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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Telegraphiren Sie, lieber Kortmer,“ sagte Antje endlich.

Er ging aus dem Zimmer, um die Depesche aufzusetzen. Sie aber sank in den alten Arbeitssessel vor dem Schreibtisch nieder und schlug die Hände vor das Gesicht. Es war so furchtbar schwer: wie sollte sie sein Ausbleiben vor den Leuten entschuldigen? Er durfte ja nicht kommen, er konnte nicht! Wie war der Schmerz um die Verstorbene so lind, so wohlthuend gegen den Schmerz, welchen sie vor aller Welt verbergen mußte!

Ein leises Pochen an der Thür ließ sie zusammenschrecken – wenn er dennoch käme? Nein, es war nur Hanne, die Wirthschafterin; sie hatte einen langen Zettel in der Hand, auf dem von der Hand der verstorbenen Frau die bestimmtesten Anweisungen für ihr Begräbniß gegeben waren.

Antje mußte nun vom Boden in den Keller, mußte Truhen und Schränke aufschließen; es war für alles gesorgt, was zu solch trauriger Feierlichkeit gehört. Sogar die Trauerschürzen für die Dienstmädchen, die Kreppbinden, welche die Herren des Kontors um die Hüte tragen sollten, alles lag bereit, „denn“ – so hieß es aus dem Zettel, „ich weiß, wie schwer es ist, wenn man mit trauerndem Herzen für solch Zeug zu sorgen hat. Hab’s an mir erfahren, als mein lieber Mann starb; möcht’ es meiner Antje leichter machen.“

Wie eine Mutter so rührend sorgt und denkt, noch über den Tod hinaus!

Die Brust der jungen Frau hob ein Schluchzen, als sie die Worte las.

„Ach Gott, Frau Jussnitz,“ seufzte die alte Wirthschafterin, „wie soll’s nur werden in diesem Hause ohne die Frau Bergrath? So eine Seele wie Ihre Mutter, die giebt’s nicht zum zweiten Male auf dieser Welt. Wenn Sie nur hier bleiben könnten, Frau Jussnitz!“

Antje schwieg; sie wußte ja nicht einmal, ob sie hier bleiben durfte in dem verwaisten großen Hause. Sie hatte keine Ahnung, wie sich ihr Leben gestalten würde, nur das eine wußte sie, daß sie überall allein stehen würde in der Welt, sie und ihr Kind.

Antje ging endlich nach dem großen Saal des Erdgeschosses, in dem die Mutter aufgebahrt lag. Dieser Raum hatte Flügelthüren, welche nach der Gartenterrasse führten, und schloß sich an die sogenannte Besuchsstube an, auf die das Wohnzimmer der Frau Bergrath folgte, dessen Fenster die Aussicht nach den großen rauchgefärbten Gebäuden der Hütte und den Häuserchen der Arbeiter gestatteten. Eine Reihe alter schöner Linden stand vor diesen Fenstern, wie die verkörperte Poesie inmitten der Prosa dieser Welt der Arbeit, des eisernen Fleißes.

In dem Saale war Hanne beschäftigt, Unmassen von Kränzen zu Füßen der Todten zu ordnen. Es gab kein Haus in der ganzen Umgegend, das nicht wenigstens ein kunstloses Gewinde aus Tannengrün gespendet hätte, und immer kamen noch mehr. Der Sarg war umgeben von der Orangerie, die der Stolz der Verstorbenen gewesen; ganze Büschel weißer Kerzen leuchteten aus dem dunklen Grün.

Zuweilen trat die eine oder andere der Frauen der Arbeiter mit ehrfürchtigen leisen Schritten über die Schwelle, ein Kind mit erschreckten ängstlichen Augen an der Hand, um sich die Todte noch einmal anzusehen, in das Taschentuch zu schluchzen und Antje die Hand zu drücken. Diese ließ es stumpf geschehen in ihrem starren Schmerz.

„Weinen Sie doch, junge Frau,“ sprach ein runzliges Mütterchen zu ihr, „es wird Ihnen leichter ums Herz; so ein Todtes ohne Thränen, das ist nicht gut!“

Sie nickte der Alten zu, hatte aber gar nicht verstanden, was diese von ihr gewollt hatte. Dann ging sie rasch ins Besuchszimmer.

„Was soll denn das?“ fragte sie und deutete auf einen schwarz verhangenen Tisch, der ein Tintenfaß und zwei silberne Armleuchter trug, während eine doppelte Reihe Stühle ihm gegenüber stand.

„Die Frau Bergrath wollte es so,“ antwortete Hanne, die eben schwarze Kreppschleifen über den Bildern von Antjes Eltern befestigte. „Haben Sie es denn nicht gelesen, Frau Jussnitz? Hier soll doch nach dem Begräbniß das Testament eröffnet werden, und auf den beiden vordersten Stühlen sollen Sie und Herr Jussnitz sitzen.“

Antje wandte sich rasch um und kehrte in den Saal zurück. Mit gefalteten Händen trat sie zu dem Sarge.

