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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

hätte, daß der Papa ‚Lüdinghausen‘ sagen wollte, als Rahel ‚Clairon‘ dazwischen rief. Ich fürchte, mein lieber Freund, wir werden Sie noch darüber verlieren, denn Sie werden kaum Lust haben, in einer Gegend zu bleiben, wo Sie in der Gesellschaft und im Amt Römpker stets begegnen müssen, wo es Ihnen nicht verhohlen bleiben kann, daß man Sie zum Gegenstand endlosen Klatsches macht. Denn hier kommt so selten etwas vor, daß man an jedem Ereigniß, ewig herumkaut, ehe man es runterschluckt. Ganz verdauen thut das Gedächtniß einer kleinen Stadt nie.“

Lüdinghausen sah ihn an. Alle Wärme, die vorhin sein Gesicht so schön durchleuchtet hatte, war wieder erloschen. Er sah wie immer kühl und klug aus.

„Sie sind völlig im Irrthum, lieber Raimar,“ sprach er langsam. „Die Gründe, welche mich bestimmten, einen Wirkungskreis wie diesen zu suchen, waren tief erwogen und wurzelten in der Erkenntniß der Größe meiner künftigen Pflichten. Sie bestehen doch unverändert fort, diese Gründe, und haben mit meinem Privatleben nichts zu thun. Den kleinen Ereignissen in diesem darf ich die Ernsthaftigkeit jener nicht unterordnen, ganz abgesehen davon, daß es mir beinahe albern vorkäme, mit dem Staat so kurzer Hand umzuspringen, ihm mit meiner etwaigen Empfindlichkeit lästig zu fallen, indem ich sagte: erst habe ich dich um ein Amt gebeten, du hast es mir gegeben; nun hat mich hier jemand belügen wollen, also nimm mich weg und gieb mir eine andere Stätte. Aber diese Empfindlichkeit ist nicht vorhanden, mein lieber Raimar, ich versichere Sie. Wie schlecht müßte es um mein Selbstbewußtsein bestellt sein, wenn ein paar neugierige Blicke, ein paar unzarte Bemerkungen es schon zu erschüttern vermöchten. Ich denke das mit Gleichmuth zu ertragen!“

Dieser ruhige Stolz machte auf Raimar einen tiefen Eindruck. Er fühlte wieder, daß es ein ganzer Mann war, der ihm da gegenübersaß.

„Aber die Römpkers?“ fragte er zaghaft. „Sehen Sie, ich werde ja hinfort Bedacht nehmen, Sie nie zusammen einzuladen. Allein andere werden es mit harmlosen Mienen und mit heimlicher Schadenfreude thun.“

Erasmus Lüdinghausen lächelte ein wenig.

„Wenn Herr von Römpker und Fräulein Lea sich nicht scheuen, mir zu begegnen,“ sagte er – „mir scheint, ich bin es nicht, der die Augen niederzuschlagen hat. Mögen sie mich meiden oder mich treffen – es ist ihre Sache, nicht die meine.“

Der gute Raimar hatte allerdings nicht diese souveräne Höhe der Anschauung. Er suchte nach erleichternden Auswegen und rief:

„Nun, das wird sich alles besser und leichter machen, als man heute denkt. Clairon und Lea werden um jeden Preis sehr schnell heirathen, dann läßt Clairon sich versetzen und die beiden sind aus dem Wege.“

„Glauben Sie so gewiß, daß der Graf Fräulein Lea heirathet?“ fragte Lüdinghausen erstaunt.

„Lea muß ihn jetzt doch nehmen,“ sagte Raimar, „die etwaigen finanziellen Schwierigkeiten werden und müssen geebnet werden, der Alte muß eben rechnen lernen.“

Das entfuhr ihm so unbedacht. Lüdinghausen hemmte einen Laut auf seiner Lippe, aber in seinem Auge blitzte es auf. Diese Worte hatten ihm endlich einen erhellenden Funken in die Seele geworfen und dort rasch das Licht eines völligen Verständnisses entzündet.

Trotzdem verrieth er dem guten Mann, den wohl der schnell getrunkene Punsch so redselig machte, mit keiner Silbe, daß er verstanden habe.

„Ich kenne den Herrn Grafen zu wenig,“ sagte er, „ich weiß nicht, wie er handeln wird. Ich weiß nicht, ob er Fräulein Lea nehmen wird – das war es, was ich sagen wollte. Jeder hat seine eignen Ehrengesetze: die meinen würden mir verbieten, ein Mädchen noch zu heirathen, das sich ohne wahrhaft innerlich zwingende Gründe einem andern geben wollte.“

„Ah,“ machte Raimar verblüfft. Die Möglichkeit schien ihm denn doch undenkbar. Lüdinghausen war auch zu strenge.

