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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Bis jetzt hatten wir schönes Wetter und viel Glück gehabt.

Die ersten Tage des März nahmen einen sommerlich schönen Verlauf, und mein Dienst auf der „Elisabeth“ war, die bösen Nachtwachen abgerechnet, durchaus nicht schwer.

Mein Verhältniß zu den übrigen Schiffskameraden gestaltete sich gut, und der Kapitän verlangte zwar von mir, wie selbstverständlich, vollen und ganzen Dienst, behandelte mich sonst aber wie einen Freund, und ebenso zeigte sich die Frau Kapitän mir sehr gewogen.

Sie unterhielt sich gern mit mir – staunte, daß ein Mann, der sogar eine Zeitlang die Universität besucht hatte, die harte Seemannslaufbahn eingeschlagen hatte, und ging mit mir um, als ob ich ein ihr völlig Gleichstehender wäre, den sie in dem Empfangssalon ihres Vaters kennengelernt hatte.

Ich besaß keine Ahnung davon, daß diese Bevorzugung bei jemand auf dem Schiff den tiefsten Schmerz verursachte und die wildeste Eifersucht hervorrief. Diese Person war ein junger Matrose mit dem weichen wehmüthigen Gesicht, das mir von Anfang an aufgefallen war.

Ich fand ihn eines Tages voll heftigen Heimwehs am Gangspill sitzen – er starrte in die Ferne hinaus und sein Gesicht hatte einen so schmerzergriffenen Ausdruck, daß er mir innig leid that und ich ihn zu trösten, aufzumuntern suchte. Ich hatte erfahren, was Seemannsheimweh heißt. Der Nordländer in nordischen Meeren bekommt es nie, sobald er aber unter heiße Sonne geräth, in das Gebiet des ewigen Frühlings, der Palmen und der andern südlichen Gewächse, wo der Himmel ewig blau, das Meer blendend blau ist – tagelang sich kein Lüftchen regt – dann packt es ihm das Herz zum Sterben und er möchte laut weinen vor Schmerz.

In dieser Stimmung saß der junge Mann da. „Holla, Mertens,“ rief ich ihm zu, „im nächsten Hafen ist der ganze Kummer verflogen; wenn’s gut geht, werden wir auf den Kanarischen einkehren und dort kannst Du Kanarienvögel fangen und Kanariensekt trinken.“

Statt einer Antwort traf mich ein wüthender Blick – ich sprach noch weiter – der Mann blieb stumm, schließlich verließ er seinen Platz und ließ mich stehen. Ich zerbrach mir den Kopf, was das zu bedeuten habe, ich sann nach, wodurch ich ihn beleidigt haben könnte. Wie gewöhnlich bei allen dunklen Punkten, die auf der „Elisabeth“ sich zeigten, half mir der erste Steuermann, das Räthsel zu lösen.

Er hat sich in die Frau Kapitän verguckt, der Laffe, schon in Bremen, als sie noch Mädchen war, und jetzt geht er auf dasselbe Schiff, wo sie mit ihrem Mann ist – daraus kann man schon sehen, daß er ein Esel ist.

„Ut dem ward nix, ’n richtiger Seemann nie und nimmer, dat wär better for em, bi sin Vatter oppen Dreistohl to sitten,“ schloß Christian Poppinga seinen Bericht und warf einen verächtlichen Blick auf den jungen Mann, der jetzt, die Stirn an die Wanten gelehnt, dastand und in das Meer hinausschaute.

„Sagt doch mal, Christian Poppinga: mit der Heirath des Kapitäns soll es ja eine besondere Bewandtniß gehabt haben, wie Ihr mir einmal angedeutet habt,“ so wollte ich den Alten, der bei guter Erzähllaune war, ausholen.

Da gab mir der Steuermann einen Wink mit den Augen und in demselben Augenblick ertönte vom Kapitän das Kommando: „Hol in Royal-Bramsail! Gei op de Grotsail!“ und jetzt war’s mit der schönen Fahrt vorbei. Es war zehn Uhr vormittags. Der Himmel hatte im Osten eine matt bernsteingelbe Farbe angenommen und sah drohend dunstig aus, ein paar stahlblaue Wolken flogen dem Dunstschleier voraus und schon standen sie über uns.

Wie konnte das in den paar Minuten vor sich gehen?

Das Meer wogte stumpf und bleifarben und schlug hart metallisch an die Schiffswand. Wie rasend war die Mannschaft in die Wanten geflogen und hatte die zum Beiliegen im Sturm nöthigen Segel festgemacht. Was beweglich an Deck war, ward in einer Minute fortgeräumt oder festgebunden – trotzdem überraschte uns der Sturmstoß – heulend wie ein Höllenunthier kam er heran – Himmel grauschwarz, Meer pechschwarz mit zitterndem weißen Schaum. Wir sanken in ein tiefes, dunkles Wasserthal und ein riesiger Wasserberg bedeckte uns – einige Sekunden fußhoch Wasser über uns – dann athmeten wir durchnäßt von rasendem Sturm durchpeitschte Luft. Ströme von Regen ergossen sich vom Himmel – Wasserthäler, Wasserberge, weiter nichts ringsum. Keine zwanzig Schritt weit war zu sehen und wir tanzten einen wahnsinnigen Wirbeltanz in diesen gähnenden Tiefen, auf den zerberstenden Höhen, und wie mit Stöcken schlugen die abgerissenen Wogenkämme uns auf Kopf, Brust und Arme, das zurückströmende Wogenwasser fluthete um unsere Beine – und dabei noch alle Befehle ausführen und die Richtung beibehalten, daß wir nicht gegen die Kanarischen Inseln trieben, in deren Gebiet wir uns befanden, denn dann war es mit Schiff und Mannschaften vorbei! Es war ein hartes Stück Arbeit.

