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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

es nicht das einzige Zeichen bleibt, daß Dein Vater Dich lieb hatte, Maus!“ Und sie löste das Schleifchen ab und barg es in ihrem Andachtsbuch, das oben auf dem noch geöffneten Koffer lag.

Drunten fuhr das einspännige Coupé vor. Antje horchte nach dem Fenster, aber sie rührte sich nicht. Fuhr er wirklich fort, ohne sie noch einmal zu sehen?

Endlich erhob sie sich doch und trat, das Kind auf dem Arm, zum Fenster. Sie sah Leo auf der Freitreppe stehen, sie sah ihn die Fenster von Hildes Zimmer suchen, sah ihn einsteigen. Der Wagen fuhr aus dem weit geöffneten Thor; und sie folgte ihm mit den Augen, bis er um die Ecke der vorspringenden Gartenmauer verschwand.

Dann trug sie mit wankenden Schritten die Kleine nach der Kinderstube und flüchtete in das Atelier, das sie hinter sich verschloß.

Sie war noch immer drinnen, als schon der Wagen vorfuhr, der sie zum Bahnhof bringen sollte.

Die alte Classen pochte kräftig an. „Gnä’ Frau, es ist die allerhöchste Zeit. Die Koffer sind auf den Wagen geschnallt und die andern sitzen schon drin.“

Da öffnete sich die Thür, die junge Herrin kam heraus und ging an der treuen Dienerin vorüber. „Wie ein Geist,“ sagte der Diener, der mit dem Pelzmantel hinter der Alten wartete.

Sie kehrte sogleich mit Hut und Handschuhen zurück und ließ sich den Mantel umlegen. Dann stieg sie, ohne sich umzusehen, ohne ein Wort zu sagen, die Treppe hinab und in den Wagen, in dem Hilde bereits saß und die Kinderfrau mit der Kleinen.

Das Stubenmädchen sah fragend die weinende Classen an, als der Diener den Schlag zuwarf und sich auf den Bock schwang. Die Gnädige hatte ja nicht einmal Adieu gesagt!

Und der Wagen fuhr aus dem Hof und die Mauer nahm die Aussicht auf das verwaiste Haus. Antje wandte den Kopf von den Bäumen des Gartens, deren knospende Zweige im Frühjahrswind über die Mauer schwankten, als grüßten sie die Scheidende und wünschten ihr fröhliche Wiederkehr. Sie saß aufrecht da und schaute nach der Richtung, wo Dresden lag. – Man sah heute nicht die Thürme der Stadt; es war alles verschleiert von Nebel und Wolken. Die Sonne, die heute früh so golden geschienen, hatte sich verborgen. Am Wagenfenster rannen einzelne Regentropfen herunter, wie schwere Thränenperlen.

Hilde zerdrückte ihr Taschentuch im Muff, aber keine Miene zuckte in dem bleichen düsteren Gesicht. Sie wäre so gern geflohen, und durfte doch nicht, die Frau neben ihr hätte ja glauben können, sie ginge nicht weit genug, nicht weit genug von ihm. Der Wagen hielt vor dem kleinen Stationsgebäude. Antje erhob sich, um auszusteigen, da stockte ihr Fuß – am Wagenschlag wartete Leo und bot ihr die Hand.

Sie stand dann ruhig neben ihm; das wahnsinnig pochende Herz verstummte. Es war wohl nur der Leute wegen, daß er die Fahrkarten für sie nahm und die Koffer aufgab. Er erfüllte ihren letzten Wunsch.

„Wohin darf ich Ihnen eine Karte lösen, gnädiges Fräulein?“ fragte er Hilde und hob den Hut über den Scheitel.

„Ich reise mit Frau Jussnitz,“ antwortete sie.

Er warf einen raschen verwunderten Blick auf Antje. Diese zupfte die Schleifen an dem Hütchen des Kindes zurecht, aber sie fühlte, daß ihr das Blut in die Wangen schoß – er war doch nur gekommen, Hilde noch zu sehen! Vielleicht würde er denken, sie nähme das Mädchen mit sich, um es ihm aus den Augen zu bringen!

Aus Eifersucht? O nein – so wenig kennt er sie doch nicht!

Man hatte so lange zu warten, fünfzehn Minuten noch. In dem überheizten kleinen Wartezimmer waren Bekannte, der General Rosen mit seiner liebenswürdigen Frau, einer jener alten Damen, die infolge ihrer Freundlichkeit Antjes Zuflucht gewesen waren in den Gesellschafts- und Ballsälen. Sie kam, beide Hände ausgestreckt, auf Antje zu.

