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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


ihre Mütter: „Muß sie wirklich sterben, unsere Frau Bergräthin?“ Die wischten die Augen und nickten. „Ja, es ist wohl keine Hilfe mehr möglich, und wie wird’s dann werden, lieber Gott!“

Und so sprachen auch die Hüttenleute zwischen dem Getöse der schweren Hämmer, vor den rothglühenden Feuern. Ja, wie wird es werden hier, wenn sie stirbt!

Und dieselbe Frage that in der Wohnstube der kranken Frau der alte Werkführer Kortmer an Doktor Maiberg, der unaufhörlich über den glänzend gebahnten eichenen Fußboden auf und abschritt.

„Wenn nur Frau Jussnitz erst da wäre, Herr Doktor.“

„Sie kann ja jeden Augenblick kommen, Herr Kortmer.“

„Dann wird’s auch besser mit der Frau. Sie glauben nicht, wie die sich gebangt hat um das Kind, seitdem man vor bald fünf Jahren den Herrn Schwiegersohn über die Schwelle trug. Sie wissen ja, Herr Doktor, er hatte Unglück gehabt auf der Jagd. Da kamen die Herren Maler, um hier zu zeichnen, kriegen Jagdpassion und denken, ein Schießgewehr ist so leicht zu regieren wie ein Malstock. Pardautz! Dann haben sie schon etwas angerichtet. Na, wie ich sagte, seit dem Augenblick, wo der hier herein getragen wurde, hat sie keine ruhige Minute mehr gehabt. Es ist doch etwas Unbegreifliches um die Liebe und um Mädchenherzen! Wer hätte gedacht, daß ‚unser Antje‘ sich so einen Aparten aussuchen würde?“

„Mein Freund, lieber Herr Kortmer, ist ganz und gar danach angethan, so ein Herz gefangen zu nehmen.“

„Ihr Freund, Herr Doktor? Na, ich will nichts gesagt haben.“

„Das wird auch das Beste sein,“ gab Maiberg lächelnd zu und sah den kleinen alten Herrn an, der mit dem rothseidenen Foulard die Brille putzte und sie dann mit unglaublicher Behendigkeit wieder auf die gebogene Nase setzte, die im Verein mit den zwei großen runden Gläsern und dem Schopf weißer Haare über der Stirn dem Gesichte etwas Papageienhaftes verlieh, ohne ihm dadurch etwas von seiner Liebenswürdigkeit zu nehmen.

Der Werkführer war wirklich ein netter alter Herr und ein äußerst pflichttreuer Beamter, der für die Familie Frey das Leben gelassen hätte, unbekümmert darum, daß seine kleine Frau darüber zur Witwe geworden wäre.

„Das wird das Beste sein, Herr Kortmer. Ich kenne Jussnitz nun schon so lange, seit meinen Primanerjahren; ich habe ihn mancherlei tolle Streiche ausführen sehen – nie einen schlechten. Er ist excentrisch, er ist verschwenderisch, ist kein Zahlenmensch, aber er ist doch ein anständiger Kerl, und es giebt nur eins, was mich um ihn besorgt macht.“

„Seine Frau paßt nicht für ihn, wollen Sie sagen? Na, lieber Herr Doktor, das ist nichts Neues, das wissen wir, das weiß jedes Kind auf der Hütte.“

„Nein, Herr Kortmer, das wollte ich durchaus nicht sagen; was ich bemerken wollte, war, ganz kurz gefaßt: es geht ihm zu gut!“

Der andere erwiderte nichts, denn die alte Haushälterin Hanne war eingetreten und berichtete, die Kranke sei eingeschlafen nach der Arznei, die man ihr gegeben habe. „Die Zimmer für Frau Jussnitz, das Kind und die Wärterin sind bereit,“ fügte sie hinzu, „und ich möchte nur wünschen, daß die Reisenden erst glücklich hier wären. Solch ein Wetter! Es regnet und schneit durcheinander, und draußen ist böses Glatteis.“

Maiberg stand lauschend am Fenster, dessen Flügel er geöffnet hatte. „Jetzt kommt der Wagen,“ sagte er ruhig und schritt zur Thür.

In dem Flur, der nach uralter Sitte mit großer Raumverschwendung in die Mitte des Hauses gelegt war und mit dem geschnitzten Balkenwerk unter der Decke und der Täfelung seiner Wände von der einstigen Bestimmung dieses Gebäudes als eines herzoglichen Jagdschlosses erzählte, hatte die Haushälterin die Thür weit geöffnet, so daß der Wind den Regen hereintrieb. Die große Lampe brannte unter der Decke, aber die Kränze, welche die Mägde gewunden hatten zum Empfang der heimkehrenden Tochter, hatte die alte Mamsell wieder herunternehmen lassen. „Gott im Himmel! Kommt das arme Frauchen etwa zum Vergnügen her?“ hatte sie gerufen. „Spart Eure Tannenzweige, es giebt leider bald eine andere Gelegenheit, wo wir sie brauchen.“

