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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

nicht, aber aus seinem Gesicht schien alles Blut gewichen zu sein, als sie endlich ihren Platz verließ und wieder zu ihm trat.

„Glauben Sie nun an meine Furchtlosigkeit?“ fragte sie neckend.

„Das verwegene Spiel war wirklich nicht nöthig, um mich davon zu überzeugen,“ sagte er herb, und doch athmete er auf, als er das tollkühne Mädchen wieder auf festem Boden sah. „Ein Fehltritt an jener Stelle und Sie waren verloren!“

Sie zuckte sorglos die Achseln. „Ich bin schwindelfrei und wollte einmal das schaurig süße Gefühl durchkosten dort oben zu stehen, dicht über dem Abgrund. Man fühlt da einen dämonischen Zug zur Tiefe, es ist, als müsse man sich hinabstürzen in das Verderben. Haben Sie dergleichen nie empfunden?“

„Nein,“ sagte Egbert kalt. „Man muß sehr viel – Zeit haben, um sich mit solchem Empfindungen abzugeben.“

„Die Sie für verwerflich halten?“

„Für ungesund wenigstens. Wer sein Leben zur Arbeit braucht, der weiß es auch zu schätzen und schlägt es höchstens im Dienst einer Pflicht in die Schanze.“

Die Zurechtweisung klang sehr schroff, und wenn sie von den Lippen eines anderen gekommen wäre, so hätte Cäcilie dem „Unverschämten“ wahrscheinlich wortlos den Rücken gekehrt. Hier schwieg sie wohl eine Minute lang, und dabei ruhte ihr Auge fest auf dem wettergebräunten Gesicht des jungen Mannes, das noch immer eine fahle Blässe zeigte. Dann lächelte sie wieder. „Ich danke für die Belehrung. Wir verstehen uns eben nicht, Herr Runeck.“

„Ich sagte es Ihnen ja schon … wir gehören zwei verschiedenen Welten an –“

„Und doch stehen wir so nahe beisammen auf dem Felsgipfel des Albensteins,“ spottete Cäcilie. „Uebrigens habe ich das sonderbare Vergnügen nun lange genug genossen. Ich steige jetzt hinunter.“

„So erlauben Sie mir, Sie zu begleiten! Der Abstieg ist weit gefährlicher als der Aufstieg, und ich könnte es vor Erich nicht verantworten, Sie allein gehen zu lassen.“

„Vor Erich? Ja so!“ Ihre Lippen kräuselten sich hochmüthig bei der Erwähnung ihres Bräutigams; dann warf sie noch einen Blick nach dem Kreuze hinauf, wo die lose herabhängenden Enden des Schleiers im Morgenwind flatterten. „Das alte Wetterkreuz hat wohl noch nie ein solches Gewand getragen! Ich schenke es den Geistern des Albensteins, vielleicht öffnen sie mir zum Dank die Felsentiefen und lassen mich die versunkenen Schätze schauen.“

Mit hellem Auflachen wandte sie sich zum Gehen. Schweigend schritt Runeck voran. Er hatte recht, die größere Gefahr lag im Abstieg.

Von Zeit zu Zeit, bei besonders bedenklichen Stellen mahnte er mit kurzen Worten zur Vorsicht oder bot mit einer Bewegung des Arms seine Hilfe an, aber sie wurde nicht angenommen. Seine schöne Begleiterin schritt auf dem schwindelnd steilen Pfade so sorglos dahin wie auf dem bequemsten Wege. Ihr leichter Fuß trug sie über das Geröll, wo Egberts wuchtiger Tritt keinen Stützpunkt fand, und wo es galt, zu klettern oder zu springen, schwang sie sich mit Hilfe ihres Bergstocks wie eine Elfe von Stein zu Stein. Es lag eine berückende Anmuth in jeder Bewegung der schlanken weißen Gestalt, zugleich jedoch jenes kecke verwegene Spiel mit der Gefahr, das jede Vorsicht außer acht läßt.

Sie hatten den größten Theil des Weges zurückgelegt, schon schimmerte das Grün der kleinen Bergwiese herauf, da setzte Cäcilie unvorsichtig wieder den Fuß auf loses Geröll. Allein diesmal gab es nach und rollte in die Tiefe, sie verlor den Halt, schwankte, strauchelte – nun der furchtbare Augenblick des Sturzes, ein lauter Angstschrei, dann wurde es dunkel vor ihren Augen.

Aber in derselben Sekunde wurde sie auch gehalten. Den Bergstock von sich schleudernd, hatte Egbert sich blitzschnell umgewandt, und, mit Riesenkraft gegen die Klippe gestemmt, fing er das bebende Mädchen auf und schloß es fest in seine Arme.

Cäcilie hatte kaum eine Minute lang das Bewußtsein verloren; schon in der nächsten hoben sich ihre großen dunklen Augen scheu empor zu dem Antlitz ihres Retters, das sich über sie neigte. Sie sah, daß es totenbleich war, sah den Ausdruck verzehrender Angst in den sonst so kalten Zügen und fühlte das wilde stürmische Pochen der Brust, an der ihr Haupt ruhte. Sie war in Gefahr gewesen, aber auf seinem Gesicht stand die Todesangst!

