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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Da fühlte er, wie zwei Arme sich um seinen Hals legten, und auffahrend gewahrte er die Witwe seines Sohnes, deren blasses thränenüberströmtes Antlitz ihn anblickte mit einem Ausdruck, wie er ihn noch nie darin gesehen.

„Was soll das, Cäcilie?“ fragte er rauh. „Habe ich Dir nicht gesagt, daß ich allein sein will? Die anderen sind gegangen –“

„Aber ich gehe nicht,“ sagte Cäcilie mit bebender Stimme. „Stoße mich nicht zurück, Vater! Du hast mich in Deine Arme und an Dein Herz genommen in der schwersten Stunde meines Lebens, jetzt naht Dir diese Stunde und jetzt theile ich sie mit Dir!“

Da brach die starre Bitterkeit des furchtbar erregten Mannes, er wiederholte nicht den rauhen Befehl. Stumm zog er die junge Frau an seine Brust, und als er sich zu ihr niederbeugte, fiel eine glühende Thräne auf ihre Stirn. Sie zuckte leise und schmerzvoll zusammen – sie wußte es, wem diese Thräne galt.




Eckardstein hatte einen neuen Herrn. Seit acht Tagen ruhte Graf Konrad in der Familiengruft und sein jüngerer Bruder hatte das Majorat angetreten. Der junge Offizier, der bisher immer nur in seiner Garnison gelebt hatte und mit Ausnahme jenes kurzen Besuches im Frühjahr den väterlichen Gütern fern geblieben war, sah sich nun plötzlich vor eine ganz neue Aufgabe und in völlig neue Verhältnisse gestellt. Da war es ein Glück, daß ihm sein Oheim und ehemaliger Vormund zur Seite stand, der selbst Gutsherr war und jetzt seinen Aufenthalt verlängerte, um den Neffen mit Rath und That zu unterstützen.

Dem trüben Nebelwetter der letzten Woche war ein klarer milder Herbsttag gefolgt. Der Sonnenschein lag hell auf den ausgedehnten Forsten, die sich zwischen Odensberg und Eckardstein hinzogen und größtentheils zu der letzteren Herrschaft gehörten.

Auf einem der Waldwege schritten Graf Viktor und Herr von Stetten dahin. Sie hatten die Forstbestände besichtigt und waren nun auf der Rückkehr nach dem Schlosse begriffen.

„Ich würde Dir rathen, den Abschied zu nehmen und Dich ganz Deinem Eckardstein zu widmen,“ sagte Stetten. „Weshalb willst Du die Güter fremden Händen überlassen?“

„Ich bin zum Soldaten erzogen,“ wandte Viktor ein, „und verstehe sehr wenig von der Landwirthschaft.“

„Das lernt sich mit einigem guten Willen, und wie mir scheint, hängst Du gar nicht so sehr am bunten Rock, um den Verzicht darauf als ein Opfer zu empfinden. Warum gehorchen wollen, wenn man Herr sein kann auf eigenem Grund und Boden? Oder hast Du sonst etwas gegen Eckardstein?“

„Ich? Nicht im geringsten!“

„Dein letzter Besuch im Frühjahr mag Dir freilich peinliche Erinnerungen hinterlassen haben,“ warf Herr von Stetten hin. „Es sind damals wohl bittere Scenen vorgefallen?“

„Onkel, ich bitte Dich!“ fiel der junge Graf abwehrend ein.

„Nun, ich weiß, es war in erster Linie Konrads Schuld, das zeigte mir die Art, wie er sich auf dem Sterbebett mit Dir aussöhnte. Aber eben deshalb sollte die Erinnerung doch keinen Stachel mehr für Dich haben.“

„Das ist es auch nicht! Aber ich bin fremd geworden in Eckardstein und denke vorläufig nicht daran, hierzubleiben. Einstweilen lasse ich die Güter verwalten – später wird sich ja alles finden.“ Die Worte klangen gepreßt. Der neue Majoratsherr sah ernst und niedergeschlagen aus und zeigte keine Spur mehr von dem einstigen lebensfrohen Uebermuth. Der Oheim sah ihn forschend an, äußerte aber nichts, sondern ließ den Gegenstand fallen.

„Es ist doch seltsam, daß niemand von den Odensbergern zum Begräbniß erschienen ist,“ hob er nach einem kurzen Schweigen wieder an. „Bei der Art Eueres früheren Verkehrs wäre eine persönliche Betheiligung doch wohl Pflicht gewesen, statt dessen kam nur ein höflich kühles Beileidschreiben.“

„Dernburg wird es jetzt mit den Höflichkeitspflichten nicht so genau nehmen,“ sagte Viktor ausweichend. „Er hat so viel andere Dinge im Kopfe. Die letzten Vorfälle in Odensberg waren doch sehr unangenehmer Natur.“

„Allerdings, und die Sache scheint noch nicht zu Ende zu sein. Doktor Hagenbach, den ich gestern sprach, hegt ernste Besorgnisse; bei der Unbeugsamkeit Dernburgs sei auf einen Ausgleich nicht zu hoffen. Er muß ein Eisenkopf sein.“