Jedoch die „Elisabeth“ war ein gutes Schiff, sie schüttelte sich wie ein nasser Pudel und ihr gutes Holz trotzte allen Sturmangriffen und Wellenbädern. Sie fuhr in die Höhe und schoß in die Tiefe und ließ sich schleudern und jagen – aber sie hielt sich regelrecht an ihr Steuer und ging West, immer West und das war unser Glück, denn wir kamen dadurch von den Inseln ab.

Das Unwetter tobte bis gegen Abend fort, und dann ward es kalt und unfreundlich. Als die Sonne in einem fahlgelben am Meereshorizont breit aufklaffenden Firmamentstreifen versank, folgte eine von Regenböen erfüllte Nacht. Dunkle zerrissene Wolken flogen am Himmel, das schwarze Meer war unruhig und sah unheimlich aus.

An Nachtruhe war nicht zu denken. Alles blieb auf Deck, man hatte genug zu thun, die Lichter in Ordnung zu halten, zu lothen, Ausguck zu halten, in die Wanten zu springen, die schwer nasse Leinwand bald so, bald anders zu gestalten, und eine bängliche Stimmung lagerte auf uns, denn wir waren außer Kurs gerathen. – Kein Stern zeigte sich und eine Bestimmung, wo wir uns befinden möchten, war unmöglich. – –

Endlich kündigte der Tag sich an. Im Osten öffnete sich das Firmament, und zwischen schweren Wolkenbänken brach goldgelbes Licht hervor, welches das Meer seltsam graublau glasiggelb färbte, und wenige Minuten später erhob sich der Sonnenball über dem unruhigen Meer, eine breite glitzernde Goldbahn zwischen seinem leuchtenden Antlitz und der auf- und niederwogenden „Elisabeth“ ziehend – es war mit einem Male heller Tag, aber wie sah unsere „Elisabeth“ aus! Zwar standen die Masten unversehrt – jedoch unser Segelwerk und die Takelage hatten schwer gelitten. Zwei Stangen waren gebrochen. Das Holz hing herab und hatte in die Segel fußgroße Löcher gerissen. Das untere Großsegel lag zerfetzt um den Fuß des Royalmastes geschlungen, unser Oberbramsegel zuoberst der ganzen Takelage war vollständig fortgeschlagen, überall schlotterten und wehten zerrissene Strickenden.

Der Kapitän machte ein ernstes Gesicht und die Mannschaft stand stumm und finster da. Was sollte aus uns werden, wenn das Wetter von neuem begann? Plötzlich rief der Koch mit seiner krähenden Stimme: „Hab’ Kaffee gekocht.“

Das tönte so unvermittelt in unsere Bestürzung und unsere Trauer, daß alles laut auflachte – der Bann war gelöst. Wir eilten zur Kombüse und bald standen wir sämmtlich dort herum, angelehnt an irgend etwas, was einen Ruhepunkt bot, und schlürften aus unseren Blechbechern den heißen und heute extrasüßen belebenden Trank. Neuer Muth, frische Arbeitskraft durchströmte unsere Glieder, und fünf Minuten später – denn Eile that Noth – waren wir in eifrigster Arbeit, die zerbrochenen Stangen von den Masten abzuschneiden, die zerrissene Leinwand unter Deck zu schaffen, alles Zerstörte schnellstens zu entfernen und unser Schiff einzurichten, mit dem, was noch heil und ganz war, zu fahren.

Das Glück begünstigte uns. Der Himmel hellte sich auf, und wenn auch die Luft bei immer noch niederem Barometerstand sehr unruhig und stoßweise stürmisch bewegt blieb – bis zum Einbruch der Nacht waren wir doch bei rastloser, fast fieberhafter Arbeit wieder klar und die „Elisabeth“ ging mit genug Leinwand vor dem Winde, die Kursabweichung wieder einzubringen.

Am nächsten Mittag wurde gemessen, worin ich dem Kapitän als ausgelernter Navigationsschüler zur Hand ging, und wir ersahen, daß wir im schönsten Kurse direkt auf die Kap-Verdischen Inseln losgingen, von den Kanarischen Inseln waren wir verschlagen. Das Wetter wurde immer besser, und bald waren wir so weit, als wir schon vor ein paar Tagen hätten sein sollen – wir erreichten den Passat.

(Schluß folgt.)
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