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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

gewesen sei, wenn man berichtet habe, die Herzogin sei ihm von früher her bekannt gewesen und er habe sie jetzt trotz ihrer Verkleidung wiedererkannt; sie sei ihm vielmehr zum ersten Male begegnet; nur durch ihre für eine Bäuerin auffällig elegante Haltung und durch die Weiße und Kleinheit ihrer nackten Füße sei sie ihm aufgefallen, und er habe allerdings vermuthet, wer sie sei. Er habe aber an ihrer Verhaftung keinen Antheil haben wollen und deshalb seine Vermuthung für sich behalten. Es ist dies nicht der einzige Fall, daß Offiziere und Beamte der neuen Regierung sich durch überkommene Anhänglichkeit an das alte Königshaus zu besonderer Rücksicht für die Herzogin bestimmen ließen. König Louis Philipp selbst hat um diese Zeit Legitimisten, von denen er voraussetzen durfte, daß sie Beziehungen zu der Herzogin unterhielten, den aufrichtigen und dringenden Wunsch ausgesprochen, sie möchten sie zum Verlassen des Landes bewegen, denn wenn sie in die Hände der Behörde falle, so werde dies zu Weiterungen führen, die ihm nicht weniger unangenehm sein würden, als der Herzogin, die dann aber aus politischen Gründen sich nicht würden vermeiden lassen.

In Nantes blieb Marie Karoline einige Tage in einem Frauenkloster, siedelte dann aber in das für sie ausgewählte Haus zweier Fräulein von Guiny über, auf deren Ergebenheit und Verschwiegenheit sie unbedingt zählen konnte. Sie bewohnte eine mit einem besonderen Versteck versehene Dachkammer im dritten Stockwerk und verschwand in diesem Versteck, wenn sie irgend ein verdächtiges Geräusch im Hause hörte oder wenn die Damen auf irgend einen Verdacht oder eine Befürchtung hin die in der Dachkammer angebrachte Klingel in Bewegung setzten, was von allen Stockwerken aus möglich war. Ihre Wohnung kannten nur wenige ihrer Anhänger, und nur einzelne Auserwählte empfing sie zum Besuch. Ihre Beschäftigung bestand darin, daß sie mit den Legitimisten im Lande Verbindungen unterhielt; sie hat in fünf Monaten etwa 900 Briefe geschrieben.

Im Herbst nahm im zweiten Stockwerk desselben Hauses der Advokat Achille Guibourg Wohnung, der bei der Erhebung der Vendée als „Civilkommissar“ der Herzogin gedient hatte und sich vor der Polizei ebenfalls verborgen hielt. Im Jahre 1799 geboren, war er im Jahre 1889 noch am Leben und lebt vielleicht jetzt noch. Er war „der fürstlichen Witwe Freund und wohl mehr als Freund.“

Das Schalten der Herzogin in Frankreich war auch nach ihrer Niederlage eine ernste Gefahr für den Bestand der Regierung Louis Philipps. In demselben Maße, wie die Herzogin auf einen auswärtigen Krieg hoffte, war die Regierung durch einen solchen bedroht, wenn der Herzogin die Aussicht blieb, sich die Minderung der Streitkräfte im Lande, die infolge eines Rheinkrieges nothwendig eintreten mußte, durch einen neuen Aufstand zu nutze zu machen. Thiers, der seit dem Oktober 1832 Minister des Innern war, erkannte, daß Louis Philipp fallen oder die Herzogin in seine Gewalt bekommen mußte, und er betrieb die Nachforschungen mit verdoppeltem Eifer. Längst und schon vor seinem Amtsantritt war die Treue der Anhänger Marie Karolinens auf eine gefährliche Probe gestellt: sie wußten, daß der Lohn, den die Regierung für einen Verrath bezahlen werde, der Wichtigkeit entsprechen müsse, den der Verrath für dieselbe hatte.

Unter den Agenten der Herzogin, die freiwillig oder gegen Bezahlung Aufträge für sie ausführten, befand sich einer, der Deutz hieß. Er stammte aus Köln und war seinem Berufe nach Buchdrucker. Im Judenthum geboren, war er in Rom zur katholischen Kirche übergetreten, und der Papst Gregor XVI. selbst hatte ihn der Herzogin empfohlen. Sie hatte ihn schon im Jahre vorher während ihres Aufenthalts in Italien von Massa aus zu Sendungen verwendet, und auch jetzt, wo er in Madrid und Lissabon weilte, war er in ihren Diensten thätig. Dieser Mann beschloß, die Herzogin zu verrathen, und er hoffte, am besten belohnt und am rücksichtsvollsten behandelt zu werden, wenn er sich mit dem Minister selbst in Verbindung setzte. Er kam im Oktober nach Paris und stellte sich noch dem Vorgänger von Thiers, dem Herrn von Montalivet, vor, der jedoch auf seine andeutenden Anerbietungen nicht einging und wenige Tage darauf sein Amt niederlegte. Deutz wandte sich nun schriftlich an Thiers und versprach, ihm wichtige Enthüllungen zu machen, wenn der Minister sich mit Einbruch der Nacht an einer bestimmten einsamen Stelle der Champs-Elysées einfinden wollte. Thiers kam, in einiger Entfernung von zwei Polizeiagenten begleitet. Er traf niemand. Am folgenden Tage erhielt er einen Brief, worin ein zweites Zusammentreffen vorgeschlagen und gesagt war, er müsse allein kommen. Thiers fand sich nun mit zwei Pistolen in der Tasche allein ein. Deutz trat zu ihm, gab sich zu erkennen und erbot sich, die Ergreifung der Herzogin zu ermöglichen. Thiers beschied ihn dann für den andern Tag zu sich. Der Verräther wies sich aus durch Vorzeigung von 22 Briefen, die ihm von dem Banker der Legitimisten in Paris zur Beförderung an die Herzogin übergeben waren; sie rührten von Legitimisten her und waren mit einer nur durch ein besonderes Verfahren sichtbar werdenden Tinte geschrieben. Der Lohn für den Verrath wurde auf 500 000 Franken festgesetzt. Auf die Bedingung, daß der Name des Verräthers ungenannt bleiben sollte, ging Thiers nicht ein. Deutz mußte sich bequemen, die Thätigkeit der Polizei persönlich zu unterstützen, und die Beamten, die mit ihm zusammenwirkten, wurden angewiesen, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Die Regierung vermuthete die Herzogin seit einiger Zeit in Nantes, erhielt aber die Bestätigung dieser Vermuthung erst durch Deutz.

