licht ganz unter dem Scheffel gelassen hätte. Die Dame zeigte sich nicht nur federgewandt, sondern auch in ihren Wendungen voller Sinn und Anmuth. Sie kleidete die Freiheit, die sie sich nehme, in einen allerliebsten Scherz ein, verglich sich oder vielmehr ihren Brief in schalkhafter Demuth mit dem Vöglein, genannt Zaunkönig, welches, heimlich unter die Schwinge des Adlers geschmiegt, von diesem ohne sein Wissen durch die Luft dahin geführt werde, wohin sein Begehr sei, und that in geschickter Weise dadurch gleich dem Empfänger ihrer Epistel zu wissen, daß diese immerhin als ein kleines Geheimniß vor der Fürstin zu behandeln sein würde. Dann, anstatt steife Satzungeheuer zu bilden, wie es die deutsch schreibende Welt damals that, erzählte sie, leicht, flüssig, so daß man mit heiterem staunenden Genusse las. Und ihr Brief hatte an dem Herrn von Nievern durchaus keinen Unempfänglichen Leser. Sein kräftiger Geist, durch Reisen geschärft, besaß, wie man zu sagen pflegte, alle jene Studien, die einen vornehmen Herrn zieren durften, ohne daß er zum Gelehrten wurde, was sich nicht geschickt hätte. Und für einen guten Geschmack sorgte die glückliche Uebereinstimmung, in welche eine gütige Natur seine Sinne und Geisteskräfte gesetzt hatte. So las er denn mit seltenem Behagen und dachte dabei: Teufel, was für ein Weib! Wenn man die zur Seite hätte, sollte einem vor der Langweile nicht bange sein! Und er begriff, daß sogar die Pfalzgräfin sich diesem Einflusse nicht hatte entziehen können.

Am kleinen Birkenfelder Hofe seien dem Herrn Oberjägermeister, wenn er zurückkehre, einige Neuigkeiten gewiß, und sogar verwunderliche. Und wenn er jetzt durch allerlei Unterhaltung verwöhnt sei . . . Seltsames geschehe auch zu Hause – das war eine Art Köder für seine Neugierde, den die Schreiberin zuletzt noch auswarf, aber nicht, ohne das auch selber aufs anmuthigste einzugestehen und dadurch die Wirkung vielleicht noch zu verstärken. Was mag sie meinen, dachte er flüchtig, während er sich nunmehr anschickte, ebenfalls sein Lager aufzusuchen, wie es das ganze Haus wahrscheinlich schon längst gethan hatte. Und dann kam der Gedanke, den er aber bald als allzu unwahrscheinlich wieder verwarf: sollte sich für Polyxene von Leyen, für das Fräulein von Habenichts, wie die Fürstin sie boshaft nannte, etwa gar ein vornehmer Freier gefunden haben? Das wäre in der That „verwunderlich“ gewesen. Doch deshalb war es auch nicht anzunehmen. So folgerte Herr Viktor von Nievern in der sorglosen Sicherheit, welche sein stetiges Glück in ihm großgezogen hatte. Ein armes hübsches hochmüthiges Edelfräulein, ein solches Röslein im Dorn, würde wohl ruhig sitzen bleiben, und wenn es einmal sein Belieben sein würde, nach ihr auszuschauen, so würde er sie am alten Orte vorfinden!

So legte er sich, da die Abreise auf den übernächsten Tag beschlossen war, in völlig wiedergekehrter Gemüthsruhe nieder – derselbe Herr von Nievern, der, wenn er hätte ahnen können, welcher furchtbare Freier die arme Polyxene von Leyen schon in eiserner Umarmung hielt, nicht einen Augenblick gezögert hätte, in die Nacht fortzustürmen und sein bestes Pferd ihr zu Liebe zu Tode zu hetzen, ja selber Leib und Leben dabei einzusetzen.

(Fortsetzung folgt.)



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Weltverbesserer.

Von Dr. J. O. Holsch.
VI.
Robert Owen – Johann Georg Rapp.


Es giebt wohl keinen einzigen „Weltverbesserer“, in welchem der Fortschritt wirthschaftlicher Erkenntniß und Thatkraft, der die letzten 100 Jahre europäischer Entwicklung kennzeichnet, sich so anschaulich verkörpert wie in der Person des englischen Fabrikbesitzers Robert Owen.

Owen wurde am 14. Mai 1771 als siebentes Kind eines kleinen Kaufmanns, der zugleich die Postagentur des Städtchens besorgte, zu Newton in Wales geboren. Ein schwächliches Kind, mußte er sich früh an strenge Lebensregeln gewöhnen, die er zeitlebens beibehielt. In der Schule machte er so rasche Fortschritte, daß er mit acht Jahren dem Lehrer im Unterricht half. Mit zehn Jahren war er Kaufmannslehrling, mit zwölf Kommis in Hamford und London, später in Manchester, wo er mit Staunen, zugleich aber mit scharfem Verständniß den ungeheuren Aufschwung der Baumwollindustrie beobachtete; mit achtzehn Jahren machte er sich zum Theilhaber einer Maschinenfabrik, mit zwanzig wurde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 392. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_392.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2021)