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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Gruppe, und auch hier wurde die Sache erörtert. Der Meister war selber dabei, ein teigiger Mann, mit dicken mehlbestäubten nackten Armen. Er sprach nicht allzu viel, denn er war schwerfällig, und so wurden seine Meinungen, wenn er deren einmal von sich gab, ihrer Seltenheit wegen mehr geachtet, als sie es verdienten.

„Da ich im Fränkischen als Geselle arbeitete,“ sagte er jetzt, „da ist uns einmal ein Lehrbube abhanden gekommen. Er war eine Waise, und bei der Meisterin gab es nichts für ihn wie Kinderwiegen und Prügel. Auf einmal war er fort.“

„So ist er wohl davongelaufen,“ meinte eine Nachbarin, eine gutmüthige jüngere Frau mit einem Kind auf dem Arme, der man es ansah, daß sie jenem verwaisten Prügelknaben die Befreiung gönnte.

„Kann sein, kann auch nicht sein,“ erwiderte Jost Lüttebrand in einem Orakelton. „Mein Mitgesell wollte zur Nacht im Ziehbrunnen ’was plumpen gehört haben. Und dann gegen Morgen hätte der Eimer beim Aufziehen an der Kette geächzt und geknarrt wie sonst nicht. Ich hatte nichts vernommen. Wenn es meine Tour war, durchzuschlafen, so schlief ich trotz einem. Von dem Jungen hat man nie wieder etwas gehört.“

„Hineingesprungen, oder gar –?“ Eine Alte fragte es halblaut, in ihrem Eifer sich herandrängend, während sie die Gebärde des Stoßens machte. Der Meister zuckte die Achseln.

„Das paßt aber doch auf den Junker nicht,“ sagte darauf die junge Frau wieder, „der hatte es ja so gut auf der Welt.“

„Daß er sie freiwillig quittiert habe, wird auch wohl keiner behaupten wollen,“ meinte der Nachbar Nothnagel, ein Schreiber, und sah aus, als könnte er viel sagen, wenn er nur wollte. Doch bedurfte es keines großen Drängens, und er fuhr fort: „Was trieb sich denn das gottlos verwegene junge Blut so viel im Walde am Heidenkopf herum! Nicht nur am Tage, auch nächtens hat er dort gejagt und gelauert. Was aber noch von alten Zeiten her dort webt und wohnt und in stürmischen Nächten mit Pfeifen und Hallo durch die Wipfel saust, das kehrt sich an Junker und Adel nicht – das dreht jedem, den es etwa neugierig lauschend am Wege trifft, das Gesicht in den Nacken.“

„Ja, ein Naseweis war der Junker,“ sagte ein Mann, der noch nicht gesprochen hatte. „Und das Fränlein, seine Base, soll es auch wunderlich treiben. Von meiner Frauen Bruder, dem Meßdiener in Keula, habe ich es, daß sie gar einen seltsamen Verkehr pflegt. Wenn ich zum Fenster hinausschaue, sagt er, so sehe ich sie die Wildschlucht hinaufsteigen. Was hat sie da oben zu suchen? Der Weg führt auf den Schindanger; kein ehrlicher Christenmensch begeht ihn. Und nun gar, wenn sie etwa linker Hand oben im Steinbruch ihr Geschäft hätte . . . Gott bewahr’ uns, meinte er . . .“

Hier hielt der Sprecher inne. „Was ist’s doch gleich mit dem Steinbruch?“ hieß es eifrig; die Köpfe neigten sich näher zusammen. „Gott bewahre uns! Die lebt noch! Und da geht sie hin! Ja, was so ein Vornehmes nicht alles wagen darf! Unsereiner sollte das probieren, vielleicht in der Noth um einen guten Rath, den man dem Doktor und auch dem Herrn Pfarrer nicht danken mag, und den so eine wohl wüßte . . . man wäre ja seines Lebens nicht sicher bei den Leuten, und wie würde einen erst die Geistlichkeit kuranzen! – Eine sonderbare Gesellschaft aber doch, die von der Herrenmühle! Seht doch nur den Alten, den Herrn von Gouda an . . . mich gemahnt er immer an den Ritter im Puppenspiel, mit seinem dünnen Ziegenbart. Und das Fräulein . . . o ja, hübsch ist sie, aber so vornehm brauchte sie auch nicht zu thun und über unsereinen hinwegzusehen, wenn ihr eine solche von Gott und allen Heiligen Verlassene, ein solcher Teufelsbraten gut genug ist, daß sie unter ihr verfluchtes Dach eingeht! . . . Gott behüte uns!“ Und eifrig wurde, was ja auf alle Fälle nichts schaden konnte, von den Weibern das Kreuz geschlagen.

So redeten die Bürgersleute. Am Hofe und unter dem Adel konnte man sich standeshalber mit solchen rohen Märchen wie dem von der gespenstischen wilden Jagd nicht befassen. Man betrachtete dergleichen als einen Aberglauben, dem neben der Lächerlichkeit zugleich die Gewöhnlichkeit, das völlig Unstandesgemäße anhafte. Was ein frommer hoher Adel von bösen Mächten anerkannte und redlich fürchtete, das befand sich gewissermaßen, trotz seines Gegensatzes zur Gottheit, noch innerhalb der Kirche, sofern der Versucher, der herumgeht wie ein brüllender Löwe, von der Geistlichkeit allenthalben approbiert war.

