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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

unvermittelt wieder anfangen, ihre Muttersprache zu reden, und daß sie ihre Kinder in einer Sprache segnen, die diese nicht mehr verstehen. Auch in Fieberphantasien soll zuweilen die Ursprache des Volkes wieder die Oberhand gewinnen – eine psychologisch gewiß nicht gleichgültige Wahrnehmung.

Eine Scene von einem drolligen Durcheinander erlebte ich in einem halbverdeutschten Dorfe. Eine Woika, eine wendische Großmutter, ereiferte sich auf wendisch über ihren ungezogenen Enkel, einen etwa sechsjährigen Jungen mit einem für diese Gegend ungewöhnlich muthwilligen Gesicht. Der Junge war nicht zu bewegen, sein Unrecht einzusehen, und schwieg. Da ergriff der Vater, der Sohn der Woika, einen „echten“ Ochsenziemer, also keinen von Leder, und hieb mit kräftigen deutschen Begleitworten seinem Sprossen die Jacke voll. Der Woika ging der väterliche Zorn zu weit, sie wiegelte auf deutsch ab und bat schließlich um Einhalt; der Enkel nahm das Mitleid schnell wahr und bat seinerseits auf wendisch die Großmutter um Hilfe. Der Vater prügelte auf deutsch weiter, die Woika schimpfte erst wendisch, dann deutsch über Unbarmherzigkeit, und endlich beendigte der väterliche Strafrichter den Auftritt mit einer wendischen Bemerkung, welche die „Schwachheit der Frauen im allgemeinen“ zum Gegenstand hatte. Es war, als hätten sich die drei Betheiligten förmlich verabredet, nie in derselben Sprache zu antworten, als benutzten sie diesen Gegensatz, um ihren Meinungsverschiedenheiten einen recht bestimmten Ausdruck zu geben.

Einen höchst überraschenden Eindruck machen öfters auch Sprachrückfälle in längst germanisierten Dörfern. Da sitzt ein halbes Dutzend Bauern plaudernd beisammen in der Schenke. Irgend ein Zwiespalt giebt Anlaß zum Streit, man wird heftiger, es bilden sich Parteien – soweit bewegt sich alles in den überall herkömmlichen Formen. Das Eigenartige kommt erst, wenn auf einmal die ganze Gesellschaft in eine wildfremde Sprache fällt. Man möchte sich dann fragen, ob man nicht plötzlich aus der Dresdener Pflege einige hundert Meilen hinter Warschau versetzt worden sei! Einige dazwischengeworfene wendische Fluchworte bilden gewöhnlich die Vorläufer, und dann fährt die slavische Sprache wie aus einem lang verstopften Quell hervor und schießt mit Zischlauten durcheinander wie Zündraketen. Mit der Sprache wechselt gewöhnlich auch das Getränk: der „Palenz“, der Branntwein, tritt an die Stelle des Bieres, und die Bierseidel sollen häufig nur noch dazu da sein, um die Härte der Wendenschädel einer Probe zu unterziehen.

Wie der Wende im Spreewald lebt und sich häuslich einrichtet, das ist oft beschrieben; der Oberlausitzer, der sächsische Wende zeigt in seinen Bauerngehöften keinen wesentlichen Unterschied vom obersächsischen Bauer. Fremdartig sind uns Deutschen nur die Heidedörfer. In Sprey z. B. finden sich Bauernhöfe, die man für Indianerheimstätten halten könnte. Unser letztes Bildchen zeigt noch eines der stattlicheren Güter; daneben giebt es Hütten, deren Dachfirsten eingedrückt sind wie der Rücken einer alten Mähre, deren Fenster verschoben und so klein sind, daß man kaum den Kopf hindurchzustecken vermag, und deren Thüren für ein Zwergengeschlecht eingerichtet zu sein scheinen. Die ganze Giebelbreite mancher Bauernhäuser übersteigt kaum drei Meter. In dieser kümmerlichen Enge der Wohnungen weichen die Sserbjo, wie sich die Wenden selber nennen, von ihren Stammverwandten, den Tschechen, vollständig ab. Die letzteren bauen ihre Bauernhäuser groß und behäbig mit hohen Dächern und tiefen Zimmern, sie wissen sich überhaupt sehr behaglich einzurichten, während der Wende, wenigstens in der Heide, wo doch gar kein Holzmangel ist, sich drückt, bückt und schmiegt, als suche er recht arm, noch ärmer, als er ist, zu erscheinen.

Im Innern der Hütten sieht’s meist etwas freundlicher aus; das gesammte Hausgeräth macht einen bäuerlich alterthümlichen Eindruck, angehaucht von einer kulturgeschichtlichen Patina. Man glaubt in den Schnörkeln an den Enden der Stangen, die um den Ofen laufen, oder an den Bettpfosten uralte Wendengötter zu erblicken. Sehr angenehm fällt die naive Freude an entschiedenen Farben ins Auge.

Ein Viertel vom ganzen Zimmer nimmt der „Kachelke“, der Ofen, ein. Er besteht meist aus farbigen Hohlkacheln, die nicht nur freundliche Wärme, sondern auch gemüthliche Lichter um sich verbreiten. Das haubenförmige, ungeschlachte Ofengebilde macht den Eindruck eines freundlichen Hausgötzen, und so mag er wohl auch den Hausbewohnern erscheinen. Einen „himmlisch schönen“ Platz für die rauhe Winterszeit hat sich der Wende zwischen Ofen und Wand eingerichtet. Hier träumt er auf hölzerner Pritsche, läßt die Katzen um sich schnurren, und darunter schmiegen sich die Jagdhunde. Selbst die Hausfrau, die sonst alle Räume um den Ofen in Beschlag nimmt, läßt diesen Platz unangetastet, er gehört ein für allemal allein dem Hausherrn.

