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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Gewiß, ich komme sogleich. – Mertens, Sie gehen ja wohl heute abend nach Odensberg?“

„Ja, Herr Ingenieur, ich will den Sonntag bei meinen Kindern verleben.“

„Gut, so nehmen Sie –“ Runeck hielt inne, und der Alte sah ihn verwundert an. Es war ja gerade, als ob der Herr Ingenieur mühsam nach Athem ringen müsse. Doch das dauerte nur eine Sekunde, dann fuhr dieser mit eigenthümlich rauher Stimme fort: „Nehmen Sie das Tuch hier mit und geben Sie es im Herrenhause ab. Baroneß Wildenrod hat es verloren.“

Mertens nahm das dargereichte Tuch und steckte es in seine Tasche, während Egbert zu den Arbeitern zurückkehrte, die auf sein Erscheinen warteten. Er gab das Zeichen, und die „Springwurzel“ der neuen Zeit that ihre Schuldigkeit. Unter dumpfen Schlägen spaltete sich der noch unversehrte Fels, der so hoch und trutzig dagestanden. Er erzitterte, wankte und stürzte dann, Bäume und Gesträuch mit sich reißend, in Trümmern zu Runecks Füßen.




„Wie ich Ihnen sage, mein Fräulein, die Nerven sind eine bloße Angewohnheit und zwar eine der allerschlimmsten. Seit die Damen die Nerven erfunden haben, sind wir Aerzte die geplagtesten Menschen auf der ganzen Welt. Es mag ja Ehemännern gegenüber eine recht nützliche Erfindung sein, aber ein hartgesottener Junggeselle wie ich hat nicht den mindesten Respekt davor.“ Mit diesen Worten schloß Doktor Hagenbach eine längere Auseinandersetzung, die im Zimmer des Fräulein Friedberg stattfand. Leonie, die blaß und angegriffen aussah, hatte um seinen ärztlichen Besuch bitten lassen und sich auf seine Fragen für „durch und durch nervös“ erklärt. Dergleichen pflegte den Doktor aber stets in Harnisch zu bringen und auch heute rief es sofort jenen Ausfall hervor, den das Fräulein mit einem Achselzucken beantwortete.

„Ich glaube, Herr Doktor, Sie sind der einzige Arzt, der das Dasein der Nerven ableugnet,“ versetzte sie. „Ich dächte, die Wissenschaft –“

„Was die Wissenschaft ‚Nerven‘ nennt, hat meine vollkommene Hochachtung,“ wurde sie von Hagenbach unterbrochen. „Was die Damen dafür ausgeben, existiert gar nicht. Warum lassen Sie sich nicht von dem Sanitätsrath in der Stadt behandeln, der vor jedem einzelnen Nerv seiner Kranken eine tiefe Verbeugung macht, oder von einem meiner jungen Kollegen hier in Odensberg, die auch noch mit einer gewissen Schüchternheit an die Geschichte herangehen. Wenn Sie sich in meine Hände geben, geschieht es auf Gnade und Ungnade, das wissen Sie doch.“

„Ja, das weiß ich!“ Die Antwort klang ziemlich gereizt. „Und nun bitte ich um Ihre Verordnungen.“

„Die Sie sich natürlich vornehmen, nicht zu befolgen. Aber das hilft Ihnen nichts, ich übe strenge Aufsicht. Zunächst also, die Luft in Ihrem Zimmer taugt nichts, sie ist viel zu dumpf und schwer, öffnen wir vor allen Dingen die Fenster.“

„Ich bitte,“ widersprach Leonie mit Heftigkeit. „Wir haben scharfen Nordwind, den ich durchaus nicht vertrage.“

„Wundervolle Luft!“ sagte Hagenbach, indem er ohne weiteres an das Fenster ging und beide Flügel aufsperrte. „Sind Sie gestern im Freien gewesen?“

„Nein, wir hatten ja Sturm und Regen.“

„Dafür giebt es Regenschirme und Regenmäntel, die ich unbedenklich gestatte. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Zögling – da unten im Park segelt Fräulein Maja ganz lustig gegen den Sturm, und das winzige Ding, der Puck, segelt ebenso vergnügt mit, obgleich er beinahe fortgeweht wird.“

„Maja ist jung, ein glückliches Kind, das noch nichts kennt als Lachen und Sonnenschein,“ sagte Leonie mit einem Seufzer. „Sie weiß noch nichts von Trauer und Thränen, von all dem Schweren und Bitteren, das vom Schicksal uns auferlegt wird und unsere Kraft zerstört.“ Ihr Auge suchte dabei unwillkürlich den Schreibtisch, über dem eine größere Photographie in dunklem Rahmen den Hauptplatz an der Wand einnahm. Es mußte sich wohl irgend eine theure und schmerzliche Erinnerung an das Bild knüpfen, denn es war mit einer Trauerschleife von schwarzem Flore geschmückt, und eine Schale voll duftender Veilchen stand wie eine Opfergabe zu seinen Füßen.

