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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Nr. 29.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Baronin Müller.

Roman von Karl v. Heigel.

(2. Fortsetzung.)

Der Lieutenant ließ es sich nicht nehmen, die Familie seiner Braut nach der Burg zu begleiten. Als sie oben das Thor erreicht hatten, bestand der Amtsrichter darauf, Helmuth den Burghof bei Mondbeleuchtung zu zeigen. „Aber Männchen,“ wandte Ida ein, „wie der Mond jetzt steht, liegt der Hof im Schatten.“

Vitus sah sich um. „Du hast wie immer recht. Aber in den Saal Karls des Großen scheint jetzt der Mond. Hab’ ich Ihnen den Saal schon gezeigt? Nein? Den müssen Sie bewundern, gerade bei Mondschein ist er am schönsten. Kommt!“

Der Amtsrichter schloß das Thor auf und schob hinter der Gesellschaft den inneren Riegel vor. In dem gewölbten Gang brannte eine Oellampe. „Diese Riegel sind wohl auch noch aus der Zeit, da Carolus Magnus regierte,“ sagte der Lieutenant mit einem Blick auf das gewaltige Eisenwerk.

„Spiegelfechterei!“ rief Ida. „Wer in den alten Steinhaufen hereinwill, findet hundert Löcher zum durchschlüpfen. Ich wette, daß Strobel noch beim Bier sitzt, und doch kommt er ins Haus!“

Vitus blieb stehen. „Liebe Frau, nach der Hausordnung hat der Amtsdiener um zehn Uhr daheim zu sein. Ein rechtlicher Mann kennt keine Hinterthüren.“

„Du bist ein Pedant,“ sagte Ida und wandte sich nach der Hoftreppe. „Gute Nacht, Helmuth, wir empfehlen uns hier. Mein Mann sieht unverwandt nach seinem Rittersaal hinüber, da werden Sie ihm wohl den Gefallen thun müssen, mitzugehen. Sollten Sie ein Abenteuer erleben, so bitten wir um freundliche Mittheilung morgen bei Tisch – werden Sie sich einstellen?“

„Mit dem größten Vergnügen! Auf Wiedersehen also!“

Vitus und Helmuth traten in den Saal; mit seinen großen Verhältnissen, in seiner verfallenen Pracht machte dieser beim Mondschein, der durch die scheibenlosen Lichtöffnungen drang, einen gespensterhaften Eindruck. Am Deckengebälk glitzerten noch einige Spuren der einstigen Vergoldung, die bemalte Kalkbekleidung des Gemäuers war abgeblättert und nur an der inneren Längenwand einigermaßen erhalten. Der Amtsrichter führte Helmuth vor eine lebensgroße sitzende Gestalt, einen bärtigen Alten in Purpur und Krone mit einem Schwert auf dem Schoß, und fragte feierlich: „Wer ist das?“ Schön war die Malerei nie gewesen, jetzt war sie zudem verblichen und schadhaft, aber für Leute mit geschichtlichem Sinne ehrwürdig.

Nicht ehrwürdig für den Lieutenant, denn er antwortete ohne Zaudern: „Iwan der Schreckliche.“


Vincenz, Franz und Ignaz Lachner.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 485. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_485.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2023)