Jetzt lief sie trotz des Regens die Stufen vor der Hausthür hinunter; ihre weiße Schürze wehte leuchtend aus der Dunkelheit zurück, und ehe noch Maiberg und der Werkführer hinzueilen konnten, hatte sie schon den Wagenschlag aufgerissen und rief: „Guten Abend! guten Abend! Lieber Himmel, bei dem Wetter, Frau Jussnitz, und mit so einem kleinen Würmchen!“

Aber die Angeredete ergriff nicht die dargebotene Hand; was aus dem Wagen schlüpfte und jetzt auf den nassen Fliesen stand, in denen sich der Widerschein der Flurlampe spiegelte, war eine Fremde, war – – ja war das denn wirklich Hildegard von Zweidorf – dieses blasse, vergrämte Gesicht mit den müden traurigen Augen? Erschreckt trat Maiberg hinzu.

„Gnädiges Fräulein – Sie?“ stotterte er. „Ist Antje – Frau Jussnitz – –“

„Wie geht es meiner Mutter?“ klang es jetzt neben ihm; da stand Antje, ihr Kind auf dem Arm. „Herr Doktor – lieber Kortmer – ich komme doch nicht zu spät?“

Als Antje diese Frage verneint wurde, schwankte sie; die furchtbare Spannung ließ nach. Auf Maibergs Arm gestützt, kam sie über die Schwelle des Vaterhauses. In seiner ruhigen Weise sprach er zunächst gar nicht über die Kranke, nur daß sie schlafe; später werde die Tochter sie sehen dürfen. Vor der Hand möge man sich erholen, essen, trinken, umziehen, die Kleine schlafen legen.

So geschah es. Die Damen stiegen die alterthümliche breite Treppe hinan in das obere Stockwerk; die Haushälterin trug die Kleine, die fest und süß schlief.

„Wir haben schon seit heute nachmittag drei Uhr auf Sie gewartet, Frau Jussnitz; war denn der Weg so arg, daß Sie nicht früher kommen konnten?“

„Nein, der Weg war’s nicht, meine Kinderfrau ist schuld, daß wir einen späteren Zug benutzen mußten,“ erklärte Antje flüsternd, während sie den breiten Gang entlang schritt und wie liebkosend über die alten Schrankthüren strich, an denen sie vorüberging. „Wir blieben des Kindes wegen die Nacht in Halle, und heute früh erklärte die alte Frau plötzlich, nicht weiter zu wollen. Alles Zureden war vergeblich. – Ist eins von den Hausmädchen wohl zuverlässig genug, um sie zu ersetzen?“ Sie hatte eine Thür geöffnet am Ende des Ganges und fuhr fort: „Hier soll die Kleine doch wohnen, liebe Hanne? Ich kann mich wahrscheinlich jetzt wenig um sie bekümmern, ich – – Im Nothfall müssen wir zuschauen, ob jemand auf der Hütte oder im Dorf zu haben ist.“

„Frau Jussnitz,“ entgegnete zögernd die Haushälterin, „mit den Mädchen hier im Hause – lieber Himmel, die wissen kaum, wo der Kopf ihnen steht vor Arbeit; denken Sie doch, eine Kranke im Hause, und der Doktor, und nun Sie – – “

„Darf ich – würden Sie nicht mir das Vertrauen schenken, die Kleine zu beaufsichtigen?“ fragte Hildegard, und ihre Augen sahen bittend zu Antje hinüber.

„Sie? Ein kleines Kind hüten?“ sagte diese und mußte lächeln trotz aller Traurigkeit. „Nein, Fräulein Hilde, das geht nicht.“

Da fing das Mädchen an, flehentlich zu bitten. „Lassen Sie mir das Kind, Frau Jussnitz. Ich will jeden seiner Schritte bewachen, will nicht schlafen nachts, will an seinem Bette sitzen – weisen Sie mich mit dieser Bitte nicht ab!“

Die junge Frau antwortete nicht.

Hilde trat dunkel erglühend zurück, aber in ihren Augen lag ein so wahrer Ausdruck des Gekränktseins, daß Antje rasch sagte: „Wenn Sie sich die Mühe wirklich machen wollen? Ich weiß ja auch, Sie werden gut mit der Maus sein, denn es ist –“ sie stockte – „sein Kind!“ hatte sie enden wollen, aber es blieb ungesprochen.

Hilde verstand sie nicht. Sie hatte Hut und Mantel abgelegt und das schlummernde Kind von dem Arme der Alten genommen. „Gehen Sie ruhig, Frau Jussnitz, und haben Sie Dank!“ sagte sie; und Antje sah, wie Hilde die Thränen aus den Augen stürzten, als sie sich in der Nähe des Ofens auf einen Stuhl setzte und das Kleine aus den umhüllenden Tüchern zu schälen begann, als habe sie ihr lebelang nichts anderes gethan als Kinder gewartet.

Antje ging.

(Fortsetzung folgt.)




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