So verharrten sie eine Weile regungslos, dann ließ Runeck langsam die Arme sinken. „Stützen Sie sich auf meine Schulter,“ sagte er leise. „Ganz fest – blicken Sie nicht rechts noch links, nur auf den Weg vor sich – ich halte Sie.“

Er hob den Bergstock auf und legte dann stützend den rechten Arm um sie. Cäcilie gehorchte willenlos; die Gefahr, die ihr jetzt erst zum Bewußtsein gekommen war, hatte ihren Widerstand gebrochen, sie bebte noch an allen Gliedern und der Kopf schwindelte ihr. So stiegen sie langsam abwärts. Die zarte Gestalt konnte für den riesigen Mann kaum eine Last sein, und doch ging sein Athem schwer und schnell und in seinem Gesicht brannte eine dunkle Gluth.

Endlich war der feste Boden erreicht, sie standen auf der Bergwiese. Sie hatten während des ganzen Weges kein Wort gesprochen, jetzt aber richtete sich Cäcilie empor. Sie war noch bleich, doch sie versuchte zu lächeln, als sie ihrem Retter die Hand bot.

„Herr Runeck – ich danke Ihnen!“

Es war ein eigener Klang in den Worten, etwas wie warmer Herzenston, wie überquellende Dankbarkeit, allein Egbert berührte nur flüchtig die dargebotene Hand.

„Bitte, gnädiges Fräulein! Ich hätte jedem, den ich in solcher Gefahr gesehen, den gleichen Dienst geleistet. Erholen Sie sich jetzt von dem Schrecken, dann werde ich Sie bis zum Kronswalde geleiten, wo ja wohl Ihr Wagen wartet. Es ist noch weit bis dahin.“

Cäcilie sah ihn befremdet, fast bestürzt an. War das noch derselbe Mann, der sich vorhin in Todesangst über sie gebeugt, dessen ganzes Wesen in wilder fieberhafter Aufregung gebebt hatte, als er sie bergabwärts mehr trug als führte? Da stand er vor ihr mit den unbewegten Zügen und sprach mit der alten kühlen Gelassenheit, als sei in seiner Erinnerung die letzte Viertelstunde ausgelöscht. Aber diese war doch dagewesen, ein Paar dunkler Augen hatte hineingeblickt in eine sonst streng verschlossene Tiefe – sie wußten jetzt, was dort sich barg.

„Halten Sie mich für so feig, daß ich nach einer überstandenen Gefahr noch stundenlang zittere?“ fragte Cäcilie leise. „Ich bin nur müde von dem beschwerlichen Wege und die Füße schmerzen mich; ich muß mich eine Viertelstunde ausruhen.“

Sie ließ sich nieder unter einer hohen Tanne, deren riesige moosübersponnene Wurzeln einen natürlichen Ruhesitz boten. Sie war erschöpft und übermüdet, man sah es, aber ihr Begleiter hatte kein Wort des Bedauerns dafür. Er schien nur den einen Wunsch zu hegen, seiner Führerrolle sobald als möglich ledig zu sein.

Die Bergwiese leuchtete mit ihrem sonnigen Grün hell in dem Waldesdunkel. Hinter ihr stieg der Albenstein empor, nach vorn öffnete sich ein weiter Blick in die Berge hinaus. Die Landschaft hatte nichts von der heiteren Schönheit des Südens, von der überwältigenden Großartigkeit der Alpenwelt, aber es ruhte ein eigener Zauber darauf, träumerisch und schwermüthig wie ihre Sagenwelt.

Tief unten lagen die Thäler in bläulichem Schatten, während die Höhen ringsum von hellem Sonnenschein überfluthet waren, und über Thäler und Höhen breitete sich endlos das grüne Waldmeer, aus dem nur hier und da eine Felswand kahl emporstieg oder in weißem Gischt ein Wildbach herabschäumte. Geheimnißvoll wie aus weiter Ferne kam das Rauschen der Bäume herangezogen, immer mächtiger anschwellend und dann wieder sinkend, ersterbend mit dem Windeshauch.

Und noch ein anderes Tönen und Klingen trug der Wind aus der Tiefe empor. Es war ein Sonntagmorgen und die Glocken all der kleinen Walddörfer drunten riefen zum Gottesdienst. Ueberall ihr schöner Klang, der jetzt klar und voll auftönte, jetzt leise verwehte, mit dem Waldesrauschen sich mischend.

Cäcilie hatte den Hut abgenommen und lehnte sich an den Stamm des Baumes. Egbert stand einige Schritte entfernt, aber seine Augen hingen an ihr wie von einer unwiderstehlichen Macht festgehalten; es half nichts, daß er sie gewaltsam losriß, sie kehrten immer wieder zurück zu der schlanken Gestalt in dem einfachen Lodenkleide, zu dem glänzenden Haar, das heute nur leicht zurückgestrichen war und, von einem seidenen Netze gehalten, lose in den Nacken fiel. Es war eine ganz andere Erscheinung, als Egbert sie bisher gekannt, so viel lieblicher – so viel gefährlicher!

Minutenlang hatte das Schweigen gedauert, nun hob Cäcilie den Blick empor und fragte leise: „Und Sie schelten mich nicht einmal?“

„Ich? Wie käme ich dazu?“

„Doch, Sie haben ein Recht, mir zu zürnen, ich brachte mit meiner Thorheit auch Sie in Lebensgefahr. Um ein Haar hätte ich Sie mit in die Tiefe gerissen. Ich – ich schäme mich.“

Das kam bittend, fast schüchtern heraus – es war ein ganz ungewohnter Ton in diesem Munde. Auf Egberts Stirn erschien eine dunkle Röthe, doch seine Stimme behielt den eisigen Klang.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_134.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)