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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


„Wollen Sie nicht herein kommen, Hilde? Sie werden sich erkälten in dem scharfen Winde,“ erklang jetzt Antjes Stimme völlig ruhig.

Und sie kam.

Im Flur stand Jussnitz mit Kortmer. Hilde ging mit stolzerhobenem Haupte an ihnen vorüber der Treppe zu.

Leo verbeugte sich artig und förmlich gegen das Mädchen; aber sie erwiderte den Gruß nicht, sie stieg Schritt für Schritt die Treppe empor und ging langsam den Gang entlang. Droben in der Stube angekommen, sagte sie zu Doktor Maiberg, der geduldig neben dem Bettchen des Kindes saß: „Gehen Sie, ich bitte Sie dringend, ich möchte allein sein.“

„Und wenn ich das angesichts Ihrer hochgradigen Erregung nicht thun will?“

„Sie werden es thun – Jussnitz ist soeben angekommen.“

Er sah sie fast mitleidig an. „Sie sollten sich nicht so hinreißen lassen, Fräulein Hilde,“ sagte er im Hinausgehen mit verdüsterter Miene.

Hinter ihm ward die Thür verschlossen. Dann hörte er ein Weinen, ein bitterliches Weinen, das offenbar mit aller Mühe unterdrückt werden sollte und doch so ungestüm hervorbrach. Und unter diesem Schluchzen, in welches das geängstigte Kind mit einstimmte, rang sich ein heißes Gebet von ihren Lippen: „Laß sie sich finden im Angesicht der Todten! Laß die Spuren meiner Tritte verwehen auf dem Lebensweg jener beiden, lieber Gott, ich bitte Dich darum – erhöre mich oder laß mich sterben!“

Der Außenstehende vernahm nur einige Worte davon; kopfschüttelnd ging er hinunter. Er fand Jussnitz allein im Wohnzimmer; die Wirthschafterin deckte im Verein mit einer Magd den Theetisch nebenan in der Eßstube.

„Grüß Gott, Leo!“ sagte Maiberg.

Jussnitz schnellte förmlich empor; seine Augen erweiterten sich, aber er fand kein Wort. Der andere stand schweigend vor ihm.

„Wie kommst Du hierher?“ fragte Jussnitz heiser.

„Auf Wunsch Deiner Frau!“

Er lachte kurz auf. „Allerdings, das hätte ich mir sagen können!“

„Das hättest Du, Leo?“

„Ja freilich, mitunter hat man – denkt man an das Nächstliegende nicht,“ bemerkte Jussnitz mit eigenthümlicher Betonung.

Ueber Maibergs Gesicht zuckte ein flüchtiges Lächeln und er sah plötzlich weniger düster aus.

Dann traten die beiden alten Damen ein, die Schwestern des Bergraths, die Wirthschafterin folgte und nöthigte die Herrschaften ins Eßzimmer. Frau Jussnitz lasse um Entschuldigung bitten, wenn sie bei Tische nicht zugegen sei; sie habe noch so viel zu besorgen.

Es war so glaubhaft, und nur der alte Kortmer wußte, daß sie unthätig droben weilte in ihrem Mädchenstübchen; aber wie groß ihr Kummer war, das ahnte der alte Herr doch nicht. Sie ging beständig auf und ab wie ein Mensch, der die Beute vollster Verzweiflung ist.

Ein einziges Licht brannte in dem Raume und ließ zur Noth die Möbel, die altmodische Tapete und die niedrige getäfelte Decke erkennen. Das duftige weiße Himmelbett, in dem sie ihre Jugendträume geträumt hatte, hob sich fast gespensterhaft aus der dämmernden Tiefe.

Antje hatte einmal etwas vom „zweiten Gesicht“ gehört, und es war ihr, als liege dort in den Kissen ein blondes verweintes Haupt, als rängen sich zwei Hände in heißem Schmerz ineinander – was ist nur aus Dir geworden, Anna Frey?

Sie lieft bis zur Thür hinüber; sie wollte sich ihr Kind holen, das Einzige, was sie noch besaß auf der Welt. Wie kam jene andere dazu, es auch nur eine Minute pflegen zu dürfen? Aber die Hände sanken ihr vom Drücker – sie wollte ihn nicht treffen dort drüben; den Anblick hätte sie nicht ertragen, jene beiden zusammen – am Bette Leonies.

Mein Gott, er war ja nur gekommen, weil Hilde hier war! Wieder sah sie im Geiste die leichte Gestalt die Treppe hinunter, durch den Vorsaal fliegen, ihm entgegen – und sie zwang sich, fern zu bleiben von der Kleinen; zum ersten Male sagte sie ihr nicht Gute Nacht! Sie flüchtete auf das Sofa und barg den Kopf in den Kissen, damit sie nur nicht seinen Schritt vorübergehen hören müsse nach der Kinderstube; sie war in dieser Stunde nichts weiter als das leidenschaftlich liebende Weib, welches den letzten endgültigen Beweis zu erhalten fürchtet, daß sie den Geliebten verloren hat.

