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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Schaffen lebte, als das Unglück über den verdienstvollen Mann hereinzubrechen drohte. Ein schweres Augenleiden stellte sich ein. Aber noch fast am Erblinden blieb Riehl rastlos thätig, bis zu Anfang des Jahres 1893 eine Staroperation nothwendig wurde. Sie gelang in so glücklicher Weise, daß das Augenlicht Riehls heute besser ist als jemals und der scharfe Blick des Kulturhistorikers nunmehr wieder hell und klar durch die Landschaft zu schweifen und durch die Seele des deutschen Volkes zu dringen vermag. Um die Mittheilungen über seine äußeren Lebensverhältnisse zu vollenden, muß noch mitgetheilt werden, daß Riehl in den letzten Jahren auch den Titel eines Geheimraths erhielt und daß er seit 1885 zum Direktor des Bayerischen Nationalmuseums und zum Generalkonservator der Kunstdenkmäler und Alterthümer Bayerns ernannt wurde, eine Stellung, durch welche glücklicherweise seine schriftstellerische und seine Lehrthätigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt wird.

Wir haben bisher nur einen Theil der Arbeiten Riehls genannt: die kulturgeschichtlichen. Sie wurden absichtlich vorangestellt, weil Riehl in erster Linie immer als der hervorragende Kulturhistoriker erscheinen wird. Kulturgeschichte und Gesellschaftswissenschaft sind die breite Grundlage jener Stellung, die er in der deutschen Wissenschaft und Litteratur stets einnehmen wird. Es ward schon oben angedeutet, worin der besondere Werth von Riehls Arbeiten auf diesem Gebiete liegt; sie sind getragen von dem Grundsatze, daß, wer das Volk schildern will, wandern muß, und zwar zu Fuß und allein, ausgerüstet mit mehr Kenntnissen über des Landes Geschichte und Zustände, als die Einwohner der zu durchforschenden Gegenden selber haben. Nur der einsame und geübte Wanderer vermag rastlos zu beobachten. Tiefste Wanderpoesie und strengste Schulung des Forschers ist das Selbstsuchen. So sehen wir aus Riehls kulturgeschichtlichen Schriften, wie sie überall aus unmittelbar Geschautem herporgegangen sind, wir sehen aus ihnen, wie der unermüdliche Forscher sucht und entdeckt, wie er die Menschen der verschiedenen Bildungsgrade zum Reden bringt und das findet, was er eben beobachten will.

Wilhelm Heinrich Riehl.
Nach einer Photographie von Franz Hanfstaengl in München.

Diese Bücher enthalten kein System einer Gesellschaftslehre. Ein solches System hat Riehl nur in seinem Kolleg über „Die bürgerliche Gesellschaft und die Geschichte der sozialen Theorien“ zusammengestellt, welches er seit 1860 an der Münchener Universität alljährlich liest. Aus diese Universitätsvorlesungen nur ist Riehls wissenschaftliche Erkenntniß vom Wesen und Aufbau der Gesellschaft, vom modernen Begriff der Stände, vom Verhältniß der Gesellschaft zum Staat und zum Erwerbsleben zu beurtheilen. Riehl gehört auch, wo er in seinen Werken das Treiben der modernen Parteien streift, keiner bestimmten Gruppe an. Er war niemals ein Mann der herrschenden Parteien und der herrschenden Schulen, wie er selbst betont. Das hat seinen Büchern anfangs geschadet, später genützt, weil sie ihren Werth über die Dauer der Parteien und der Schulen hinaus bewahrten. Auch in das Treiben der Tagespolitik hat Riehl, seit er aus der Redaktionsstube trat, sich nicht mehr gemischt. Der feine Kenner des Volkes, der vorzügliche Redner blieb der politischen Tribüne fern, und mit Recht. Denn was er in der dämmerstillen Schreiberzelle seines Häuschens an der Kaulbachstraße in München geschaffen hat, ist von weit höherem Werthe als das, was er hätte leisten können, wenn er sein politisches Denken in die Schablone einer Partei hätte pressen müssen, wenn er genöthigt gewesen wäre, seine Zeit mit fruchtlosen Debatten zu vergeuden. Ein gewisser konservativer Zug ist ihm allerdings eigen; aber er ist konservativ in des Wortes edelstem Sinne; er will die Erhaltung des Bestehenden nur, wo das Bestehende seine geschichtliche und sittliche Berechtigung hat. Da aber vertheidigt er es mit inniger Herzenswärme und überlegenem Humor gegen die Bestrebungen gedankenloser Gleichmacherei, gegen Oberflächlichkeit und Gefühllosigkeit, gegen Roheit wie gegen die Fäulniß und Zersetzung der Ueberfeinerung,

