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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

erzählte der Superintendent als Neuigkeit, daß der Magister Tinius nicht mehr in Zeitz, sondern nur zwei Stunden von Ilmenau in dem Dorfe Ascherode wohne. „Der schreckliche Pfarrer in unserer Nähe?“ fragte schaudernd die Frau vom Hause. Die Kinder erkundigten sich nun, was für eine Bewandtniß es mit dem schrecklichen Pfarrer habe, und darauf begann der Superintendent von Tinius zu erzählen. Eine seiner Geschichten möge hier folgen:

Vor dem Mordanfall auf die Kunhardt, im Winter des Jahres 1812 kam Tinius abends nach 7 Uhr in das Haus des Domänenpächters Amtmann N., den er persönlich kannte und schon mehrmals besucht hatte. Er kam wenige Tage vor dem Termine, an welchem N. sein halbjähriges Pachtgeld zu zahlen hatte, und es war wahrscheinlich, daß die hierzu nöthige Geldsumme bereits vorräthig lag. Als Zweck seines Besuches gab Tinius an, er wünsche sich nach den Verhältnissen eines benachbarten Gutsbesitzers zu erkundigen, der eine ihm bekannte reiche Dame um ein bedeutendes Darlehn gebeten habe. Es waren bereits dunkle Gerüchte über das Treiben des unheimlichen Pfarrers in das Publikum gedrungen, von denen auch N. gehört hatte. Aber wie die meisten schenkte er ihnen keinen Glauben, denn diesen wohlgestellten Mann, diesen ausgezeichneten Kanzelredner und pflichtgetreuen Beamten für einen Räuber zu halten, schien doch gar zu ungeheuerlich. N. gab die verlangte Auskunft, behielt den Pfarrer zum Abendessen, und als dieser aufbrechen wollte, lud er ihn ein, über Nacht zu bleiben, da es zu spät sei, um noch nach dem zwei Stunden entfernten Poserna zu gehen. Tinius nahm die Einladung dankend an. Der freundliche Wirth geleitete seinen Gast in dessen Schlafzimmer, worauf dieser, wie um die Höflichkeit zu erwidern, sagte: „Nun muß ich auch sehen, wo Sie schlafen!“ Er ging mit dem Amtmann in dessen gegenüber auf der andern Seite des Flurs liegendes Schlafzimmer, wo sein Auge rasch die Oertlichkeit überblickte und wahrnahm, daß des Amtmanns Pult in demselben Raume stand und daß auch das Nachtlicht bereits angezündet war.

Mitternacht kam heran. Im Hause war alles still. Da öffnete sich leise die Thür zu des Amtmanns Schlafgemach, eine dunkle Gestalt schlich herein und näherte sich mit dem unhörbaren Schritte eines Raubthieres dem Bette, auf die tiefen Athemzüge des Schlafenden horchend. Da schlug im Nebenzimmer ein Hund laut an, der Amtmann erwachte und sah vor sich den Magister Tinius, in der rechten Hand einen Hammer, in der anderen einen großen Nagel haltend; an seinem linken Arme hing ein Blumenkranz. Erschrocken, doch rasch sich ermannend, sprang N. aus dem Bette, packte Tinius an der Brust und drückte ihn an die Wand. „Hab’ ich Dich, Schurke?“ schrie er ihn an.

Tinius blieb ruhig und sagte: „Kommen Sie doch zur Besinnung, lieber N.! Was denken Sie denn von mir?“

„Daß Du ein Räuber, ein Mörder bist! Was soll der Hammer in Deiner Hand?“

„Mein Gott, so besinnen Sie sich doch,“ sprach Tinius mit beruhigender Stimme weiter. „Morgen ist ja Ihr Geburtstag, und hier, sehen Sie diesen Blumenkranz, den wollte ich über Ihr Bett nageln, damit er Ihnen beim ersten Erwachen meinen Geburtstagsgruß brächte!“

„Sie lügen, Herr Magister,“ entgegnete der Amtmann, ihn gleichwohl von seinem festen Griff befreiend. „Die Geschichte da mit dem Kranze glaube ein anderer! Wie konnten Sie denken, daß ich nicht erwachen sollte, während Sie dicht neben mir einen Nagel in die Wand schlügen?“

„Nun, sehen Sie,“ sagte Tinius lächelnd, „für diese Frage giebt es eine einfache scherzhafte Lösung. Sie äußerten, als wir an Ihrem Tische saßen, Ihr Schlaf sei so gesund und fest, daß man eine Pistole an Ihrem Bette losschießen könnte, ohne Sie zu erwecken.“

„Und was für einen Grund hatten Sie, diesen verdächtigen Hammer bei sich zu führen?“ fragte der von seinem Mißtrauen durchaus nicht befreite Amtmann weiter.