Endlich schrak sie empor und lauschte, mit fliegendem Athem, die Hand an der pochenden Schläfe. Es erklangen Stimmen draußen, die Leos und Maibergs; Antje hörte, wie sich die Herren Gute Nacht wünschten. Auch die Stimme Hannes scholl herüber:

„Herr Jussnitz,“ sagte sie, „ich habe Ihnen Ihr altes Zimmer wiedergegeben, wenn’s Ihnen so recht ist; die gnädige Frau meinte – –“

Seine Antwort drang nicht bis zu ihr, er hatte sich mit raschen Schritten entfernt.

Antje athmete auf, und dann brach ihr eine wahre Thränenfluth aus den Augen. – Mein Gott, was wollte sie denn? Sie war ja auf dem Punkt gewesen, zu vergessen, daß er sie seine Kette genannt hatte, daß sie ihn freigeben mußte!




Das Begräbniß war vorüber.

Vom Herrschaftshause, quer über den mit schwarzem Staube bedeckten Platz, den auf einer Seite die Wohnungen der Arbeiter, auf der andern die Hüttengebäude begrenzten, hatte man den Leichenweg mit dick verstreutem weißen Sande und Tannenzweigen angezeigt. Dieser geschmückte Pfad wand sich längs des rauschenden Flusses, der sonst die heute in feierlicher Stille ruhenden großen Hämmer trieb, hinab durch das Dorf bis zu dem kleinen Friedhof.

Vor dem Gasthof „Zur grünen Tanne“ in Oberrode stand eine Menge Wagen; in der großen Wirthsstube saßen die Herrschaften, die gekommen waren, um der überall verehrten Frau das letzte Geleit zu geben, die aber dem Hause doch nicht so nahe standen, um auf dessen Gastfreundschaft heute rechnen zu können. Es waren Forstbeamte, Fabrik- und Grubenbesitzer, Gutsherren, Geschäftsfreunde. Auch die gastliche Pfarre war in Anspruch genommen durch Leidtragende. Alle Welt wußte, daß nach dem Begräbniß das Testament verlesen werden sollte, und alle Welt war neugierig auf die Lösung, wer nun dieses große Besitzthum erhalten würde.

In der „Grünen Tanne“ ward besonders lebhaft verhandelt. Der eine behauptete, „Gottessegen“ werde nun wohl Aktiengesellschaft werden und der Herr Schwiegersohn allenfalls einer der Hauptaktionäre bleiben.

Ein Zweiter wollte wissen, daß die Bergräthin nie eine Freundin von Aktienunternehmungen gewesen sei.

Der Dritte erklärte mit Bestimmtheit, die Tochter werde mit einem ansehnlichen Kapital abgefunden und der Ferdinand Frey bekomme die Hütte, natürlich gegen Vergütung an die Jussnitzens.

„Wer ist der Ferdinand?“

„Nun, der Frey, der beim Bergamt in H. angestellt ist. – Sie kennen doch den Frey?“

„Ja, natürlich!“

„Das wäre aber ungerecht gegen die Tochter!“

„Du lieber Gott, die hat wahrhaftig genug!“

„Na, Na! Der Herr Schwiegersohn wird’s schon klein kriegen, und das hat die alte Bergräthin genau gewußt, die hörte das Gras wachsen. Herr Gott, war das eine Resolute; paßt nur mal auf, die hat da ganz was Besonderes ausgedacht!“

Und in dem Trauerhause fanden sich just die paar Menschen zusammen, die der Eröffnung des letzten Willens der „resoluten Frau“ beiwohnen sollten. – Durch die Fenster des Zimmers schaute ein trüber regnerischer Nachmittag; es roch betäubend nach Cypressen, Wachholder und Tuberosen. Man stand flüsternd bei einander, der Vetter, Ferdinand Frey, ein junger Mann mit brünettem gewinnenden Gesicht; die alten Schwestern, die sich an der Hand hielten in banger Erwartung, ob sich ihr Los erträglich gestalten würde; der Prediger, der Notar, Herr Kortmer und – Jussnitz.

Antje fehlte noch, man wartete auf sie. Endlich erschien sie, blaß, mit ihrem schlichten gescheitelten Haar, dem düstern Trauergewande und den im Leid fast vergangenen Augen. Der alte Notar ging ihr entgegen und geleitete sie zu ihrem Platz, wo sie sich sofort niedersetzte. Den Blick gesenkt, die Hände über einander gelegt, saß sie da, neben ihr Leo, hinter ihrem Stuhl Ferdinand Frey, den die Eltern ihr einst als Gatten bestimmt hatten.

(Fortsetzung folgt.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_244.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)