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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

liegen. Sein Liebstes auf der Welt – er machte sich’s klar in dieser trostlosen Minute – sein Liebstes auf der Welt wollte ihm das Schicksal nehmen! Es war ja nicht möglich, es durfte nicht sein!“

Die gegenüberliegende Thür öflnete sich, und heraus schoß das kleine Bedienungsmädchen der Signora Marchini, ein flinkes braunes Ding mit unruhigen Augen.

„Mein Gott, der Signore! Ist das aber gut. Er hat nach dem Signore gefragt – ja – und ganz bei Besinnung ist er, und der Doktor hat ihn genau untersucht, und ich habe Eis holen müssen und jetzt laufe ich und bestelle noch mehr. Und der Wärter sitzt bei ihm, weil die Signora auch krank geworden ist vor Schreck, und aus der Apotheke habe ich etwas holen müssen, das hat ihm der Arzt eingegeben, damit er keine Schmerzen bekomme, denn Signore Troost hat gesagt, Schmerzen dürfe er für die nächsten Stunden nicht haben. Und in der Apotheke haben sie mir gesagt, das sei ein sehr scharfes Mittel und der Signore müsse sehr krank sein.“

Andree hört nicht weiter.

Er schiebt stumm das Kind beiseite, um vorbeizukommen, dann geht er leise an die hellgestrichene Thür. Die Hand zittert ihm. Er tritt ein.

In dem ziemlich geräumigen Atelier hat man alles, was umherstand, hart an die Wände gerückt, um möglichst viel Raum zu gewinnen. Gestalten und Köpfe von Gips und Marmor stehen aufgereiht nebeneinander. Hohe Gestelle, ein menschliches Gerippe, das einen Leuchter sammt Kerze in der Hand trägt, Nachbildungen menschlicher Arme und Beine aus Gips in verschiedenen Größen, Modellierhölzer, Zahneisen, hängende Bretter mit winzigen Köpfchen und kleinen Statuetten aus rothem Thon – dies bildet die Umgebung für den Kranken, dessen breites Bett man in die Mitte des Raumes gebracht hat, sodaß er das große, mit leichten Stoffen verhängte Fenster vor Augen hat.

Neben dem Bett sitzt auf einem Strohsessel ein hagerer, muskulöser, still vor sich hinblickender Mann, zu seinen Füßen einen großen Eimer voll Eis, über dessen Rand feuchte Tücher hängen.

In den weißen Decken und Kissen liegt Werner Troost, ein Bild von Kraft und Jugendschönheit; alles leuchtet und lebt an ihm, vor allem die feuchtglänzenden dunkeln Augen, die ihm schon so viele Herzen gewonnen haben, die Augen, die nichts von Uebersättigung wissen, sondern jung und freudig erwartungsvoll in die Welt hineinsehen, als wollten sie fragen: was wird es mir bringen, das Leben?

Wie Andree ihn so sieht, blühend und rosig und schön, will er aufathmen aus tiefster Brust, allein es liegt ihm wie ein Alp auf dem Herzen, und er kann es nicht!

„Nun, gottlob, da wärst Du ja!“

Troosts Stimme klingt ein wenig matter als sonst, oder kommt es seinem Freunde nur so vor?

„Wart’, ich will meine linke Hand heraussuchen und Dir reichen, die rechte ist verwundet – nur eine ganz leichte Schramme! Sie haben mich in Binden gewickelt wie eine ägyptische Mumie und ganz in Eis gepackt, daß ich mich kaum rühren kann. Setz’ Dich da auf den Stuhl zu mir! Der gute Freund dort, der mich pflegt, geht derweilen zu Signora Marchini hinüber, sie sind alle schon verständigt. Ich hab’s dem Arzt gesagt, ich müsse Dich sprechen – – so bloß für alle Fälle, weißt Du!“

Er lachte leichthin, aber es ist sein altes Lachen nicht und es ist auch nicht sein früheres Gesicht. Etwas ist fremd darin, irgend ein Zug, der sonst nicht da war; Andree hat keine Muße, darüber nachzusinnen, was es sein kann, doch er fühlt die Veränderung ganz deutlich. Er hat die feine, biegsame Linke seines Freundes behutsam in seine beiden nervigen Hände genommen und sitzt stumm am Bett, bis der Wärter, der noch dies und jenes ordnet, zur Thür hinaus ist. Nun beugt er sich tief über den Kranken, sieht ihm liebevoll ins Gesicht und fragt mit gedämpfter Stimme:

„Um Gotteswillen, Werner, wie hat solch ein Unglück geschehen können?“

„Du meinst, daß die Casa Bortenyi zusammengestürzt ist? Ja, mein Alter, sie haben es ja alle gesagt, die etwas davon verstanden, das Ding werde viel zu rasch und leicht aufgebaut und müsse uns eines schönen Tages über dem Kopf zusammenkrachen. Wer jedoch ein Bruder Leichtsinn und ein Glückskind dazu ist, der glaubt solchen Unglückspropheten nicht – nun, und ich bin beides gewesen!“

