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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

den Ställen zu gehen. Aber sie unterließ es doch und ging mit ihrem gewöhnlichen, gleichmäßigen Schritt weiter, zum Parkthor hinaus.

Es war so dunkel, wie eine Regennacht im August nur sein kann. Der schreitende Fuß hob sich schwer aus dem aufgeweichten Boden. Den Schleier, welchen Rahel um ihr Gesicht gebunden hatte, mußte sie entfernen, denn er nahm ihr die Möglichkeit, auch nur das Geringste zu erkennen.

Schwarz war alles: die Luft, die Erde, die Bäume, die Wegeslinie. Dennoch hoben sich aus der Dunkelheit zuweilen die Körper hervor, die durch ihren Mangel an Durchsichtigkeit noch schwärzer wirkten als die Nacht selbst. Die Baumstämme am Wege wurden in einer gewissen Nähe deutlich und an ihnen, die sie alle genau kannte, sah Rahel dessen Richtung, die sie auch durch den tastenden Fuß fand, da dieser ein Abirren in den grasigen Rain sogleich fühlte.

Mit einer drückenden Eintönigkeit war der Regen den ganzen Tag herabgefallen, seit einigen Stunden kämpfte ein leichter Wind mit dem Wolkenmeer am Himmel. Rahel hatte den Wind von der Seite und merkte bald, daß ihr Mantel dort naß und immer schwerer wurde. Dabei schritt sie stetig vorwärts.

Bei der Bewegung des Gehens arbeitete das Gehirn doppelt rastlos und frisch. Rahel wiederholte sich immer wieder, was sie schon seit einer Stunde gedacht; aber ganz unmerklich wirkte das steigende Unbehagen ihres Körpers auf ihre Gedanken und stimmte diese immer zaghafter.

Ihre Schuhe waren ganz durchnäßt, das Kleid, welches ihre Hand bisher zusammengerafft hatte, mußte sie loslassen, weil ihr die Finger lahm wurden. Nun schlug der nasse und bald vom Straßenschlamm schwere Kleidersaum um ihre Füße. Sie stolperte zweimal und erschrak jedesmal so, daß ihr Herz rasend kopfte. Davon stieg ihr das Blut zu Kopf und sie hörte allerlei sausende Geräusche, welche ihre erwachende Angst nach außen verlegte und für Wirklichkeit hielt.

Und jäh wußte sie, daß das, was sie hier that, keineswegs einfach und natürlich war, sondern sinnlos und verzweifelt.

Sie blieb stehen und weinte vor Erschöpfung und vor Scham.

Wie lange sie wohl gegangen sein mochte? Sie wußte es nicht. Der Baum, an welchem sie so jammervoll stand, schien ihr der alte Apfelbaum zu sein, welcher auf der Kohlhütter Grenze die Reihe der Ebereschen am Weg unterbrach. Dann lag mehr als der halbe Weg hinter ihr, und „zurück“, das hieß mehr Mühen, Nässe und Dunkelheit überwinden, als wenn sie sich vollends ans Ziel schleppte.

Zurück?!

Rahel zitterte heftig. Hier in dieser bangen Verlassenheit wurde noch eine Stimme in ihr laut, welche sie im Licht ihres Zimmers nicht zur Sprache hatte kommen lassen. Morgen, wenn sie der Schwester wieder ins Auge sehen mußte, würde diese vielleicht noch einmal sagen: „Du wolltest ihn wohl für Dich selbst!“

Dies Wort konnte sie nicht noch einmal hören. Lieber ewig so fortwandern in Angst und Beschwerde.

Sie wollte weiter, allein ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr; ihre Kniee zitterten und es fehlte ihr an Willensmacht, dem Körper zu gebieten. Sie lehnte sich gegen den Baumstamm. Daß sie hier nicht stehen bleiben könne, bis der Morgen tage, war der letzte klare Gedanke, der noch mit ihrer fassungslosen Verzweiflung rang. Sie weinte, weinte alle Thränen, die sie seit Monaten zurückgehalten hatte.

Durch das rauschende Getön der im Wind bewegten nassen Baumkrone klang ein dumpfes Rollen. Sie hörte es gar nicht. Sie merkte nicht, daß ein Wagen herankam, und hätte ihn gewiß mit einem stumpfen Blick äußerster Gleichgültigkeit an sich vorbei gelassen.

Aber der Kutscher hatte neben seinem Bock die Laternen brennen, welche seinen Pferden die nächste Wegstrecke beleuchteten und ihr ausstrahlendes Licht auch über die Bäume am Rain gleiten ließen, so daß diese in ausnahmsloser Regelmäßigkeit vor seinem Auge kurz auftauchten und wieder in die Nacht hinter ihm zurücktraten.

