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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

einen Eiffelthurm von Woche zu Woche sich erheben, eine Kanalbrücke schlagen zu sehen; allein dort oben ist offenbar alles öde und leer – der Mann im Mond ist schon lange todt. Auf der Venus müßte die Länge einer Quadratseite 11/3 Meilen betragen, selbst wenn gewisse andere Verhältnisse günstiger wären, als sie sind; auf dem Mars aber 2 Meilen, auf dem Jupiter 22 Meilen u. s. f. Dabei ist, wie in der Physik üblich, vorausgesetzt, daß für ein scharfes Auge ein weißes Quadrat von einem Meter in der Seite auf schwarzem Grund bei einer Entfernung von einer Meile als ein heller Fleck erscheint, der gerade noch von einem gleichgroßen Kreis unterschieden werden kann; von den übrigen Einflüssen dagegen ist hier näherungsweise abgesehen.

Auch von der Verbesserung und Vergrößerung der Fernrohre ist nichts für diese Zwecke zu erhoffen. Wie schon bemerkt, ist in dieser Hinsicht die Reinheit und Klarheit der Luft das Wichtigste. Sehr viel mehr, als Schiaparelli sah, wird wohl auch von der in der reinen Luft Kaliforniens in gewaltiger Höhe erbauten Lichtsternwarte aus nicht gesehen werden. Jedenfalls werden Werke menschenähnlicher Wesen niemals mit Sicherheit als solche festgestellt werden. Fraglich ist sogar, ob es gelingen wird, über das Räthsel der Verdoppelung der Marskanäle, sowie die sonstigen auf dem Mars vor sich gehenden Veränderungen einigen Aufschluß zu erhalten. Und wenn, so wird noch längere Zeit darüber vergehen müssen. Denn für die Beobachtung ergaben sich Schwierigkeiten aller Art. Die Verdoppelung der Kanäle geht verhältnißmäßig schnell vor sich; nun kann allerdings derselbe Punkt des Planeten 8–10 Abende nach einander beobachtet werden, allein dann in den gleichen Stunden 38 Tage lang nicht mehr und, wenn das Wetter ungünstig war, zwei Monate lang nicht mehr. Auch muß der Mars genügend nahe sein (er kann der Erbe im günstigsten Fall auf 71/2 Millionen Meilen nahe kommen); die Oppositionen, die Stellungen, in denen Mars der Sonne gerade gegenüber steht, bieten sich aber nur in Zwischenräumen von 26 Monaten dar; und um den Planeten Mars in allen seinen Jahreszeiten und sonstigen Verhältnissen zu studieren, ist ein 16jähriger Cyklus von Oppositionen nothwendig.

Beispiel für die zeitliche Veränderungen der sogen. Marskanäle.

Trotz solcher nüchternen Ueberlegungen lassen sich indessen die Hypothesenschmiede nicht beirren, alles mögliche hinsichtlich des Mars zu behaupten.

Zum Beispiel: da Mars von der Sonne weiter entfernt ist als die Erde, folglich von weniger Lichtstrahlen getroffen wird, muß die Flora und Fauna mattere Farben zeigen. Wegen des langen und strengen Winters auf der südlichen Halbkugel sind die Thiere stark behaart. Und da Mars andererseits älter als die Erde ist, so muß die Kultur auf diesem Planeten eine vorgeschrittenere sein; es giebt folglich z. B. keine Soldaten mehr, der ewige Friede ist bereits eingetreten. Ferner, 100 Erdenkilo wiegen auf dem weniger dichten Mars nur 38 Kilo; mit demselben Kraftaufwand wird also dort eine viel größere Arbeitsmenge geleistet werden können; ein Mann kann einen schweren Wagen ziehen; er kann mehrere Meter hoch springen; nur der Tod durch Ertränken ist dort sehr erschwert, da jedermann von selbst schwimmen kann; ja, sagt ein Schriftsteller jener Sorte, da die Schwere auf dem Mars geringer ist, „wird sich der Gang der Marsbewohner von dem Flug der Vögel nicht beträchtlicher unterscheiden als der flatternde Gang der Strauße“ u. s. f.

Mit demselben Recht dürfte z. B. jemand den Satz aufstellen und beweisen, die Marsbewohner müßten nothwendig 5 Hände und 17 Füße besitzen. Mit derartigen Ueberlegungen schreibt man spannende naturwissenschaftliche Romane nach Art von Jules Verne, allein die Wissenschaft, die auf Beobachtung und strengen Schlüssen beruht, hat damit nichts mehr zu thun. Die Ansicht des bekannten Philosophen Wolf aber, die Umdrehung der Planeten um ihre Achse sei von Gott dazu angeordnet, damit dieselben ganz, nicht bloß zur Hälfte, von Menschen bewohnt werden könnten, woraus mit Notwendigkeit folge, daß die Planeten mit Rotation, z. B. auch Mars, wirklich Menschen beherbergen, diese Ansicht zu erörtern, pflegen die Theologen den Mathematikern und die Mathematiker den Theologen zu überlassen.

