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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Erich lag auf dem Boden ausgestreckt, anscheinend leblos, mit geschlossenen Augen. Das Haupt war zurückgesunken und die Brust, der Anzug, der Teppich ringsum überströmt mit hellem rothen Blut, das noch immer in einzelnen Tropfen von den Lippen floß.

Wildenrod bedurfte keiner weiteren Erklärung, der Anblick sprach deutlich genug. Mitten in seinem vermeinten Glücke war dem jungen Ehegatten die Binde von den Augen gerissen worden. Er hatte es aus dem Munde seiner angebeteten Frau selbst hören müssen, daß sie ihn nie geliebt habe, daß sie lieber in den Tod wolle als in seine Arme. Jeder andere wäre da losgebrochen und hätte seinem Zorne, seiner Verzweiflung Luft gemacht, der arme Erich hatte weder die Kraft noch den Muth dazu. Stumm hatte er die Todeswunde empfangen und lautlos war er gegangen, um hier zusammenzubrechen und sich zu verbluten.

Einige Sekunden lang stand Oskar wie erstarrt, dann riß er an der Klingel, hob mit Hilfe des herbeieilenden Dieners den Bewußtlosen auf und befahl, den Doktor Hagenbach zu rufen, möglichst ohne Aufsehen, und den Unfall einstweilen noch zu verschweigen.

Schon nach wenigen Minuten erschien der Arzt. Er hörte schweigend den Bericht Wildenrods an, während er Puls und Herzschlag prüfte, dann richtete er sich empor und sagte leise: „Holen Sie Ihre Schwester, Herr Baron, bereiten Sie sie auf das Schlimmste vor. Ich lasse Herrn Dernburg und Maja rufen.“

„Sie fürchten –?“ fragte Oskar ebenso leise, aber Hagenbach schüttelte den Kopf.

„Hier giebt es weder Furcht noch Hoffnung mehr. Holen Sie die junge Frau – vielleicht kommt er noch einmal zum Bewußtsein.“

Eine Viertelstunde später wußte das ganze Haus, daß Erich Dernburg, den man eben noch strahlend von Glück gesehen hatte, im Sterben liege. Es war nicht möglich gewesen, die Unglückskunde zu verschweigen, sie flog wie ein Lauffeuer umher. Im Tanzsaal brach die Musik jäh ab, die Gäste standen in angstvoll flüsternden Gruppen bei einander, die Dienerschaft lief mit verstörten Gesichtern umher – es war wie ein Blitzstrahl in die Freude des Festes gefahren.

Im Schlafzimmer war die Familie um den Sterbenden versammelt. Doktor Hagenbach bemühte sich noch mit allerlei Hilfeleistungen, aber man sah es ihm an, daß er nichts mehr davon erwartete. An der Seite des Lagers kniete die junge Frau, in dem weißen Brautgewande, das sie noch nicht abgelegt hatte, als die Unglücksbotschaft kam, thränenlos, totenbleich. Sie ahnte irgend einen geheimen furchtbaren Zusammenhang.

An der anderen Seite stand Dernburg, in stummem Schmerze, die Augen unverwandt auf seinen Sohn gerichtet, dem er jedes Opfer hatte bringen wollen, um ihn sich zu erhalten und der ihm nun doch entrissen wurde. Maja schluchzte an der Brust des Vaters. Wildenrod wagte es nicht, ihr und dem Sterbebette zu nahen, er hielt sich stumm und finster im Hintergrund. Er hatte sein Spiel verloren geglaubt, jetzt sollte er es dennoch gewinnen. Der Arme, dessen Leben sich da so langsam verblutete, konnte keine Anklage mehr aussprechen, sondern nahm mit sich in das Grab, was er gehört und was ihm den Tod gegeben hatte.

Regungslos, mit geschlossenen Augen lag Erich da und schien kaum zu leiden; sein Atem ging leiser und leiser, und jetzt legte der Arzt die Hand nieder, an der er bisher die Pulsschläge gezählt hatte. Cäcilie sah es und errieth die Bedeutung.

„Erich!“ schrie sie auf. Es war ein Ruf der Verzweiflung, der Todesangst, und er schreckte den Sterbenden auf aus seiner Bewußtlosigkeit. Langsam schlug er die Augen auf, der schon vom Tode umflorte Blick suchte das geliebte Antlitz, das sich über ihn beugte, aber aus dem Blicke sprach ein so grenzenloses Weh, eine so tiefe stumme Klage, daß Cäcilie schaudernd zusammenbebte. Es war nur ein Augenblick des Bewußtseins, der letzte – noch ein tiefer Athemzug der wunden Brust, und alles war vorüber.

„Es ist zu Ende!“ sagte der Arzt leise.

Maja sank laut aufweinend an der Leiche ihres Bruders nieder, und auch über Dernburgs Wangen rollten ein paar schwere Thränen, als er die erkaltende Stirn des Sohnes küßte. Dann aber wandte er sich zu der jungen Frau, hob sie sanft empor und schloß sie in die Arme.