Neben dem Ofen ist der Hauptgegenstand der Zimmereinrichtung das Ehebett, oft buntblumig bezogen und mit Bauernmalereien versehen. Das Bett ist überhaupt ein Stolz der slavischen Hausfrau; in Böhmen sind es wahre bäuerliche Luxusungethüme, die auf den Fremden einen fast beängstigenden Eindruck machen. Ein anderer Stolz der Wendenfrau ist das Tellerbrett. Hier glitzert’s und schimmert’s bunt und anheimelnd von hochrothen Rosen, tiefblauen Vergißmeinnicht, schwefelgelben Primeln, und die Kränze um die Schüsseln sind in einem so fetten Grün gehalten, wie es sonst in der ganzen Heide kaum vorkommt. Der „Spiehel“ (Spiegel) scheint nur um seiner selbst willen da zu sein, er hängt in der Regel so hoch und unbequem, daß niemand ohne einige Mühe sein liebes Ich darin wiederfindet.

In diesen engen niedrigen Räumen haust ein großes gesundes Geschlecht. Man ist oft verwundert, was für schöne Gestalten unter den niedrigen Thüren hervorkriechen, die Frauen stark und breithüftig, die Männer hochschulterig und schlank. Vielleicht verdanken sie das nur dem Festhalten an ihrer alten und gesunden Bauernkost, die in Milchhirse, Hafergrütze, Heidekornbrot und Bohnen besteht. Hier und da sind die Spuren des Branntweintrinkens unter den Männern unverkennbar, es muß aber zu ihrer Ehre gesagt werden, daß sie immer gern zum Bier übergehen, wenn sie wohlhabender geworden sind. Die Armuth zwingt ihnen das billige Genußmittel auf, von dem sie recht wohl wissen, wie sehr es sie schädigt. „Palenz je Walenz“ lautet ein wendisches Sprichwort, das heißt „der Branntwein ist ein Umwerfer“, und damit meint der Wende, daß er nicht nur Menschen, sondern auch „Häuser umwerfe“, ganze Wirthschaften zu Grunde richte.

Die Trachten der Wenden sind sehr vielgestaltig, aber auf eine nähere Beschreibung der einzelnen einzugehen, würde sich kaum lohnen; meist sind sie sehr bunt, für unser nervöses Auge oft schreiend. Die Weiber tragen sich nicht sehr kleidsam, sie verbilden sich durch ihre dicken Bauernröcke. Sehr hübsch aber sehen die Männer um Slepa aus mit ihren weiß eingefaßten langen blauen Röcken.

In demselben Kirchspiel wird die Trauer in einer von der unseren ganz verschiedenen Weise zum Ausdruck gebracht. Die Frauen hüllen sich einschließlich des Kopfes in schneeweiße Gewänder, die bis zur Erde reichen. Nach Verlauf der tiefen Trauer tritt mit einem kurzen weißen Mäntelchen, ähnlich einer spanischen Mantilla, die Halbtrauer ein, und für das Austrauern benutzt man einen breiten weißen Halskragen. Ich sah in Slepa einen schneeweißen Leichenzug, der mich gar seltsam berührte. Ueberhaupt gehört ein Sonntag in dem reinen Wendendorf Slepa (Schleife) als Gast des Pfarrers Hanko Welan zu meinen eigenartigsten Erinnerungen. Eine so farbenstrotzende Kirchengemeinde dürfte in ganz Europa nicht ein zweites Mal zu finden sein.

Unser Bild „Wendische Hochzeitsgesellschaft“ zeigt uns wendisches Bauernvolk aus der reichen Bautzener Gegend und aus einem der sieben Klosterdörfer, die zum Wendenkloster Mariastern gehören. Das Mädchen mit dem Blumenstrauß ist die „Njewesta“, die Braut. Der eigentliche Brautschmuck besteht in zahlreichen Gold- und Silberketten und der „Borta“, der hohen Brautmütze. Der Mann daneben mit dem Bauernhut und der Schärpe ist der „Nowoschnja“, der Bräutigam. Hinter dem Brautpaar steht der „Braschka“, der Hochzeitsbitter mit dem üblichen Dreimaster, und im Hintergrund links die mächtige Bauerngestalt, mit der Doppelschärpe angethan, ist der „Swat“, der Hauptzeuge. Die Frauen und Mädchen mit den weißen Häubchen sind die protestantischen, die mit den schwarzen die katholischen „Druschky“, die Brautjungfern und Zeugen. Das feine seidene Tuch, welches die Brust des Braschka schmückt, wird nach altem Herkommen von den Verlobten als ein Geschenk gegeben, und seine Kostbarkeit stellt eine Art Maßstab für den Reichthum des Brautpaares dar. Das Leben und Treiben auf den wendischen Hochzeiten unterscheidet sich weniger als die Trachten von den deutschen Bauernhochzeiten. Der geladene Gast, oft auch der ungeladene, zahlt an den Hochzeitgeber einen baren Betrag, der seinem Vermögen entspricht, und erkauft sich damit das Recht, möglichst viel zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_866.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2023)