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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Wenn Leo sich wand und krümmte wie ein getretener Wurm, nun, so wog all seine Pein noch nicht das auf, was sie erduldet hatte an jenem Abend, als sie erfuhr, daß er verheirathet sei. An Antje dachte sie hierbei gar nicht. Was war ihr diese Frau? Wenn die nur die Schlüssel zur Speisekammer und zum Linnenschrank am Gürtel und ihr Kleines auf dem Arm hatte, dann war sie ja zufrieden.

Sie griff nach dem Briefblatt und las es noch einmal:

 „Liebste Toni!

Quäle mich nicht mit Fragen, ich kann es nicht bestimmen, wann ich zurückkehre; Jussnitz hat das Bild noch nicht vollendet. Du weißt ja auch, daß ich hier gut aufgehoben bin.

Daß Papa der Tante Polly gründlich den verleumderischen Mund gestopft hat, freut mich herzlich Toni, Du kennst mich – als ob ich hier bleiben würde, wenn auch nur ein Atom davon wahr wäre, was sie behauptet. Es giebt eben Menschen, die nicht über den Zaun hinauszusehen vermögen, welchen Engherzigkeit und Lust an dem Gewöhnlichen um sie gezogen haben. Ich liebe Jussnitz nicht, ich schreibe es noch einmal hierher. Wie sollte ich, die Hilde Zweidorf, auch dazu kommen, mich für einen verheiratheten Mann zu interessiren? Du liebe Güte – lächerlich!

Es kann sein, daß ich einmal ganz unverhofft bei Euch ankomme – auf kurze Zeit. Ich möchte es später mit München versuchen. Also es kann sein, ich stehe plötzlich in Eurer alten Giebelstube zwischen der klappernden Nähmaschine und dem Weißzeugkorb. – Mein Gott, wie haltet Ihr es nur aus, Kinder, in dem ewigen Einerlei?

Hier ist augenblicklich zwar auch wenig Abwechslung, ausgenommen die Launen des Hausherrn. Bald will er malen: ich werfe mich in mein Kostüm und stelle mich in Positur – was eigentlich an dem Bilde noch zu thun ist, weiß ich nicht; es könnte längst in Berlin sein – und nach einer Viertelstunde findet er, daß er ‚nervös‘ ist, nicht in Stimmung, und er wünscht zu plaudern. Keine Minute später spricht er die Absicht aus, spazieren zu gehen. Wenn nicht die ‚ewige Nachtlampe‘ im Hause wäre mit ihrem schwachen, stets gleichbleibenden Schimmer, die das Gegengewicht hält gegen diese Unbegreiflichkeiten, dann würde es drunter und drüber gehen – aber so – – Herr Gott, wie kann man so grenzenlos langweilig sein wie diese Frau!

Kennst Du das Gedicht der Annette von Droste-Hülshoff ‚Die beschränkte Frau‘? Ich sage Dir, Toni, diese Hülshoffsche Dame war eine Heldin von Klugheit und Intelligenz gegen Frau Antje, sie hatte wenigstens soviel Gescheitheit im Kopfe, daß sie ihres Mannes pekuniäre Verhältnisse nicht erschwerte. Aber hier? Und immer mit derselben freundlichen gelassenen Art. Wenn sie nur wenigstens zur Abwechslung einmal lärmen und schelten wollte wie weiland Dürers liebenswürdige Gattin; aber das kommt nicht vor! Doch, was rede ich noch! Leb’ wohl, grüße die Eltern und Geschwister!Deine Hilde.“ 

Als Hilde die Worte geschrieben hatte: „Wie sollte ich, die Hilde Zweidorf, auch dazu kommen, mich für einen verheiratheten Mann zu interessiren“, da hatte sie die Wahrheit gesagt. Mit der Liebe, die sie für ihn gefühlt hatte, war es vorbei seit jener großen Enttäuschung, aber an Stelle der Liebe war etwas anderes, nicht minder Leidenschaftliches getreten: der Haß, das Verlangen, ihm zu beweisen, daß sie ihn überhaupt niemals geliebt habe. Dieses Verlangen machte sie blind und taub für alles andere, jemehr sie sich bewußt ward, daß sie ihm früher doch verrathen hatte, wie wenig gleichgültig er ihr war.

In solchen Augenblicken ballten sich ihre Hände zu Fäusten und die Zornesthränen rannen ihr aus den Augen. Das waren Tage, an denen sie unberechenbar in ihren Launen erschien, an denen sie ersehnte, er möchte ihr von seiner Liebe sprechen, an denen sie ihn quälte und beglückte nur in der Hoffnung, jetzt endlich sei der Augenblick gekommen, wo sie mit stolz zurückgeworfenem Kopf vor ihn hintreten und sagen könne: „Mein Herr, was meinen Sie? Ich verstehe Sie nicht.“

Und heute, heute wäre so ein Tag gewesen. Tonis Brief hatte alles Schlimme in ihr wach gerufen; es hatte etwas darin gestanden von einem Schreiben der Tante Polly, die sich hoch und theuer verschwur, daß Hildes Herz nicht gleichgültig geblieben sei Herrn Jussnitz gegenüber. Sie war schon beim Spaziergang mit fliegendem Athem neben ihm hergeschritten, hatte mit ihm gespielt wie eine Katze mit der Maus; aber er hatte den Muth nicht gefunden, zu sagen, was Hilde ihm so gern entlockt hätte. Hilde wußte nur, daß er mit sich selber kämpfte. Einmal aber würde er sprechen, und dann würde sie noch in der nämlichen Stunde das Haus verlassen, den Wunsch im Herzen, daß er nur halb so sehr leide, wie sie gelitten!