Ein ganz anderes Feld, auf welchem Riehl gleichfalls höchst erfolgreich aufgetreten ist, bildet die Theorie und Geschichte der Musik. Und so entlegen dieses Gebiet auch von dem vorgenannten scheint, Riehls Arbeiten auf demselben sind doch derart, daß er heutzutage zu den besten Kennern der musikalischen Theorie gezählt wird. Als Ergebnisse seiner musikalischen Studien sind zu nennen die „Hausmusik“, 1855, sowie die drei Bände „musikalische Charakterköpfe“, 1853, 1860 und 1878. In dem letztgenannten Werke verfolgt er das Ziel, das geschichtliche Studium der musikalischen Kunstwerke zu fördern und die Entwicklung der Tonkunst in ihrem organischen Zusammenhang mit der gesamten Kulturgeschichte zu fassen. Dabei ist er getragen von dem pietätvollen Willen, auch die Männer der Vorarbeit, der Uebergangsstufen, die kleineren Meister neben den großen Sternen der Musikgeschichte zu würdigen. So wurden die drei Bände der musikalischen Charakterköpfe ausgesponnen zu einem überaus werthvollen und gediegenen Stück Kunst- und Sittengeschichte, welches geeignet ist, eine fühlbare Lücke auszufüllen, und welches Riehl als den Mann erscheinen läßt, der mehr als irgend ein andrer berechtigt und befähigt wäre, eine zusammenfassende Geschichte der Musik zu schreiben,

Das dritte Gebiet, auf welchem Riehl sich glänzende Lorbeern errungen hat, ist die Prosadichtung. Eine Reihe von Novellenbänden gehören dieser Gruppe an: „Kulturgeschichtliche Novellen“, „Geschichte aus alter Zeit“, „Neues Novellenbuch“, „Aus der Ecke“, „Am Feierabend“, „Lebensräthsel“. Es sind fünfzig Novellen, welche Riehl im ganzen geschrleben hat. Man würde aber irren, wollte man in ihnen bloß Kulturgeschichte suchen. Sie sind zugleich echte Dichtungen, voll Liebenswürdigkeit, Lebenswahrheit, psychologischer Tiefe und feinem Humor, keine oberflächliche Unterhaltungslektüre, sondern vollendete Kunstwerke.

So ist es eine stattliche Bibliothek geworden, welche wir der nie ermattenden Lebensarbeit dieses einen Mannes verdanken. Der Stil, welchen Riehl in allen diesen Büchern schreibt, zeichnet sich aus durch edelste Einfachheit und durchsichtige Klarheit. Als Stilist ist Riehl im Ausland weit richtiger gewürdigt worden als in Deutschland; einzelne seiner Werke sind in verschiedene fremde Sprachen übertragen worden; manche derselben erscheinen dort sogar als Volksausgabe und werden zum deutschen Sprachunterricht verwendet.

In seiner äußeren Erscheinung zeigt Riehl noch nichts von den sieben Jahrzehnten, die auf ihm lasten. Er ist körperlich und geistig frischer als mancher Fünfundzwanzigjährige. Seine Regsamkeit und Elasticität sind wahrhaft bewunderungswürdig. Was diese geistige Kraft uns noch zu schenken berufen ist, wissen wir nicht; aber daß es nur Mustergültiges sein wird, dürfen wir in froher Zuversicht hoffen. Und in dieser Zuversicht möge das deutsche Volk einem seiner besten Geisteshelden zu seinem siebzigsten Geburtstag den wohlverdienten Lorbeer zum Kranze winden! M. H.     


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_301.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2021)