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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

scharf horchen. Denn wenn er nun kam – wie es ja gar nicht anders möglich war – er hatte sich gestern abend verspätet, hatte irgendwo ein abenteuerliches Nachtquartier gehabt, vielleicht auf einem Baum im Walde – wenn er kam, dann war es vor Tage; er würde versuchen, sich leise einschleichen, daß man ihn nicht merke, um dann am Morgen ruhig vorhanden zu sein, als wäre nichts gewesen, der Schelm! – Da war er! Aber wie seltsam sah er aus, blaß und verändert! Und warum war er so stumm? Polyxene fuhr auf und sah sich verwirrt und suchend um. Ihr Gemach war leer und die bleiche kalte Dämmerung der noch sonnenlosen Frühe herrschte darin. Wo war Lutz? Sie hatte doch eben noch mit ihm gesprochen! Ach, es war nur im Traume gewesen! Verstört erhob sie sich, horchte hinaus in das noch stille Haus, schlich zum Ueberfluß auf leisen Sohlen in das Nebengemach, wo Lutz sonst schlief und sah wieder das leere unberührte Bett.

Am Morgen begann das Suchen und Forschen nach dem Knaben. Der Oberst, ein etwas gleichgültiger und wunderlicher, aber doch kein gewissenloser Vormund, entsandte selber sämtliche Dienstboten des Hauses und ein paar Knechte, die auf den zur Herrenmühle gehörigen Ländereien in der Nähe arbeiteten, nach verschiedenen Richtungen. Zwischendurch aber versenkte er sich wieder in seine Studien, annehmend, daß man es am Ende doch nur mit einem Knabenstreich zu thun habe und daß jeden Augenblick von irgendwoher der gedankenlose junge Schlingel selber oder eine Nachricht über seinen Verbleib eintreffen müsse. Anders Polyxene. Wie ein ruheloser Geist durchwanderte sie unausgesetzt das weitläufige alte Haus und alle Nebengebäude, leidenschaftlich suchend in den unzähligen Ecken und Winkeln, die niemand so gut kannte wie sie und der Vetter, von ihren Spielen her. Ach, wie leichten Herzens hatte sie da – es war noch nicht allzu lange her – diese staubigen Böden und halbdunklen Speicher, die ehemaligen Vorrathsräume der Mönche, durchkrochen, und mit wie schwerem geschah es jetzt! Der kindlich sorglose Sinn, den sie hier in ihrer ruhigen Jugendheimath bisher noch gehegt hatte, trotz ihrer achtzehn Jahre, der war ihr überhaupt in den letzten Wochen abhanden gekommen. Und heute lastete die Furcht vor einem unausweichlichen Unglück auf ihr, und sie schleppte je länger je mühsamer die bleischweren Glieder, gleichwohl von fiebernder Rastlosigkeit immer vorwärts getrieben.

Wie anders als mit Bangen und Grauen konnte sie aber auch von den Speichern in die Tiefen der darunter liegenden verbauten Räume, kaum zugänglicher Schachte, hinablugen, die Lutz manchmal mit halsbrechendem Klettern erreicht hatte! Wenn er dort hinuntergestürzt wäre, was hätte sie alsdann von ihm gefunden? Und wenn sie, sich gewaltsam bemusternd, mit Mühe die schweren Deckel uralter Truhen hob, in die sich der leichtsinnige Junge wohl einmal versteckt hatte, konnte es anders geschehen als unter unsäglicher Angst vor dem Anblick eines im Erstickungskrampf entstellten Totenantlitzes, das ihr vielleicht entgegenstarrte?

Fruchtlos jedoch alles Suchen: lebendig oder tot – wie sie ihn nun schon manchmal mit eisigem Jammer sich vorstellte – in der Herrenmühle war Lutz nicht. Und die Boten, die ausgeschickt worden waren, kehrten im Laufe des Vormittags einer nach dem andern unverrichteter Sache zurück.

Jetzt wurde auch der Herr Oberst von Gouda selber ziemlich rathlos. Als letzter kehrte der Knecht zurück, welcher auf des Fräuleins Weisung sogar den Strieger, den alten Waldwart, in seiner Klause am Heidenkopfe hatte aufsuchen müssen. Der Alte war zwar auf der Streife gewesen, der Mann hatte ihn aber doch noch getroffen. Und auch Strieger hatte von dem Junker nichts gewußt; bei ihm 1m Walde hatte sich Lutz gestern und heute nicht blicken lassen. Auf diese Nachricht hin winkte der Oberst der mit starren verstörten Augen dastehenden Polyxene, ihm auf sein Zimmer zu folgen. Hier hieß er sie sitzen. „Mich dünkt, Ihr nehmt Euch die Sache wunderlich schwer zu Herzen, Nichte,“ sagte er, sein eigenes Unbehagen unter einem krittelnden Tone verbergend. Polyxene sah ihn nur an und rang die schlanken Finger ineinander; schelten wollte sie sich gerne lassen, wenn er nur Trost wußte! „Ist Euch nicht schon zu Ohren gekommen,“ fuhr er fort, „wie manch ein junger Fant heimlich das sichere Dach seiner Heimath verlassen hat, um auf Abenteuer in die weite Welt zu gehen? Zu Schiffe nach den Goldländern jenseit des Oceans, oder auch nur der ersten besten Werbetrommel folgend, um als Soldat der Fortuna nachzurennen, freventlich unbekümmert in seinen Phantasien um die Angst liebender Anverwandten?“