Wohin sie gehen würde, das war ihr gleichgültig, nur mit ungebrochenem Stolz wollte sie gehen, mit lachenden Lippen und in dem Bewußtsein, daß er sie suchen werde und nicht finden, daß er krank werde vor Sehnsucht nach ihr.

Sie hatte während dieser Betrachtungen den Brief an ihre Schwester adressirt und begann, Toilette zu machen; sie wußte, daß er sie unten im gelben Salon schon erwartete. Sehr langsam kleidete sie sich an: auch das „Wartenlassen“ war eines ihrer Mittel, ihn zu quälen. Eine Viertelstunde brauchte sie, um ihre Stirnlöckchen zu brennen, und weitere zehn Minuten, um einen Strauß Schneeglöckchen an ihrem Kleide zu befestigen. Sie sah ihn im Geiste unten auf- und abgehen, immer auf und ab, und ihre Schritte, die sie nun der Thür zulenkte, verlangsamten sich noch bei dieser Vorstellung.

Sie traf ihn, wie sie es sich eben ausgemalt hatte, nur auffallend bleich. Ob es wohl von ihrer Frage herkam, die sie im Laufe des Tags gethan hatte: „Wann ist mein Bild fertig?“

Er war ihr die Antwort schuldig geblieben. Nun stand sie vor ihm in ihrem besten Kleidchen, einem einfachen aber tadellos sitzenden bordeauxrothen Tuchkostüm, ein paar weiße Blüthen an der Brust, und mit dem schönen unbewegten Gesicht, das so gleichgültig an ihm vorübersah.

„Wollen wir zu lesen beginnen?“ sprach sie müde.

Er bejahte und sie nahmen Platz auf den Stühlen, die so traulich einander gegenüber standen neben dem Kaminfeuer, das seinen Schein auf den Teppich warf.

„Wo waren wir doch stehen geblieben?“ erkundigte sie sich ein leises Gähnen verbergend.

Er hob die Schultern. „Ich weiß es nicht, Hilde, fragen Sie mich doch nicht. Ach Gott, ich höre ja gar nicht, was Sie lesen – ich –“

„Wie? Sie hören nicht, was ich lese?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein,“ sagte er leise, „ich höre nichts, ich sehe Sie nur. Und dann frage ich mich, wie lange ich Sie noch sehe. Und Sie fragen mich, wann ist das Bild endlich fertig? – Hilde, mein Gott, ahnen Sie denn nicht, daß ich den Gedanken nicht ertragen kann, das Bild eines Tages vollendet zu wissen, eines Tages die Stelle leer zu sehen, wo Sie immer gestanden haben?“ Und er griff ungestüm nach ihren Händen und zog sie an seine Lippen und an seine Augen.

Hilde sprang auf, tödlich erschreckt. Was sie so heiß gewünscht hatte, jetzt wirkte es entsetzlich beschämend auf ihr Empfinden; sie fand kein Wort, nur einen leisen Schrei stieß sie aus und ihre Blicke hafteten auf Antje, die da wie hingezaubert mitten im Zimmer stand mit blassem vergrämten Antlitz, mit Haaren, die feucht vom Nachtthau in die Stirn fielen. Ihre großen Augen starrten Hilde eine Sekunde lang an mit schmerzlichem jammervollen Ausdruck, und unter diesem Blicke senkte das junge Mädchen das Haupt. Es war ihr nicht möglich, an Antje vorüber zu gehen; so verließ sie das Zimmer durch die entgegengesetzte Thür, die in das Theezimmer führte. Ihr war zu Muthe, als habe sie in einen Abgrund von Leid und Schmerz geschaut.

Leo aber trat auf seine Frau zu. „Was wolltest Du, Antje?“ fragte er, weicher, als er je zu ihr gesprochen. „Willst Du fort? Aengstigst Du Dich so sehr, so reise, reise in Gottes Namen!“

Er faßte nach ihrer Hand, aber die hielt Antje verborgen in den Falten ihres Kleides; sie rührte sich nicht, sondern sah ihn nur an mit dem nämlichen Ausdruck, mit dem sie vorhin Hilde angeschaut hatte.

„Antje,“ sagte er, „fasse Dich doch, es ist ja so schlimm nicht mit –“

„Womit?“ fragte sie mühsam.

„Mit Deiner Mutter! Reise, Kind; es muß hier eben gehen ohne Dich – reise –“

„Nein!“ antwortete sie, „ich reise nicht, ich habe eingesehen, daß ich – jetzt – nicht fort kann – der liebe Gott wird sich ja erbarmen!“ – Sie wollte noch weiter sprechen, aber die Stimme brach ihr in einem schluchzenden Ton.

„Antje, ich bitte Dich, nimm nicht alles gleich so entsetzlich tragisch, bilde Dir nicht immer gleich das Schlimmste ein!“

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