„Da kenne ich Clairon besser. Er wird tüchtig wettern, sich vielleicht mit Ihnen schlagen wollen, aber schließlich …“

Lüdinghausen konnte nicht mehr einwenden, daß eine Forderung Clairons an ihn ja der bare Unsinn wäre, denn Raimar unterbrach sich, sprang auf und eilte an das Fenster.

„Ein Wagen? Das ist Claußen natürlich. Aber warum fährt er hier vor? Gewiß noch eine Bestellung von Römpker.“

Er stieß mit der Stirn an die Scheibe, hinter derselben war ägyptische Finsterniß, denn die Läden waren schon vorgemacht.

„Hier ist die Welt buchstäblich mit Brettern vernagelt. Na, da bin ich aber begierig …“

Draußen wurde es schon laut, denn Christel hatte mit einem heißen Punsch die Heimkehr ihres Freundes Claußen erwartet, um den zweifelsohne Durchnäßten vor Rheumatismus zu schützen. Claußen war nicht mehr so wetterfest wie die zehn Jahre ältere Christel.

„Herrjes! Herrjes!“ hörte man Christel zweimal laut rufen.

Raimar riß die Thür auf und prallte zurück.

Da stand eine Gestalt auf der Schwelle, in nassen, dunklen Kleidern, mit verwirrtem Blondhaar und großen, traurigen Augen im blassen Gesicht. Sie neigte das Haupt wie ein armer Sünder, der lieber sterben als noch weiter fliehen will.

„Rahel!“ schrie der alte Mann.

„Rahel,“ sagte leise der andere, der bleich wurde und so erschrak, daß er sich mit dem Rücken gegen den Ofen lehnen mußte, vor dem er gerade stand. Einen Herzschlag lang war ihm, als müsse er vorwärts stürzen zu ihr hin, sie umklammern und zu ihren Füßen ihr danken für das, was sie für ihn gethan hatte.

Der Schreck lähmte ihn. Wie sie aussah! Wie jemand, der in höchster Lebensnoth ist. Und das Antlitz, das er immer wie einen lichten Tag gefunden, es war gefurcht von Thränenspuren und gleichsam verdunkelt von Leiden.

„Mein Kind,“ rief Raimar und suchte sie an der Hand zu fassen und an sich zu ziehen. „Wo kommst Du her? Was haben sie Dir gethan?“

Rahel folgte ihm wankend ins Zimmer. Sie schüttelte stumm den Kopf.

Christel hatte sich in aller Geschwindigkeit von Claußen unterrichten lassen.

„Er hat ihr unter unserm alten Grenzapfelbaum gefunden. Da stand sie und weinte. Sie wollte, daß er sie hierherbringe, und das that er denn auch,“ erzählte sie. „Mein Gott, das arme Kind! Wir behalten ihr wohl hier die Nacht? Ich will man gleich die blaue Stube aufschließen und das Bett wärmen.“

Christel hatte an allen Römpkers viel auszusetzen, sie waren ihr zu vergnügungssüchtig und sie sah in Römpker den Verführer ihres Herrn. Nur bei Rahel machte sie eine Ausnahme, ihr war sie sehr zugethan, ja sie fühlte ein Anrecht an sie, weil ihr Herr Rahel aus der Taufe gehoben hatte. Was auch geschehen sein mochte – daß das Mädchen hierher zu Raimar und Christel gekommen war, bewies für Christel ohne weiteres, daß die Arme jedenfalls im Recht sei. Sie ging, um alles für ihre Aufnahme zu bereiten.

„Was ist Dir geschehen?“ rief Raimar und half ihr mit ungeschickten Händen Hut und Mantel ablegen.

„Nichts,“ hauchte sie.

„Ach was! Um nichts läuft ein so verständiges kleines Menschenkind nicht in die Nacht hinaus,“ schalt er.

Da fiel sie ihm um den Hals.

„Sie sagten schlimme Worte, aber ach, sie haben sie nicht so gemeint. Ich war so thöricht, ich glaubte wirklich, sie wollten mich nicht mehr sehen. Doch ich hätte warten sollen – morgen vielleicht, morgen denken sie gewiß anders.“

„Jawohl, Du bist ein kleines Schäfchen,“ sagte Raimar tröstend, der sich dabei recht wohl vorstellen konnte, wie man gegen die arme Rahel getobt hatte, „natürlich haben sie es nicht böse gemeint. – So, so!“

Er klopfte ihr leise auf den Rücken, wie er es hatte bei Kindern thun sehen.

Sie blieb still an seiner Brust. Aber über seine Schulter hinweg fanden plötzlich ihre Augen ein anderes Augenpaar, das dort aus der Dämmerung her unverwandt ihre Blicke suchte.

Sie konnten sich nicht losreißen voneinander, diese Augen, und es schien, als wollten sie Seelen ergründen.

Während Raimar so das Mädchen lange und still in seinen Armen hielt, erwachten allerlei sonderbare Gedanken in ihm. Erst fand er es doch sehr unangenehm, daß Lüdinghausen mit jemand von Römpkers zusammengetroffen sei, dann fielen ihm die

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