„Na nu,“ sagte der Mann und hielt sein Gespann an, als der Schein ihm eine Gestalt unter dem alten Apfelbaum an der Kohlhütter Grenze zeigte.

„Heda, Sie!“ rief er und senkte seine Peitschenspitze auf die Gestalt zu, als wollte er sie antippen, aber die Peitsche reichte nicht so weit.

Jetzt sah er, daß er ein weinendes Weib vor sich hatte. Das wurde ihm denn doch zu bunt, besonders auch, weil sie nicht antwortete und die Hände nicht vom Gesicht nahm. Er fühlte sich von den Zeiten her, da sein Herr Landrath gewesen war, noch immer als „Behörde“ und hatte die Neigung behalten, mit väterlicher Strenge das junge Volk in der Gegend zu ermahnen. Er kletterte vom Wagen und hatte dabei in Gedanken schon ein Dutzend Personen als verdächtig an sich vorübergleiten lassen.

„I, du lieber Himmel! Das kommt mir doch vor, als wenn’s unsere Trine ist. Und bei solchem Wetter treibst Du Dich auf der Landstraße herum? Wohl wieder hinter dem Heini? He, was? Er heirathet Dich doch nicht.“

Der Alte, dem das Wasser von seinem mit Wachstafft bezogenen Cylinder wie eine Traufe vorn herunterfloß, packte Rahel hart am Arm. Er hatte natürlich nur an irgend eine Kuh- oder Küchenmagd von Kohlhütte gedacht.

Als Rahel die Stimme so nahe hörte und den Griff am Arm verspürte, seufzte sie tief auf und erhob ihr Gesicht.

„Ich bin es, Claußen,“ sagte sie leise.

Der gute Mann war für sie ein Stück von Raimar selbst. Seit sie denken konnte, kannte sie ihn.

Claußen taumelte fast zurück. Die Römpkers waren für ihn, nächst seinem Herrn, die am meisten respektheischenden Personen von der Welt. Aber bei einer solchen Gelegenheit ging der Respekt in Erstaunen, Neugier und abfälliger Kritik unter.

„Na, da hört sich einfach allens auf,“ sagte er breit und sah Rahel von oben bis unten an.

„Da bei Ihnen auf Römpkerhof ist ja wohl heute der Deubel los. Erst muß mein Herr hinfahren, bei dem Wetter, wo wir sonst nicht mal ’nen Ackergaul riskieren, geschweige denn die Füchse. Aber es hilft nicht. ‚Claußen,‘ sagte er, ‚auf Römpkerhof ist was Feierliches im Gange.‘ Schön feierlich! Kunterbunt ist es zugegangen. Vom Essen sind sie weggelaufen und mein Herr fährt mit dem jungen Landrath auf und davon. Und hier finde ich das kleine Fräulein!“

Nach einer kleinen Pause, während welcher Rahel ihn matt ansah, fuhr er zögernd fort:

„Soll ich Ihnen nach Römpkerhaf zurückfahren? Es ist ein bißchen viel für die Füchse, in dem Regen …“

„Nehmen Sie mich mit, Claußen,“ bat Rahel schnell, „ich kann auf Kohlhütte bleiben.“

Aus Rücksicht auf seine Pferde unterdrückte Claußen die Bemerkung, ob man sie zu Hause denn nicht vermissen werde. Er knöpfte das Leder los und half Rahel in den Viktoriawagen steigen. Dabei brummte er, daß ihm so eine verrückte Geschichte auch noch nicht vorgekommen sei und daß man besser gethan hätte, allerseits zu Hause zu bleiben, denn er habe bloß Mühe davon, indem er morgen den Wagen zwei Stunden putzen könne.

Er kletterte wieder auf den Bock und fuhr zu.

Rahel barg sich tief in einer Ecke unter dem Verdeck.

Ihre Thränen versiegten. Sie starrte ins Dunkel. So, schien es ihr, lag auch nachtgleich ihr zukünftiges Leben vor ihr.

Sie fühlte sich ganz aus der ruhig sicheren Bahn ihres bisherigen Seins geschleudert und fragte sich verzweifelt, wie das gerade ihr habe geschehen können, die das Ungewöhnliche nie gewollt und nie gesucht habe.

Es hatte ihr immer als etwas so Selbstverständliches geschienen, Wahrheit zu geben und Wahrheit zu fordern.

Und durch diese Forderung hatte sie sich jetzt von ihrem ganzen friedlich stillen Dasein entfernt und war auf die Bahnen des Ungewissen, ja des Zweideutigen gerathen. Denn was sollte die Welt von einem Mädchen denken, das im Zwist mit Vater, Mutter und Schwester allein in die Nacht hinauslief!

„Und dennoch,“ dachte sie mit einer leidenschaftlichen Festigkeit, „dennoch war es recht. Ich durfte nicht leiden, daß man ihn betrog.“

(Fortsetzung folgt.)



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