„Wie kam es denn – ich meine, wie meldete sich’s an? Aber darfst Du auch so viel sprechen?“

„Soviel ich will – zwei, drei Stunden in einem Zug, solange das Mittel vorhält! Die Brust ist übrigens ganz frei, am Oberkörper kann mir jedenfalls nichts geschehen sein. Freilich, alles andere ist wie tot, als gehörte es nicht mir, ich habe auch nicht das geringste Gefühl darin. Das mag alles von dem Gebräu kommen, das mir Weber – unser deutscher Arzt, den Du ja auch kennst – eingegeben hat. Doch es hat nichts zu bedeuten. Ich möchte nur wissen, ob von meinen Arbeiten in der Casa Bortenyi irgend etwas gerettet ist; mein Kinderfries – er schritt so unglaublich rasch vorwärts und ist mir auch geglückt, ich weiß es –“

„Rege Dich nicht auf! Ich gehe noch heute hin, um mich zu erkundigen, und lasse Dir Bescheid sagen oder bringe ihn Dir selbst!“

„Vielen Dank! Gottlob, die Statuen für die Bibliothek habe ich hier bei mir, sie sind ein Stück gediehen, seit Du sie zuletzt gesehen hast. O, ich war so froh, als Graf Bortenyi mir durch Deine Vermittlung die Bildhauerarbeit in seinem Palazzo übertrug, endlich einmal ein Auftrag, bei dem etwas zu gewinnen war, Anerkennung und Geld, vielleicht ein Name! Und nun baut dieser Mailänder Pfuscher ein solches Papierhaus hin!“

„Wie ging es denn zu, daß – aber nein, denke jetzt nicht mehr daran!“

„Keine Sorge! Ich bin ganz ruhig, will Dir alles erzählen! Also ich stehe oben auf meiner handfesten Leiter und arbeite, bin so im Eifer, daß ich mir nicht ’mal Zeit nehme, den Sammetrock auszuziehen, mag er verderben, denk’ ich, Sammetröcke findest du mehr in der Welt, aber sobald nicht wieder diese günstige Stimmung. Und ich putze liebevoll herum an so einem pausbackigen Kindchen, das mit vollem Athem in seine Trompete stößt, während vor meinen Fenstern die gewaltige Winde auf und niedergeht, welche die eisernen Träger, Säulen und Stützen in die Höhe befördert. Mit einem Male hör’ ich dicht neben mir in der Mauer ein eigenthümlich rieselndes Geräusch wie von rinnendem Sand, wie ich aber genauer zuhorche, ist’s auch schon wieder still. Ich also wieder an meinen blasenden keinen Schlingel heran … da kommt es wieder, diesmal jedoch mit einem dumpfen, scharrenden Ton, dem ein lauter Knall folgt, etwa als wenn eine Kanone abgeschossen wird. Entsetzt dreh’ ich mich herum und werde gewahr, daß die gegenüberliegende Mauer schräg durchgespalten ist; und nun kommt mir zum Bewußtsein, was geschieht, und ich will von der Leiter herunter, so schnell als möglich! Allein das Zerstörungswerk ist noch rascher als ich, es ist mir, als rücke die ganze Mauer mir entgegen. Ich werfe mein Werkzeug fort und hebe meine Arme hoch querüber, zum Schutz für das Gesicht – alles ganz mechanisch natürlich – dann schlägt die Leiter um, und die Masse stürzt über mich hin. Den einen Gedanken, den ich noch hatte, den letzten, wie ich glaubte, denn ich dachte natürlich, es sei alles für immer zu Ende, den will ich Dir später sagen. – Die Leute, die mich fanden, haben meiner Wirthin gesagt, die schwere Arbeitsleiter und ein paar herabgestürzte Dachbalken hätten hohl über mir gelegen und mich auf diese Weise geschützt, ich wäre sonst unfehlbar von dem massenhaft nachstürzenden Trümmerwerk erschlagen worden!“

Andree hatte mit erregten Zügen zugehört, er sah das Ganze vor sich. Er versuchte zu reden, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht; wie ärgerlich über seine Weichherzigkeit schüttelte er den Kopf und wandte sich ab.

Der Bildhauer verstand ihn und tastete mit seiner Linken nach Andrees Hand. „Mein guter Alter!“ murmelte er gerührt. Nach einer kleinen Pause raffte er sich auf.

„Du siehst, da bin ich noch, im Jenseits wissen sie entschieden noch nichts mit einem solchen Taugenichts anzufangen – die Erde hat mich wieder! Allein da man nie wissen kann, wie lange sie einen noch behält, so möcht’ ich Dir Einiges sagen, Dich um Einiges bitten. Ich weiß ja, Du gehörst zu den wenigen Menschen, auf die man sich fest verlassen kann!“

(Fortsetzung folgt.)
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