„Gottlob,“ flüsterte sie, „Du brauchst es nicht zu sehen, wie ich dort sitzen werde, so allein – so ganz allein!“

Indessen waltete Hilde von Zweidorf in der Kinderstube. Die Kleine mochte sich erkältet haben auf der Reise; sie weinte viel und verlangte nach der Mutter. Hilde wußte, daß die junge Frau über Gebühr in Anspruch genommen war durch die Vorbereitungen, die ja nun einmal unumgänglich nöthig sind bei solch traurigen Ereignissen, wie es ein Begräbniß ist. Sie versuchte daher nach Kräften, das Kind zu beruhigen, es in den Schlaf zu lullen, es lachen zu machen. Vergebens.

Antje war einige Male hereingekommen in ihrem düsteren Trauerkleide, mit dem blassen vergrämten Gesicht, und da hatte das Kind hellauf geweint vor Schreck; es fürchtete sich vor dem schwarzen Gewand.

Endlich, gegen Abend des zweiten Tages, ließ Hilde, erschöpft und solcher Anstrengungen ungewohnt, Herrn Dokor Maiberg bitten, sich die Kleine anzusehen.

Er trat in das helle, altmodisch behagliche Zimmer. Hilde saß, das Kind auf dem Schoße, vor dem Tisch und baute mit unermüdlicher Geduld die Holzklötzchen auf, die der kleine Eigensinn beharrlich wieder umwarf. „Die Mama kommen!“ war seine ewige Forderung, „aber nicht die schwarze Mama!“

„Wahrscheinlich irgend eine Kinderkrankheit im Anzuge,“ sagte er und legte die Hand auf das heiße Köpfchen, „vorläufig läßt sich nichts weiter thun, als in Geduld abwarten, gnädiges Fräulein. Soll ich Ihnen nicht lieber noch irgend eine Hilfe schaffen?“

„Danke!“ lehnte sie kurz ab.

„Sie scheinen selbst leidend?“

„Durchaus nicht! Aber bitte, sagen Sie mir, Herr Doktor –“ sie stockte und ward roth. „Sagen Sie mir,“ begann sie wieder, „weshalb kommt Herr Jussnitz nicht?“

„Wissen Sie es nicht?“ fragte er scharf zurück. Aber im nächsten Augenblick bereute er es schon. Sie hatte ihn angesehen, so hilflos, so jammervoll, und das stolze Köpfchen hatte sich gesenkt, tief gesenkt; wie gebrochen saß sie da. Mit erschreckender Gewißheit überkam es ihn, daß irgend etwas Entscheidendes in Sibyllenburg geschehen sein müsse. Er griff nach ihrer Hand und wollte sprechen.

„Lassen Sie das,“ sagte sie schroff und erhob sich. Das Kind auf dem Arm, das in Geschrei ausbrach, weil es sein Spielzeug nicht mehr hatte, begann sie im Zimmer auf und ab zu gehen, nicht imstande, die Kleine zu beruhigen, nicht imstande, das eigene Schluchzen zurückzudrängen.

Er trat hinzu und nahm ihr die ungebärdige kleine Last ab. Und sie floh aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, durch den Flur.

Sie sah nicht, daß Antje dort mit der Wirthschafterin vor dem großen Leinenschranke stand, sie hatte nur den einen Gedanken – hinaus, die brennende Scham zu verstecken, nicht wieder zu kommen, nie!

Der Wind riß ihr die schwere Hausthür aus der Hand; sie ließ sie offen und stürzte die Stufen hinab, und dann blieb sie plötzlich stehen und klammerte sich an das eiserne Geländer in jähem Schrecken; dort fuhr ein Wagen an, aus dem sich eine geschmeidige Männergestalt schwang.

Es war ihr, als müsse die Erde sie verschlingen, – es war Jussnitz.

Sie sah, wie Antje ihm entgegenschritt; sah beim Schein der Laterne, wie das Auge der jungen Frau sie suchte, wie dieser Blick vorwurfsvoll fragte: „Nicht so lange kannst Du Dich zügeln? Nicht die Gegenwart der Todten unter diesem Dache hält Dich ab, ihm entgegen zu eilen?“

Sie konnte ja nicht anders denken, die Frau dort, als daß sie, Hilde, ihm entgegengestürzt sei in dem alles vergessenden Jubel des Wiedersehens, der Liebe!

Sie hatte kein Tuch um, keinen Hut auf; sie konnte nicht sagen: „Ich suchte kalte herbe Luft, ich hätte ersticken müssen da droben!“

Zitternd wie eine Schuldbeladene stand sie da.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_243.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)