Daß man nun das Verschwinden des Junkers Lutz von Leyen mit dunklen Mächten in Verbindung gebracht hätte, davon verlautete am Hofe nichts. Wohl aber erregte dasselbe allgemeine lebhafte Theilnahme, die sich besonders der armen Polyxene zuwendete. War sie früher vielleicht wegen ihres stolz ausgeprägten Wesens nicht so ganz allgemein beliebt gewesen, so verschwand das jetzt. Jeder beklagte sie; sogar die Damen ließen ihr ein ehrliches Bedauern zu theil werden, da es genugsam bekannt war, wie geschwisterlich die beiden Leyens gelebt hatten, nur enger verbunden durch des Vormundes Wunderlichkeit.

Wie die Pfalzgräfin über die Sache dachte, hatte man noch nicht erfahren. Sie war in den letzten Tagen weniger als sonst für den Hof sichtbar gewesen; es hieß, sie leide an Migräne. Da aber Sabine Eleonore bisher für launisch, jedoch nicht für bösartig gegolten hatte, so war anzunehmen, daß ihr Groll gegen das Fräulein von Leyen, welche Ursache derselbe nun auch haben mochte, vor diesem Unglück nicht Stich halten würde.

Noch stand übrigens die förmliche Mittheilung des räthselhaften Vorgangs von seiten der Verwandten an die fürstliche Herrin aus. Und um diese zu bewerkstelligen, hatte sich der Vormund des Verschwundenen, der Oberst von Gouda, nach dem Residenzschlosse begeben, in welchem er eine sehr seltene Erscheinung war. Es saß neben ihm in der altväterischen Leyenschen Hoskarosse die kummervolle Gestalt seines anderen Mündels, des Fräuleins Polyxene. Neun Tage waren seit jenem schrecklichen Abend vergangen, an welchem Lutz zuerst nicht heimgekommen war. Polyxene war, so lange es ihre Kräfte nur irgend erlaubten, in diesem Zeitraum ruhelos umhergestrichen, hatte kreuz und quer den Forst durchstreift, war an allen ihr und Ludwig bekannten Stellen desselben gewesen – nach der Stadt aber war sie seitdem noch nicht gekommen.

Die Birkenfelder reckten die Hälse nach dem Wagen. Der Oberst, den kannte man ja, er sah mit seinem gelben Gesicht und pechschwarzen Haar immer schon wie eine Trauerfigur aus. Das Fräulein aber – wie, hatte sie denn keine schwarzen Kleider angelegt? Nein, sie sah aus wie sonst, wenn sie zu Hofe fuhr. Viele verübelten es ihr, daß sie sich der äußeren Trauerzeichen noch enthielt. Polyxenen dagegen würde es fürchterlich vorgekommen sein, solchergestalt zuzugeben, daß sie den Vetter für tot achte. Und da sie es auch für richtig hielt, Fremden und Fernstehenden nichts von dem, was ihr Gemüth bewegte, zu verrathen, so blickte jetzt während der Fahrt ihr reizendes Gesicht anscheinend sehr ruhig vor sich hin. Daß es schmäler geworden war und der Glanz der graublauen Augen durch Wachen und Weinen sich getrübt hatte, das bemerkten die Aufpasser nicht.

Im Residenzschlosse ließen sich der Oberst und sein Mündel vorschriftsmäßig bei der Obersthofmeisterin melden, welche dann die Einführung bei der Pfalzgräflichen Hoheit zu bewerkstelligen hatte. Frau von Kallenfels war dazu sofort bereit. Hoheit werde zwar in den letzten Tagen von Kopfschmerzen geplagt, welche ihre Laune sehr ungünstig beeinflußten, sie sei aber heute schon für die Fräulein des Dienstes sichtbar gewesen und werde unter diesen besonderen Umständen – die lange, verblichene Dame sagte das mit einem gutmüthigen Blick der im Hofdienst so ausdruckslos gewordenen Augen – also unter diesen antheilswürdigen Umständen werde Hoheit gewiß Audienz gewähren.

Die beiden hatten noch nicht lange gewartet zwischen den wenigen steifen Prachtmöbeln des Vorgemaches, als die Obersthofmeisterin zurückkehrte. Wäre ihr Gesicht nach ihrer lebenslangen Unterwerfung unter die Form nicht so wenig ausdrucksfähig gewesen wie etwa ein lederner Tabaksbeutel, so hätte man ihr anmerken müssen, daß ihr soeben das geschehen war, was bei anderen Menschen einen heftigen Aerger bedeutet. Herr von Gouda freilich, zerstreut, wie er meistens war, achtete nicht auf ihre immerhin betretene Miene, sondern schickte sich an, in die Gemächer der Frau Sabine Eleonore einzutreten. Er hatte schon ein paar Schritte gemacht, da sagte sie: „Halt, mein Herr Oberst von Gouda! Die Frau Pfalzgräfin Hoheit empfangen heute nicht. Hoheit befinden sich in ihren Gemächern in Gesellschaft der Frau von Méninville, der einzigen, wie man uns zu wissen

thut, welche sie bei ihren vapeurs heute ertragen kann.“ –

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