„Das beruht auf einem sehr harmlosen Zufall,“ antwortete Tinius, „Sie wissen ja, ich bin ein halber Tischler und besorge die an meinen zahlreichen Büchergestellen vorkommenden Ausbesserungen meist eigenhändig. ‚Die Axt im Haus erspart den Zimmermann‘, sagt unser Schiller. Vorgestern brauchte ich zu einem solchen Zwecke den Hammer, wollte ihn dann beiseite legen, und da gerade kein bequemer Platz hierzu war, steckte ich ihn einstweilen in die Tasche des neben dem Bücherregal hängenden Mantels, wo ich ihn vergaß und erst heute abend entdeckte. Ohne diesen Zufall hätte ich den Kranz heimlich auf den Tisch vor ihrem Bette gelegt.“

„So ganz ziemlich leidlich präpariert! wie mein lateinischer Lehrer zu sagen pflegte,“ brummte der Amtmann verdrießlich. „Nun aber, bitte, da drüben ist Ihr Zimmer. Und morgen früh –“

„Werde ich das Vergnügen nicht haben,“ unterbrach ihn Tinius, „den Geburtstagsgruß zu wiederholen, den Ihnen dieser Kranz in meinem Namen bringen sollte, denn die aufgehende Sonne wird mich auf dem Wege nach Poserna finden, wo ich schon früh am Tage Amtsgeschäfte zu erledigen habe. Schlafen Sie wohl, und – – ja, Sie haben mir doch recht weh gethan!“ –

Man möchte kaum glauben, daß die Geschichte sich so zugetragen hat, wie sie hier mitgetheilt ist. Wie hätte Tinius, wenn es ihm wirklich gelang, den Amtmann zu töten, zu berauben und dann unbemerkt aus dem Hause zu entkommen, den Kopf wieder aus der Schlinge ziehen wollen, da ihn das Hauspersonal doch jedenfalls kannte? Aber freilich, Tinius wagte viel! Indessen ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß diese Geschichte von dem Amtmann N. eine sagenhafte Fortbildung und Ausbildung desjenigen Vorfalls ist, der sich laut gerichtlicher Feststellung im Hause des Amtmanns Hoffmann in Suhl zutrug und den wir oben erzählt haben.

Ernst und nachdenklich saß im Pfarrhaus zu Ilmenau die Zuhörerschaft, als der Superintendent seine Erzählung über Tinius beendet hatte. Auf dem Kirchthurm schlug es 9 Uhr. Da erklang die Glocke der sich öffnenden Hausthür und man hörte auf dem Hausflur Schritte, die näher kamen. Der Superintendent öffnete die Thür, und ein alter Mann mit eisgrauem Haar, aber aufrechter Haltung, ärmlich, doch sauber gekleidet, trat ins Zimmer.

„Wer sind Sie?“ fragte der Superintendent.

„Ich bin der Magister Tinius“ – –

Schwabe erzählt: Was wir bei diesen Worten empfanden – wie könnte ich es beschreiben! Eine Mischung von Schreck, Grauen und höchstem Interesse durchrieselte uns, als wir den einst so gefürchteten und auch jetzt noch mit ängstlicher Scheu gemiedenen merkwürdige Mann vor uns im Zimmer stehen sahen. Die Tante hatte sich rasch von ihrem Sitze erhoben, bleich vor Schreck; der Onkel war einen Schritt vor dem noch in der Thür stehenden Greis zurückgetreten. „Ich bin der Magister Tinius,“ wiederholte dieser „und bitte um Verzeihung, wenn ich störe. Ich habe ein kleines Anliegen an Sie, Herr Superintendent.“

Dies Anliegen bestand darin, daß der Superintendent im Nachlaß eines kurz zuvor verstorbenen Geistlichen seiner Diözese nach einem seltenen Buche forschen sollte, das Tinius dem Verstorbenen einst geliehen hatte. Der Superintendent wies ihn mit diesem Anliegen an den Rechtsanwalt, der den betreffenden Nachlaß regelte, und fuhr dann fort:

„Denken Sie noch diese Nacht nach Ascherode zurückzugehen?“

„Nein,“ versetzte Tinius, „dazu reichen meine Kräfte nicht mehr aus. Ich habe vorige Woche mein fünfundsiebzigstes Lebensjahr angetreten. Leider bin ich augenblicklich nicht im Besitze der Mittel, um ein Nachtquartier zu bezahlen. Sollten Sie mir ein auch noch so bescheidenes Kämmerchen zum Schlafen gewähren, so wäre ich äußerst dankbar.“

„Ich bedaure, Herr Magister! Sie begreifen.“

„Ich begreife, Herr Superintendent!“ erwiderte Tinius lächelnd und nach dem Thürschloß greifend.

Der Superintendent schrieb eine Anweisung an den Gastwirth des Ortes und übergab sie dem Magister, damit er sie im Gasthause vorzeige und dort übernachte.

„Ach wie froh bin ich,“ sagte einer der Knaben zum Onkel, „daß Du den gefährlichen Mann nicht im Hause behalten hast! Er hatte gewiß Schlimmes im Sinne!“

„Das glaube ich nicht,“ entgegnete der Onkel, „und gefährlich ist er gewiß nicht mehr. Aber es widerstrebte mir doch, einem Manne, der sich mit so vielen und großen Verbrechen beladen hat, mein Haus zü öffnen und Gastfreundschaft zu erweisen, die ich sonst so gern übe.“ –

Ueber das Ende des Magisters Tinius scheint nichts Näheres bekannt geworden zu sein, als daß Verwandte von ihm, die als Schäfer in der Provinz Brandenburg lebten, ihm eine Zufluchtsstätte boten und daß er bei ihnen gestorben ist.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_092.jpg&oldid=- (Version vom 8.6.2020)