„Liebe Frau Jussnitz, ich höre soeben von Ihrem Mann, daß Sie auf einer traurigen Reise begriffen sind, daß Ihre Frau Mutter schwer erkrankt ist?“

Hilde, die neben Antje stand und der alten Dame eine tiefe Verbeugung machte, wurde von dieser gänzlich übersehen. Antje erröthete. Dieses Nichtbemerkenwollen – denn etwas anderes konnte es bei der sonst so gütigen Frau nicht sein – sagte ihr, daß man sich in den Kreisen, in denen sie verkehrt hatten, bereits Gedanken über das Mädchen machte. Nach einigen Dankesworten fügte sie daher hinzu: „Ich bin so glücklich, Excellenz, daß ich nicht allein zu reisen brauche, daß meine kleine Freundin so liebenswürdig ist, mich zu begleiten.“

Leo hörte es nicht, er unterhielt sich mit der alten Excellenz; die Generalin aber wandte sich nach einigen Sekunden des Erstaunens jetzt auch mit ein paar freundlichen Worten an das junge Mädchen.

Endlich kam der Zug. Bei dem eiligen Einsteigen fiel es niemand auf, daß kein Abschied genommen und geboten wurde; nur das Kind hielt Antje noch einmal dem Vater hin, dann ward es ihr in den Wagen gereicht.

Hilde hatte sich zuerst hineingeschwungen, die Kinderfrau war die letzte. Jussnitz stand mit abgezogenem Hut auf dem Bahnsteig und sah die Schienen entlang, die dort unten vor der Kiefernwaldung zu einem Strich verschmolzen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, meinte Antje, sie müsse ihn mit der Kraft der Verzweiflung wieder zum Stehen bringen. Aber unaufhaltsam ging es vorwärts; das kleine Bahnhofsgebäude entschwand ihren Blicken, sie wurde fortgerissen, fort, vielleicht – wahrscheinlich auf ein Nimmerwiedersehen!

Von der Hügelkette drüben grüßte noch einmal das Gartenhaus auf der Spitze des Weinberges, dann war auch das verschwunden und nun sah sie nichts mehr, nur einförmiges Tannendunkel und öde Felder.




Das große Hüttenwerk „Gottessegen“ und das Dörfchen Oberrode liegen so recht inmitten der grünen Buchenwälder des Harzes, weit ab von der Eisenbahn und den volkreicheren Städten. Von der letzten Station des Schienenweges, der an einem besuchten Kurort des Harzes endet, muß man noch zwei Stunden Wagenfahrt zurücklegen, bevor man die ersten Häuser von Oberrode erblickt. Immer ansteigend, führt eine gut gehaltene Chaussee in diese Abgeschiedenheit, ein Weg, den die Pferde nur langsam zurücklegen, der aber trotzdem den brockenwärts wandernden Naturfreunden niemals lang vorkommt, so wundervoll wechseln Walddunkel und blaue duftige Fernsicht mit einander ab, so rein und köstlich athmet sich die Luft und so geheimnißvoll schwatzt der muntere Gebirgsbach tief in der Schlucht unter üppigen feuchten Farnkräutern.

Es ist etwas Eigenes um den Harzwald: er scheint kräftigeren Duft auszuströmen als andere Gebirgswälder, „harzigen Duft.“ Wenigstens die, welche dort geboren sind, meinen es, und sie meinen auch, daß ihre Heimath schöner sei als alle anderen deutschen Gebirgsländer, denn selbst ein Goethe habe sie geschildert und ein Heine sie besungen. Es ist eben, als ob das Hexen- und Gnomenvolk es allen angethan hätte, die einmal auf jenen grünen Pfaden geschritten sind. –

Aus den herzförmigen Ausschnitten der schweren Fensterläden am Herrschaftshause, das seitwärts von den schwarzen riesigen Gebäuden des Werkes lag, schimmerte Licht. Jedes Kind auf der Hütte kannte diese sechs leuchtenden Herzchen; bezeichnete doch ihr freundlicher Schimmer alles, was die Oberroder Jugend nur zu fassen vermochte an Traulichkeit, Festesglanz und Glückseligkeit, denn die Herzchen flammten von der großen Wohnstube der Frau Bergrath Frey, in der allweihnachtlich der große Tannenbaum im Schmucke seiner Lichter prangte und die Gaben und Geschenke für jedes von ihnen lagen.

Ja, die Hüttenkinder liebten die stattliche Frau Bergrath, die bei den meisten unter ihnen noch obenein Pathe war, über alles, und von den Dorfkindern durfte keines sich etwa einer allzugroßen Begünstigung seitens der allgemein Verehrten zu rühmen wagen, es bekam gewiß von einem Hüttenjungen einen Denkzettel mit der Bemerkung: „Alter Lügner Du! Wir kriegen das Beste, denn sie ist unsere Frau Bergräthin; Ihr kriegt man bloß so’n bißchen, damit Ihr auch was habt.“

Aber heute saßen die Kinder in ihren Stuben und horchten auf den Sturm und Regen und blickten scheu über den weiten Platz nach den flammenden Herzen am Herrschaftshause hinüber und fragten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_223.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)