Was endlich die Stellung des Mars unter den Planeten anlangt, so ist er der erste der sog. „oberen“ Planeten, der Größe nach der siebente – sein Durchmesser ist 0,54 Erddurchmesser – und gemäß der kantischen Theorie dem Alter nach der sechste Sohn der Sonne, jünger als Jupiter und der Planetoidenring, älter als die Erde und noch älter als die Venus. Und zwar sollen nach den Berechnungen eines bekannten Physikers die einzelnen Planeten je um 5 Millionen Jahre im Alter von einander verschieden sein, natürlich ein Ergebniß von sehr geringem Werth, da die dabei benützten Voraussetzungen äußerst unsicherer Natur sind.

Von dem umschwingenden ungeheueren Gasball löste sich einst ein Ring um den anderen ab, der Ring zerbrach, und von den Bruchstücken zog das größte die kleineren an sich (ausgenommen beim 5., dem Planetoidenring); die Reste sind die Planeten mit ihren Monden. So kam in sechster Linie die Reihe an Mars; dann zog sich die Sonne weiter zusammen und aus einem weiteren Ring bildete sich die Erde mit ihrem Mond oder, wie vielfach vermuthet wird, früher mit ihren zwei Monden u. s. f.

Daß in der That die Erde dem Alter nach in der Mitte zwischen Mars und Venus steht, zeigt sich wohl am deutlichsten an der Beschaffenheit der Atmosphären. Die Marsatmosphäre hat sich schon erheblich verdünnt. Die Venus dagegen ist von einer fast undurchdringlichen Wolkendecke überzogen, nur hie und da gelingt es, auf die Oberfläche selbst durchzublicken; dort herrschen wohl noch Zustände wie einst auf der Erde zur Steinkohlenzeit: Treibhauswärme, üppiges Gedeihen, wenig verschiedenartiges organisches Leben.

Einst wird vermutlich der Mars auch seine zwei Monde noch an sich ziehen und dadurch auf einige Zeit neue Wärme, neues Leben gewinnen. Und dann? – Der Leser gestatte mir, in derlei Ueberlegungen noch etwas fortzufahren, die allerdings nicht mehr der Rechnung, sondern nur noch ziemlich unbestimmten physikalischen Schlußfolgerungen unterliegen. – Dann wird Mars, nach dem er auch diese Wärme noch ausgegeben hat, erkaltet und verödet wie jetzt unser Mond einige Jahrmillionen oder -billionen um die Sonne kreisen, bis er dieser vollends zum Raube wird wie auch die übrigen Planeten. Jedesmal neue Perioden des Lebens und Gedeihens. Und dann? – dann wird die Sonne selbst einmal erkalten müssen im eisigen Weltraum, trotz aller Wärme, die sie besitzt und durch Zusammenziehung, Meteoritenfall u. s. f. neu gewinnt; und sie wird in ähnlicher Weise einem größeren Centralkörper unseres Milchstraßensystems (nach Kant wäre es der Sirius) mehr und mehr sich nähern.

Schließlich am Ende wird – dies ist wenigstens die viel besprochene Hypothese des englischen Physikers Thomson, auf Grund des zweiten Carnotschen Satzes der mechanischen Wärmetheorie – am Ende wird das ganze Weltall den "Wärmetod" sterben. Da alle Wärme nur von Körpern höherer Temperatur zu solchen niederer Temperatur übergehen kann und nicht umgekehrt, so wird alle Energie, Wärme, Licht, Elekricität, Magnetismus sich schließlich ins Unendliche verflüchtigen; allgemeine Stoff- und Energiezerstreuung wird das Ende sein.

Und Zöllner glaubt vor diesem Schicksal das Weltall dadurch retten zu müssen, daß er annimmt, unser Raum sei in Wirklichkeit nicht unendlich, sondern ein endlicher gekrümmter Raum: alle geraden Linien seien in Wahrheit sehr große Kreise, die folglich wieder in sich zurückführen; wenn an einer Stelle Welten vergehen und die Trümmer sich trennen, so müssen diese an einer anderen Stelle des Raumes zu neuen Welten zusammentreffen.

Vor solchen Hypothesen wie den eben genannten hätte wohl eine nüchterne Philosophie bewahren können. Für das Weltall selbst giebt es keine Raumbestimmung, da die Orientierung fehlt; und ebenso giebt es für das Weltall keine Zeit, da die Uhr fehlt; wir messen ja die Zeit selbst erst nach scheinbaren Bewegungen von Himmelskörpern, denen wir erst noch willkürlich eine gleichförmige Bewegung unterschieben, abgesehen davon, daß die Naturgesetze nicht in unendlicher Allgemeinheit angewendet werden dürfen.

Die Naturgesetze sind doch schwerlich etwas anderes als Näherungsformeln, Zusammenfassungen der bisherigen in beschränkten Kreise gewonnenen Beobachtungsergebnisse.

Also auf diese letzten Fragen giebt die Naturwissenschaft keine Antwort mehr.



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