Den scharfen Augen des Doktors war jener Blick nicht entgangen, er trat wie zufällig an den Schreibtisch und begann die dort befindlichen Bilder zu mustern, während er trocken bemerkte: „Schicksale hat jeder Mensch, aber sie tragen sich weit besser mit einem gesunden Humor als mit Trauer und Thränen. – Ah, da ist ja das Bild von Fräulein Maja – sehr ähnlich! Und daneben ihr Bruder – merkwürdig, daß er dem Vater so gar nicht gleicht. – Wen stellt denn diese Photographie vor?“

Er wies auf das Bild mit der Trauerschleife. Die unerwartete Frage schien Leonie in Verlegenheit zu setzen, sie erröthete und antwortete mit etwas unsicherer Stimme: „Einen – einen Verwandten!“

„Ihren Herrn Bruder vielleicht?“

„Nein, einen Vetter – ganz entfernte Verwandtschaft.“

„So?“ fragte Hagenbach gedehnt. Die entfernte Verwandtschaft schien ihn zu interessieren, er besah sich die Züge des blassen und schmächtigen jungen Mannes mit den glattgescheitelten Haaren und den schwärmerisch aufgeschlagenen Augen sehr genau und fuhr dann in gleichgültigem Tone fort: „Das Gesicht hat etwas Bekanntes für mich, ich muß es schon irgendwo gesehen haben.“

„Da sind Sie im Irrthum.“ Die Stimme Leonies bebte hörbar. „Er weilt längst nicht mehr unter den Lebenden. Schon seit Jahren deckt ihn das Grab: der heiße Wüstensand Afrikas.“

„Gott hab’ ihn selig!“ sagte der Doktor mit empörender Gleichgültigkeit. „Aber wie ist er denn nach Afrika und in den Wüstensand gerathen? Als Forscher vielleicht?“

„Nein, er starb als Märtyrer einer heiligen Sache. Er hatte sich einer Heidenmission angeschlossen und erlag dem Klima.“

„Da hätte er auch was Gescheiteres thun können!“

Leonie, die eben in tiefster Rührung ihr Taschentuch an die Augen führte, hielt entrüstet inne. „Herr Doktor!“

„Ja, ich kann mir nicht helfen, mein Fräulein. Ich halte es zunächst für sehr überflüssig, die schwarzen Heiden da hinten in Afrika zu bekehren, während so viele weiße Heiden hier in Deutschland herumlaufen, die nichts vom Christenthum wissen wollen, obgleich sie getauft sind. Wenn Ihr Herr Vetter als wohlbestallter Pfarrer seiner Gemeinde das Wort Gottes gepredigt hätte –“

„Er war nicht Theologe, sondern Lehrer,“ warf das Fräulein gereizt ein.

„Gleichviel, dann hätte er der lieben Schuljugend die Gottesfurcht beibringen sollen. Die Rangen haben heutzutage wenig genug davon.“

Leonies Gesicht verrieth, wie empört sie über diese Ausdrucksweise war, die Antwort jedoch blieb ihr erspart, denn in diesem Augenblick ließ sich ein schüchternes Klopfen an der Thür hören, und gleich darauf trat Dagobert ein, war aber kaum imstande, seinen Gruß anzubringen, denn der Onkel rief ihm mit seiner dröhnenden Stimme entgegen: „Heute wird kein Englisch getrieben! Fräulein Friedberg hat sich eben für ‚durch und durch nervös‘ erklärt, und die Nerven und die Grammatik vertragen sich nicht.“

Dem jungen Manne mußte wohl sehr an dem Unterricht gelegen sein, denn er wurde bei dieser Ankündigung ganz bestürzt. Leonie aber sagte mit aller Bestimmtheit: „Bitte, bleiben Sie, lieber Dagobert! Unsere englischen Studien sollen nicht darunter leiden, wir halten die gewohnte Stunde. Ich hole nur unsere Bücher.“ Damit stand sie auf und ging ins Nebenzimmer.

Der Doktor sah ihr ärgerlich nach. „Ich habe noch nie eine so widerspenstige Patientin gehabt! Immer der verkörperte Widerspruch! Höre, Dagobert, Du weißt ja hier ziemlich genau Bescheid – was ist das für ein Mensch, der dort drüben hängt?“

„Hängt? Wo?“ fragte Dagobert entsetzt, indem er schaudernd nach den Bäumen des Parkes hinüberblickte.

„Nun, an einen Strick brauchst Du nicht gleich zu denken,“ fuhr ihn der Onkel an. „Ich meine das Bild da über dem Schreibtisch, mit der verrückten Trauer- und Veilchenumrahmung.“

„Das ist ein Verwandter des Fräuleins, ein Vetter –“

„Ja wohl, ein ganz entfernter! Das hat sie mir auch gesagt, ich glaube es aber nicht – es wird wohl der selig verstorbene Bräutigam sein. Langweilig genug sieht er dazu aus. Weißt Du vielleicht seinen Namen?“

„Das Fräulein hat ihn mir einmal genannt – Engelbert.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_103.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)