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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

während die Segler gleich Schwänen mit weit ausgespannten Flügeln weiterziehen. Und die Auswandererschiffe! Wieviel Schicksalstragödien mögen sie mit sich an Bord führen, während sie stolz den stattlichen Strom hinunterfahren, auf dessen blanken Wellen sich die Abendröthe spiegelt! Die Menschen alle, die hinwegstreben von hier, wollen neues, anderes, wollen mehr vor allem als das, was ihnen das Vaterland bietet. Ob sie es finden werden? Und wenn sie es finden, ob es etwas Besseres ist? – Dahin ziehen sie, die mächtigen Schiffe, dem Lande der Verheißung entgegen. Leb’ wohl, du deutsche Erde!

Nur angesichts dieser Bilder, die tausend Gedanken in ihm anregten, vermochte Waldemar Andree der fiebernden Rastlosigkeit, die in ihm wühlte, einigermaßen zu entgehen. Oft riß er sein Skizzenbuch aus der Brusttasche und zeichnete mit fliegender Hast die packenden Eindrücke hinein, die sich ihm hier boten. Vielleicht würde er diese Skizzen in seinem späteren Leben einmal verwerthen … aber es mußte später, viel später sein! Fürs erste konnte er an nichts anderes denken als an sein nächstes Gemälde, das eine, von dem er bestimmt wußte, es werde sein bestes sein, es werde den Gipfelpunkt seines ganzen künstlerischen Schaffens bedeuten.

Er war bisher mit seinen Bildern meist unzufrieden gewesen, so sehr auch andere sie priesen. Aber selbst wenn ihm einmal eines genügte, hatte er doch oft kopfschüttelnd davor gestanden und zu sich selbst gesagt: ja, es ist eine ganz tüchtige Leistung, aber es ist nicht das Bild, welches ich meine – nicht das Bild, welches meine Vollkraft beweisen, mein ganzes Können nach jeder Richtung hin in Anspruch nehmen und mich selbst befriedigen, mich in meinen eigenen Augen zu dem Ruhm und der Größe emporheben soll, die andere mir längst zugestanden haben, die ich selbst aber bisher noch nicht in mir finden konnte. Jetzt aber, das fühlte Andree deutlich, würde das Bild werden können! Und während es ihm in den Händen zuckte und brannte, es zu malen, während er es Zug um Zug vor sich sah, war er zur Unthätigkeit verdammt, mußte er warten, bis man ihn rief, mußte er in Angst sein, ob sein Plan Beifall finden würde, denn er wollte und durfte die Züge eines solchen Modells nicht stehlen und als einen Raub auf die Leinwand bringen – er hatte ja Größeres vor als dieses Bild!

Um sich über die fast unerträgliche Zeit des Wartens hinwegzubringen, unternahm er seinen Umzug nach der Admiralitätsstraße. Hier hatte er seinen geliebten Binnenhafen ganz nahe, und abends ging er zuweilen zur alten Schifferherberge auf dem Kehrwieder-Quai und studierte dort die bunt zusammengewürfelte Seemannsbevölkerung, oder er sah den malerischen Fleet an der Nikolaikirche herab, einen stillen, schmalen, von hohen Gebäuden eingeengten Kanal, auf dessen dunklem Wasser der Mondstrahl zitterte, der sich an den steilen Wänden verstohlen hatte herabgleiten lassen, während er die alte Kirche mit einem fahlen Silberglanz umsponnen hielt.

Aber der Umzug war, dank der rührigen Thätigkeit der Frau Wiedekamp, seiner neuen Wirthin, überaus rasch vollzogen, und für Andree blieb, da er nichts anderes als „sein Bild“ malen wollte und konnte, weiter nichts übrig, als in Geduld abzuwarten, bis die Familie Brühl, die immer noch in Hamburg weilte, sich seiner erinnern, ihn zu einem Besuch ermuthigen und dabei den Plan mit dem Gemälde, welchen die Frau Senator an jenem Ballabend angeregt hatte, wieder aufnehmen würde.

Oder hatte die Dame diesen Gedanken, der ihr in den Sinn gekommen war, angesichts eines Künstlers, den man ihr als bedeutend gerühmt hatte, inzwischen aufgegeben? Hatte namentlich Stella, um die es sich dabei handelte, nichts dazu gethan, jenen Gedanken zu unterstützen?

Wie er jetzt die Marmorbüste vermißte! Er hatte sich mit ihr eingelebt, er pflegte mit ihr zu reden, sie war seine beste Gefährtin, sein täglicher Trost gewesen. Sie hatte ihm von Werner Troost erzählen können und von dem versteckten Winkel im Atelier in der Via del Babuino, wo der junge Bildhauer, dem die Liebe den Meißel geführt, sein einziges geniales Kunstwerk geschaffen hatte, von dem halbdunkeln Raum, in dem das „verschleierte Bild zu Sais“ vor aller Augen verborgen gestanden hatte, – und von dem sonnigen Märztage, da des sterbenden Mannes umflorter Blick darauf gefallen war. – Und nun hatte er seinen Auftrag ausgerichtet, die Trauerkunde überbracht, die Marmorbüste abgeliefert und stand am Wege und wartete, ob man ihn rief! „Mein Erbe!“ hatte Werner Troost gesagt, das waren seine letzten Worte gewesen! Würden sie jemals in Erfüllung gehen? –