Polyxene sah ihn verwirrt an, ob sie ihn auch recht verstehe. „Und Ihr meint, dessen wäre Ludwig fähig gewesen?“ rief sie endlich. „Nein, Oheim, das glaube ich nimmermehr! Lutz unter den Werbern!“ – Wie gegen ihren Willen duldete sie nun doch auf Augenblicke den schrecklichen Gedanken. „Das müßten holländische gewesen sein, die zuweilen über die Grenze gehen. Freiwillig wäre er nicht gefolgt. Und sollten sie ein Kind, das sie noch nicht gebrauchen können, gewaltsam fortführen? Er hätte es nicht geduldet – er ist von altem Adel – der Frevel wäre unerhört.“

„Nein, an offene Gewalt denke ich nicht,“ sagte der Oberst. „Der schöne Bursch wäre gerade recht, um eine Trommel zu tragen. Und sein Sinn stand auf Abenteuer ...“

„Die sucht ein Edelmann nicht mit der Trommel auf dem Rücken, wenn er den Degen tragen darf,“ rief Polyxene unwillig. „Und vor allem wäre er nicht heimlich fortgegangen! Ich kenne ihn besser als Ihr: nimmermehr hätte er uns – hätte er mir das angethan!“

Während sie jetzt beide eine Weile schwiegen, hatte sich dem Mädchen die ganze tolle Unwahrscheinlichkeit der Vermuthung des alten Herrn immer mehr aufgedrängt. Und im selben Verhältniß stieg von neuem die verzweifelte Ungewißheit, die Ahnung größern Unglücks. „Warum sollte der Knabe uns haben verlassen wollen?“ sagte sie klagend. „Er war frohen Sinnes und zufrieden; er hatte seine Heimath lieb und uns auch, Oheim ...“

Auf die letzten Worte des Fräuleins hatte Herr von Gouda aber nun doch noch eine Entgegnung, die des Scharfsinnes nicht ermangelte, wenn sie auch nicht die echte innere Wahrscheinlichkeit für sich hatte, wie Polyxene im tiefsten Herzen fühlte. Er sagte: „Habt Ihr mir nicht neulich vermeldet – nur flüchtig freilich, da meine Studien mir die Aufmerksamkeit auf einen allzu ausführlichen Bericht nicht verstattet hätten – es sei wegen eines Hirsches zu kränkenden Worten der Frau Pfalzgräfin gegen Euch Leyens gekommen? Wie, wenn der thörichte Knabe aus diesem Vorkommniß den Anlaß genommen hätte, trotzend davon zu gehen?“

„Nein, so schwer traf ihn die Sache nicht,“ sagte Polyxene bestimmt. „Die Frau Pfalzgräfin hat ihm auch gleich darauf wieder Freundlichkeit erwiesen.“ Freilich fielen ihr jetzt die Worte Lutzens aufs Herz, die er damals zu Herrn von Nievern gesagt hatte, vom Dienstenehmen beim Kaiser oder bei den Holländern. Aber wenn er erwachsen sein würde, hatte er gemeint. Nein – sie hatte in seinem Kinderherzen immer bis auf den Grund sehen können! Nimmermehr hätte er einen tollkühnen Entschluß von weittragenden Folgen tagelang und wochenlang vor ihr zu verbergen vermocht und gewiß auch keinen gefaßt, der ihr so bittere Angst und Schmerzen bringen mußte!

Sie sah dem Oheim aber an, daß er sich nicht würde überzeugen lassen, sondern sich bei dieser seiner Auslegung des unerklärlichen Verschwindens seines Mündels vorderhand bis zu einem gewissen Grade zu beruhigen wünschte. „Wir dürfen selbstverständlich von unseren Nachforschungen nicht ablassen,“ sagte er jetzt noch. „Ich werde meditieren, welche Maßregeln die geeignetsten dafür sein möchten.“ Damit hatte er sich schon wieder halb seinem Büchertisch zugewendet, und Polyxene mochte gehen und sehen, wie sie mit ihrem Jammer allein fertig wurde. Sie besann sich darauf, daß sie in den Oberstock des Hauses steigen und von einem seiner zahlreichen Dachaugen aus umherspähen wollte. Da war ein Fenster, aus dem überschaute man ein großes Stück der Landstraße nach Keula zu. Vielleicht, daß er doch noch von dort, aus dem Walde oberhalb des Dorfes, zurückkehrte.

Da trat am Aufgang zum oberen Geschoß jemand an sie heran. Der winklige Flur war hier selbst am Tage dämmerig, und Polyxene war schon zusammengefahren, ehe sie erkannte, daß es nur Dietlieb war. Der stille Mann sah sie halb mitleidig an, als sie mit stockendem Athem fragte: „Nun, Dietlieb? ... bringt Ihr etwas?“ Nein, immer noch nichts – sie las es ihm in tiefer Muthlosigkeit vom Gesicht ab. Aber jetzt drehte er die Mütze in den Händen; er hatte doch etwas zu sagen. Es schien selbst ihm nicht ganz leicht zu werden ... das Fräulein sah so wie so schon so verstört aus! Endlich begann er: „Haben Euer Gnaden noch gar nicht an den Mühlgraben hinten im Garten gedacht?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_295.jpg&oldid=- (Version vom 30.10.2020)