„In diesem Falle ist er es mit Recht. Die Kundgebungen, die am Abend des Wahltages in Odensberg statt fanden, mußten für ihn tief beleidigend sein. Sollte er es dulden, daß seine eigenen Arbeiter seine Niederlage bejubelten und seinen Gegner in allen Tonarten feierten? Dazu gehört mehr als Langmuth.“

„Man hätte einige der ärgsten Schreier entlassen und den übrigen verzeihen sollen. Statt dessen wurde gleich Hunderten gekündigt. Jeder, der sich nur irgendwie betheiligt hatte, bekam den Laufpaß. Daß jetzt die andern das Bleiben ihrer Kameraden fordern und mit einem Massenausstand drohen – das kann zu bösen Geschichten führen!“

„Auch ich fürchte es. Es hat ganz und gar den Anschein –“ Viktor verstummte plötzlich und blieb wie angewurzelt stehen. Sie waren im Begriff, die Fahrstraße zu kreuzen, die hier mitten durch den Wald führte, als in rascher Fahrt ein offener Wagen vorüberrollte, in dem zwei Damen in Trauerkleidung saßen. Die Jüngere wandte sich mit dem Ausdruck freudiger Ueberraschung um, als sie den jungen Grafen gewahrte, sie rief dem Kutscher einige Worte zu und der Wagen hielt.

„O, Graf Viktor, ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen – wenn die Veranlassung nur nicht eine so traurige wäre!“

Viktor trat mit einer tiefen Verbeugung an den Schlag, aber es sah aus, als hätte er einen Gruß aus der Ferne vorgezogen. Er berührte auch nur flüchtig die kleine Hand, die sich ihm vertraulich entgegenstreckte, und es lag eine merkliche Zurückhaltung in seinen Worten, als er antwortete: „Jawohl, eine sehr traurige Veranlassung ... Aber Sie gestatten wohl, mein gnädiges Fräulein, daß ich Ihnen meinen Onkel Herrn von Stetten vorstelle – Fräulein Maja Dernburg – Fräulein Friedberg.“

„Ich habe eigentlich nur eine frühere Bekanntschaft zu erneuern,“ sagte Stetten lächelnd zu Maja, indem er gleichfalls herantrat. „Als ich vor Jahren in Eckardstein zum Besuch war, habe ich Sie hie und da gesehen. Aus dem Kinde von damals ist freilich eine Dame geworden, die sich meiner nicht mehr erinnern wird.“

„Wenigstens nur dunkel, Herr von Stetten, aber um so deutlicher erinnere ich mich all der frohen Stunden, die ich in Eckardstein verlebt habe, mit Graf Viktor und Erich –“ die Augen des jungen Mädchens füllten sich plötzlich mit Thränen, als sie den Namen des Bruders aussprach. „Ach, in unserem Hause hat der Tod ja auch Einkehr gehalten! Sie wissen, Viktor, wann und wie unsere armer Erich starb?“

„Ich habe es erfahren,“ sagte der junge Graf leise, „und habe bitter empfunden, wieviel ich an meinem Jugendfreund verlor. – Seine Witwe bleibt vorläufig in Odensberg, wie ich höre?“

„O gewiß, wir lassen sie nicht wieder fort! Erich hat Cäcilie so sehr geliebt … sie bleibt bei uns.“

„Und – Freiherr von Wildenrod?“ Viktor that die Frage ganz unvermittelt; seine Augen hefteten sich dabei mit einem fast angstvollen Forschen auf das Gesicht des jungen Mädchens, das sich mit dunkler Gluth bedeckte.

„Herr von Wildenrod?“ wiederholte sie befangen. „Er ist ebenfalls noch in Odensberg.“

„Und bleibt vermuthlich dort?“

„Ich glaube wohl,“ sagte Maja mit einer seltsamen Beklemmung, deren sie nicht Herr zu werden vermochte und die im Grunde doch recht thöricht war. Was lag denn daran, wenn der Jugendgespiele heute schon errieth, was doch nicht mehr lange Geheimniß bleiben sollte! Aber weshalb sah er sie so düster und vorwurfsvoll an, als habe sie ein Unrecht begangen, weshalb war er überhaupt so fremd und zurückhaltend?

Herr von Stetten, der inzwischen mit Leonie gesprochen hatte, wandte sich jetzt wieder zu den beiden; es wurden noch einige Fragen und Erkundigungen ausgetauscht, dann beendete Viktor, dem der Boden unter den Füßen zu brennen schien, das Gespräch mit der Bemerkung: „Ich fürchte, Onkel, wir halten die Damen zu lange auf. Darf ich bitten, unsere beiderseitigen Empfehlungen an Herrn Dernburg auszurichten?“

„Ich werde es Papa bestellen – aber Sie kommen doch selbst nach Odensberg?“

„Wenn es mir möglich ist, gewiß,“ erklärte der Graf in einem Tone, der verrieth, daß es ihm jedenfalls nicht möglich sein werde. Er verneigte sich und trat zurück, die Damen grüßten, und in der nächsten Minute rollte der Wagen davon.

(Fortsetzung folgt.)




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