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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

vor allem die sogenannten „Klingelfahrten“, bei denen der Dieb irgend ein beliebiges, nicht sehr belebtes Haus betritt und an einer Korridorthür mehrmals klingelt; wird nicht geöffnet und läßt sich auch kein verdächtiges Geräusch in der Wohnung vernehmen, so ist im Umsehen durch einen Dietrich das Schloß geöffnet; um nicht durch die Heimkehrenden überrascht zu werden, schiebt der Dieb von innen einen Riegel vor oder bohrt einen kleinen Bohrer durch die Thür, da ihm fast immer noch ein Ausweg durch die Küche, die Hintertreppen hinunter, offen steht. In größter Eile rafft er alles zusammen, was er mitnehmen kann, und macht sich aus dem Staube. Diese „Klingelfahrten“ werden namentlich gern in der Reisesaison unternommen; wie ungestört sich die Diebe in jenen Sommermonaten fühlen, erhellt daraus, daß sie zuweilen ein und derselben Wohnung mehrere Besuche an verschiedenen Tagen abstatten, ja, daß sie in fremden Quartieren mit ihren Gefährten ganze Gelage feiern, endlich sogar übernachten, bequem ausgestreckt in den Betten derer, die ahnungslos im Gebirge oder an der See ihre Erholung suchen.

Die umfangreichste Klasse der Berliner Diebeswelt ist die der Taschendiebe – der „Torfdrücker“ – von denen Berlin mehrere tausend beherbergen mag. Sie sind überall zu finden, und unter ihnen giebt es wieder die verschiedensten Abstufungen, von dem mit vornehmen Manieren auftretenden, nach der neuesten Mode gekleideten Elegant an bis herab zu dem Herumstreicher, der sein Beutefeld auf Märkten, bei öffentlichen Schaustellungen, im ausgelassenen Volkstrubel sucht, – womit nicht gesagt sein soll, daß sein vornehmerer Kollege dort etwa nicht anzutreffen wäre. Lieber freilich hält sich dieser an solchen Orten auf, wo die Fremden verkehren, auf den Bahnhöfen, in Museen und Galerien, in den Theatern und Konzerten, im Cirkus und auf der Rennbahn, im Zuhörerraume des Reichstages und auf Festtribünen, sogar in Kirchen und natürlich auch im Straßengewühl der reicheren Stadtviertel.

Abholen gestohlener Gegenstände aus einem Hehlerneste.

Zahlreich vertreten unter der Berliner Diebsgesellschaft sind ferner die Laden-, Schaufenster- und Kollidiebe. Die Ladendiebe – „Schottenfeller“ genannt – unternehmen ihre Diebszüge meist zu zweien; gemeinsam oder auch einzeln betreten sie den Laden, und während der eine von ihnen den Kaufmann beschäftigt und sich immer neue Sachen vorlegen läßt, bringt der andere dies oder jenes Stück beiseite, indem er es unter den Rock knöpft oder in eine der im Futter des Mantels befindlichen langen Diebstaschen steckt; Juwelendiebe haben besondere Vorrichtungen an den Aermelaufschlägen der Röcke oder benutzen den mitgebrachten Schirm zum Verschwindenlassen der Gegenstände. Am gefährlichsten sind in diesem Fache die Frauen und Mädchen, die oft unter hochtrabenden Namen und mit Dienerschaft in den großen Luxusgeschäften erscheinen, sich die kostbarsten Spitzen, Shawls und Seidentücher vorlegen lassen, immer wieder prüfen und mustern und handeln, bis sie endlich ein stattliches Packet zusammenlegen lassen mit dem Bedeuten, daß es noch im Laufe des Tages durch einen auch die Rechnung begleichenden Diener abgeholt werden würde. Das geschieht natürlich nie, und zu spät merkt der Geschäftsmann, daß er von einer abgefeimten Gaunerin ganz empfindlich bestohlen worden ist. Auf Schuhgeschäfte haben es manche Diebinnen besonders abgesehen. Hier besteht ihre Praxis darin, daß sie unter dem Kleide eine Schnur tragen, von der andere Schnüre mit eisernen Haken am unteren Ende herabhängen; während sie eine größere Zahl Stiefel anprobieren, befestigen sie in unbewachten Augenblicken rasch einige davon an den Haken. Alle diese Ladendiebe und -diebinnen suchen sich, wie die Taschendiebe, sofort der gestohlenen Sachen zu entledigen, indem sie dieselben den Helfershelfern übergeben; tritt eine Verfolgung ein und werden sie verhaftet, so ist eine nähere Körperuntersuchung meist ergebnißlos.