Aber in das Haus am Alsterdamm konnte er doch! Hatte ihn Herr Bernhard Grimm nicht eingeladen, ihn zu besuchen? Und war seit dieser Einladung nicht jetzt mehr als eine Woche verstrichen, während welcher er vor Unruhe und Ungeduld nicht mehr wußte, was beginnen? – –

Herr Bernhard Grimm saß in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa und rauchte eine Cigarette. Das Zimmer war mit schönen alten Möbeln von dunklem Holz angefüllt, Erbstücke, die der jetzige Besitzer von seinen Eltern her überkommen hatte und sehr werth hielt. Die hohen Stühle, die an den Wänden entlang laufenden Eichenpaneele, die reich mit Schnitzerei verzierten Schränke – alles sah gediegen und gut aus. Gut sah auch Herr Bernhard Grimm selbst aus in seinem „Haushabit“, einem dunkelbraunen losen Sammetrock, von welchem sich das weiße Haupthaar beinahe kokett abhob. Ein ferner Duft erfüllte das große Zimmer, der des besten türkischen Tabaks, vermischt mit dem Aroma sehr starken Kaffees. Die Tasse, aus der Herr Grimm trank, war eine Seltenheit, eine in blau, roth und gold eingelegte, ziemlich flache Schale, dünn wie ein Papierblättchen: ein befreundeter Schiffskapitän hatte sie Herrn Grimm einmal aus China mitgebracht, seither pflegte der Eigenthümer jeden Tag daraus zu trinken und die Tasse eigenhändig abzuwaschen, ungeachtet der anzüglichen Bemerkungen, welche die alte Müller, seine durch diesen Uebergriff gekränkte Haushälterin, zum Besten gab, und ungeachtet der Witze, die seine wenigen näheren Bekannten daran knüpften. „Es heißt ja immer, alte Junggesellen stecken über und über voll Schrullen,“ pflegte Herr Grimm zu antworten, „nun, dies ist eine von mir! Wenn jemand mir meine chinesische Tasse zerschlägt, will ich es jedenfalls selbst sein!“

Er nahm einen tüchtigen Schluck Kaffee und sah in die „Hamburger Nachrichten“ hinein, die neben ihm auf dem Tische lagen. In seiner Nähe schlug eine alte Uhr mit einem dünnen Silberstimmchen halb fünf.

„Aergerlich!“ sagte Herr Grimm halblaut und setzte die Obertasse vorsichtig auf die Schale, „daß man auch Leuten, die einen guten zuverlässigen Eindruck machen, nicht immer glauben kann! Dieser Mann sah mir ganz und gar nicht nach Redensarten aus, und doch hat er eine gemacht, als er mir versprach, mich sehr bald zu besuchen! Da dünkt man sich ein ganz feiner Menschenkenner zu sein – nichts da! Man lernt nie aus! Wie, Hafis?“

Hafis saß gravitätisch auf der hohen Sofalehne zur Seite seines Herrn, ein großer wunderschöner Kater, schneeweiß von den Ohren bis zur Spitze des stolzen buschigen Schweifes, echt persische Rasse, drei Jahre und vier Monate alt, gleichfalls ein Geschenk! Ein Schiffsreeder, mit dem Herr Grimm oft geschäftlich zu thun hatte, ließ das seltene Exemplar für ihn kommen und erntete großen Dank dafür. Grimm konnte sich ein Leben ohne Hafis gar nicht mehr denken: er unterhielt sich mit ihm, fragte ihn um seine Meinung, befolgte seine Rathschläge und freute sich, wenn Frau Müller und Gerda Brühl, die zwei einzigen weiblichen Wesen, die überhaupt seine Wohnung betraten, behaupteten, das Thier habe menschlichen Verstand, und es oft den „Zauberer“ nannten – die alte Frau in abergläubischem Schreck, das Kind in heller Freude am Wunderbaren.

Hafis saß jetzt aufrecht und würdevoll da, die großen grauen Katzenaugen schräg zusammengekniffen, und beantwortete seines Herrn Frage mit einem verächtlichen Kopfschütteln: Nein! Man lernt nie aus!

Draußen schellte es und die alte Müller, eine dürre Hopfenstange, mit einem Gesicht wie eine verschrumpfte Haselnuß, meldete Herrn Andree.

„Das ist doch –“, Herr Grimm erhob sich hastig und vergnügt und eilte dem Gast mit ausgestreckter Hand entgegen. Hafis stieg langsam von seinem hohen Sitz herunter und beschrieb als echter „Zauberer“ um den neu Eingetretenen einen magischen Kreis, den Kopf prüfend erhoben.

„Habe eben noch von Ihnen gesprochen, – wie hübsch, daß Sie endlich kommen! Müller, frischen Kaffee!“

„Es duftet köstlich hier,“ sagte Andree, „da kann man sich einen seltenen Genuß versprechen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_731.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)