Am 22. Oktober kamen Deutz und der Polizeikommissar Joly in Nantes an. Deutz kannte die Wohnung der Herzogin selbst nicht, und er würde sie auch nicht erfahren haben, wenn er nicht den damaligen Berathern der Dame, den Herren Guibourg und von Mesnard, in längeren Verhandlungen den Beweis geführt hätte, daß er die Herzogin persönlich sprechen müsse. Endlich wurde die Audienz für den 31. Oktober auf 7 Uhr abends festgesetzt. Der Bruder der Damen, bei denen die Herzogin wohnte, führte ihn, ohne ihm den Namen der Straße zu nennen. Er traf in dem Zimmer, in welches man ihn wies, nur den Grafen von Mesnard, und als er diesen nach der Herzogin fragte, trat sie aus einem Nebengelaß mit den Worten: „Hier bin ich, mein lieber Deutz.“ Der Verräther fiel vor ihr nieder, küßte den Saum ihres Kleides und heuchelte Thränen der Rührung. Nach einer fast dreistündigen Unterredung, welche die von Deutz besorgten und noch zu besorgenden Aufträge zum Gegenstande hatte, verließ er sie. Der Polizeibeamte, welcher ihm und seinem Führer ohne des letzteren Wissen gefolgt war, hatte aber in dem Gewirr enger und schlecht beleuchteter Straßen seine Spur verloren; sonst würde die Behörde schon jetzt in das Haus eingedrungen sein. Deutz selbst behauptete, als er sich auf der Polizei wieder einstellte, er könne die Wohnung nicht genau bezeichnen und nicht wiederfinden; ob es nicht genüge, den Marschall Bourmont auszuliefern, dessen Versteck er kenne. Deutz zögerte entweder in einer Anwandlung von Reue, indem er sich scheute, den Verrath wirklich durchzuführen, oder er war seiner Sache noch nicht sicher; vielleicht hatte er keine Gelegenheit genommen, sich das Haus behufs Wiederfindens näher anzusehen, um nicht Verdacht zu erregen; vielleicht war es ihm auch nicht gewiß, ob die Herzogin da, wo er sie getroffen hatte, auch wohne oder nur besuchsweise verweile, denn er hatte sie mit bestaubten Schuhen in das Zimmer treten sehen; sie hatte solche absichtlich getragen, um derartige Zweifel zu erregen. Thiers antwortete durch den damals noch allein üblichen optischen Telegraphen, er wolle über Bourmont nichts erfahren, denn er kaufe niemand, den er erschießen lassen müßte.

Deutz entschloß sich nun, seinen Verrath zu Ende zu führen. Er suchte noch einmal eine Audienz nach, indem er vorgab, er habe in der Aufregung des Wiedersehens eine wichtige Angelegenheit zu berühren vergessen, die sich schriftlich nicht erledigen lasse. Die Herzogin schwankte, ob sie die Audienz gewähren sollte, nicht weil sie ihm mißtraute, sondern weil sie fürchtete, die Polizei, deren Verdacht er erregt haben könnte, würde ihm heimlich folgen und so ihr Versteck erspähen. Doch willigte sie endlich ein und berief ihn auf den 6. November um 4 Uhr nachmittags zu sich. Die Einladung nannte diesmal unvorsichtiger Weise die genaue Adresse, und Deutz theilte sie sofort der Polizei mit. Als er, von der Herzogin empfangen, die Versicherung seiner Ergebenheit erneuerte, wurde ihr ein Brief gebracht. Sie übergab ihn dem Herrn von Mesnard, und dieser überreichte ihr ihn wieder, nachdem er die mit sympathetischer Tinte geschriebenen Schriftzüge lesbar gemacht hatte. Sie las mit lauter Stimme: „Seien Sie auf Ihrer Hut; es verräth Sie jemand, dem Sie Vertrauen schenken.“ Lächelnd auf Deutz blickend, fragte sie: „Sie vielleicht?“

„Wohl möglich,“ antwortete Deutz in denselben Ton.

(Schluß folgt.)


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