Mit unbegreiflicher Frechheit gehen zumeist die Schaufensterdiebe an ihr Werk; oft drücken sie einen Theil des Schaufensters mit Terpentinpflaster ein und nehmen die Waren heraus, oft bohren sie an der unteren Kante des Schaufensters mit einem Centrumsbohrer ein Loch durch das Holz und ziehen mit einem gebogenen Stück Draht Ketten, Ringe, Spangen u. s. w. heraus, gedeckt vor den Blicken der Passanten durch ihre Genossen, die, sich lebhaft unterhaltend, scheinbar aufmerksam die Schaufensterauslagen betrachten. Mit gleicher Verwegenheit werden die Schaukästendiebstähle verübt; als Arbeiter verkleidet oder auch ohne Hut, im bloßen Rock, einen Federhalter hinter dem Ohr, sodaß man ihn für einen Gehilfen des Geschäftsinhabers halten kann, tritt der Dieb an den Schaukasten heran, hakt ihn ruhig ab, da er alle Kniffe der Befestigung kennt, und verschwindet mit ihm in einem Hause, um ihn dort an einem verborgenen Fleckchen zu zertrümmern und seinen Inhalt in Taschen und unter der Kleidung zu bergen; nicht selten ist es aber auch schon passiert, daß er ruhig und ungehindert mit dem ganzen Kasten abmarschierte.

Zu einer wahren Zunft haben sich die Kollidiebe ausgebildet; sie treten an unbeaufsichtigte Fuhrwerke heran und nehmen von diesen, was sie fortschleppen können; dabei tragen sie häufig den Anzug eines Rollkutschers, sodaß keiner der Vorübergehenden ein Arg hat. Der jährliche Schaden, den sie hauptsächlich den Speditionsfirmen zufügen, ist ein sehr bedeutender, und sie ergänzen sich immer von neuem, trotzdem gerade in jüngster Zeit viele von ihnen dingfest gemacht worden sind. Die Polizei bediente sich hierbei einer erfolgreichen List: ein mit Kisten und Ballen beladener Rollwagen, der mit einem Plantuche bedeckt war, fuhr die Straßen entlang, gelenkt von einem scheinbar schon angeheiterten Kutscher, der wiederholt hielt und sich in Destillationen und Restaurationen stärkte, seinen Wagen auf dem Fahrwege unbeaufsichtigt stehen lassend. Dies benutzten die Kollidiebe; allein oder auch zu zweien kamen sie heran, um einen Ballen unter der Leinwand hervorzuziehen – im selben Augenblick aber wurden die diebischen Finger von der kräftigen Faust eines Kriminalschutzmannes ergriffen, der mit einem Gefährten unter der Decke verborgen war und auf diese Weise im Laufe mehrerer Tage die Verhaftung von über zwanzig Kollidieben bewerkstelligte.

Von den weiteren Mitgliedern der Berliner Diebswelt erwähnen wir noch die Schlafstellendiebe, welche sich eine Schlafstelle miethen und, sobald die Wirthe die Wohnung verlassen haben, mit ganzen Droschkenladungen von Sachen spurlos verschwinden; dann die Bodendiebe, die sogenannten „Flatterfahrer“, welche nur den Bodenkammern ihre Besuche abstatten und Wäsche wie Kleidung unter ihre Obhut nehmen; die Küchendiebe, welche, wenn das Dienstmädchen die Küche auf einen Augenblick verlassen und hierbei die Thür nicht zugemacht hat, schnell sich silberne Löffel, Serviettenringe, Suppenkellen etc. aneignen; die Kellerdiebe, die es hauptsächlich auf Weinlager abgesehen haben; die „Kinderdiebe“, welche Kindern das diesen zum Einkaufen gegebene Geld fortnehmen oder ihnen auch die Ohrringe aushaken; die „Leichenfledderer“, die den auf Bänken in Parkanlagen Eingeschlafenen die Taschen ausräumen; die Paletotdiebe, deren Wirkungskreis in Schanklokalen und Cafés liegt; dann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_814.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)