„Hier ist jetzt Dein Platz, Cäcilie,“ sagte er mit tiefer Bewegung. „Du bist die Witwe meines Sohnes, bist meine Tochter – Du sollst in mir einen Vater finden!“




In der Stadt, die zugleich die Bahnstation für Odensberg und dessen ganze Umgegend war, lag das Wirthshaus zum „Goldenen Lamm“, ein bekannter und besuchter Gasthof. Die unmittelbare Nähe des Bahnhofes und der lebhafte Verkehr, der stets zwischen diesem und den Dernburgschen Werken stattfand, brachte dem Hause viel Zuspruch. Alles, was von Odensberg kam oder dorthin wollte, pflegte im „Goldenen Lamm“ einzukehren, das auch hinsichtlich seiner Leistungen im besten Rufe stand.

Der ursprüngliche Besitzer war längst tot, aber seine Witwe hatte ihm einen Nachfolger gegeben in der Person des Herrn Pankratius Willmann. Dieser war einst als einfacher Gast hergekommen, in der Absicht, sich nach einer kleinen Anstellung in der Stadt umzuthun, hatte es aber dann vorgezogen, sich um die reiche Witwe zu bewerben und in das behagliche Nest zu setzen. Das war ihm denn auch geglückt und er befand sich sehr wohl dabei. Er überließ es seiner Frau, in Küche und Keller zu schaffen, und behielt sich den angenehmeren Theil der Pflichten vor, die Gäste zu unterhalten und ihnen an seinem eigenen Beispiel zu zeigen, wie vortrefflich die Küche des „Goldenen Lammes“ sei.

Es war an einem trüben, rauhen Oktobertage, der den Herbst schon recht fühlbar machte, als der kleine halbverdeckte Wagen des Doktors Hagenbach vor dem Wirthshaus hielt; der Doktor selbst aber saß mit seinem Neffen in dem behaglichen Herrenstübchen, das im oberen Stock lag und nur bevorzugten Gästen offen stand. Dagobert war zur Reise gerüstet; er sollte mit dem nächsten Zuge nach Berlin fahren, um dort die Hochschule zu beziehen. Der Aufenthalt in Odensberg schien dem jungen Mann trotz der strengen Zucht seines Onkels nicht schlecht bekommen zu sein, denn er sah weit wohler und gesünder aus als im Frühjahr.

Herr Willmann, der es sich nicht nehmen ließ, den Doktor selbst zu bedienen, hatte wehmüthig berichtet, daß es ihm allerdings besser gehe, seit er die ärztlichen Vorschriften streng befolge, daß er aber beinahe dabei verhungert sei. Hagenbach hörte ganz ungerührt zu und verordnete die Fortsetzung der bisherigen Lebensweise, ohne sich an das Entsetzen des dicken Lammwirthes zu kehren.

„Es geht heute bei Ihnen recht lebhaft zu, Herr Willmann,“ sagte er. „Da unten im Gastzimmer schwärmt es wie in einem Bienenstock. Sie haben große Wahlversammlung, wie ich höre, die ganze Sozialdemokratie der Stadt tagt bei Ihnen? Es ist jedenfalls ein gutes Zeichen, daß die Herren sich gerade das ‚Lamm‘ ausgesucht haben, das deutet wenigstens auf friedliche Absichten.“

Herr Willmann faltete die Hände und machte ein wahres Jammergesicht. „O Gott, Herr Doktor, spotten Sie nicht, ich bin in heller Verzweiflung. Ich habe im vorigen Jahre den neuen Saal herstellen lassen, zu harmloser und erbaulicher Unterhaltung, es ist der größte in der ganzen Stadt – und nun halten die Umstürzler, die Revolutionäre, die Anarchisten darin ihre Zusammenkünfte – es ist fürchterlich!“

„Wenn es Ihnen so fürchterlich ist, warum nehmen Sie dann die Umstürzler ins Haus?“ fragte Hagenbach trocken.

„Soll ich denen etwas verweigern? Sie würden mir Haus und Geschäft ruinieren, vielleicht sogar Dynamit legen!“ Der Wirth schauderte bei dieser entsetzlichen Vorstellung. „Ich habe es nicht gewagt, Nein zu sagen, als dieser Landsfeld kam und meinen Saal forderte. Ich zitterte vor diesem Menschen, ja wahrhaftig, ich zitterte an allen Gliedern.“

„Das wird dem Herrn Landsfeld sehr schmeichelhaft gewesen sein,“ meinte der Doktor und that einen kräftigen Zug aus dem vor ihm stehenden Bierglase, während Willmann zu klagen fortfuhr:

„Aber wie stehe ich nun da vor meinen anderen Gästen, sie werden es mich entgelten lassen – und was wird Herr Dernburg dazu sagen!“

„Herrn Dernburg wird es vermuthlich sehr gleichgültig sein, ob die Sozialisten im ‚Goldenen Lamm‘ oder anderswo tagen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_254.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)