Seite:Die Gartenlaube (1891) 190.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

wolkenumzogenen Höhen und in den Thälern dieser Alpenketten finden. sich die „Camps“ (Lager) und Minenplätze mit ihren stolz klingenden Namen, wie Golden, Eureka („Ich hab’s gefunden“), Central City, Silverton, Leadville u. s. w. Nicht mit Unrecht führt Leadville den Beinamen „die Stadt der Wolken“; ist es doch die höchstgelegene Stadt Nordamerikas, der höchste Ort, zu dem eine Eisenbahn hinaufführt, und der höchste Ort, wo – eine deutsche Zeitung erscheint. Zweihundert elende Blockhäuser bildeten zu Anfang des Jahres 1878 den ganzen Bestand dieses 3091 Meter über dem Meere gelegenen Ortes, der aber mit Entdeckung der ungemein reichhaltigen Silberlager über Nacht zu einer ganzen Stadt mit Schmelz- und Stampfwerken, Bahnhöfen, Opern- und Schauspielhäusern, Wasser und Gasleitung, Zeitungen, Gasthöfen, Banken, Kirchen, Schulen und Tingeltangeln emporschoß. Die Blütezeit von Leadville fiel in die ersten achtziger Jahre, die Bevölkerung betrug damals gegen 20000 Seelen und es herrschte hier ein Leben und Treiben, wie es in dreimal größeren Städten nur bei außergewöhnlichen Gelegenheiten getroffen wird. Von der Gesammtausbeute Colorados an Edelmetallen im Jahre 1890, die sich auf 24 bis 25 Millionen Dollar belief, entfielen mindestens 15 bis 10 Millionen allein auf Leadville.

Leadville ist eine Station der im Jahre 1870 begonnenen „Denver und Rio Grande-Bahn“, die sich vorwiegend die Erschließung der Felsengebirge und ihrer Minenplätze zum Ziele gesetzt hat. Die Linie ist unbedingt eine der sehenswertesten der ganzen Welt. Bis in alle Winkel und Schluchten, bis auf die entlegensten Höhen, wo nur immer die Natur ihre Schatzkammern aufgethan hat, überall hin haben die kühnen, unternehmenden Ingenieure den eisernen Pfad geschlagen, und es ist hier in Ueberwindung der vielen Steigungen, Senkungen und Kurven eine technische Wunderleistung zustande gekommen, die sich keck den großartigsten Bahnbauten der Welt zur Seite stellen kann und ein würdiges Gegenstück vielleicht nur in der berühmten, von dem deutschen Ingenieur Meigh erbauten Andenbahn Südamerikas findet. Da gleiten sie dahin, die schwer mit Erzen beladenen Wagen dieser Schwalbenbahn, die über ein halbes Dutzend Mal an den verschiedensten Stellen die gewaltige Wasserscheide des amerikanischen Festlandes, die Felsengebirge, überschreitet. Im Sangre de Cristo-Gebirge steigt die Bahn in unzähligen Windungen bis zu dem 2847 Meter hohen Betapaß empor, im Marshallpaß erklimmt sie eine Höhe von 3280, bei Alpine 3514 und im Fremontpaß eine Höhe von 3518 Metern.

Mit noch größeren Schwierigkeiten hatten es die Ingenieure auf der von Pueblo nach Leadville führenden Strecke zu thun. Hier hat die Bahn das weltberühmte Cañon des Arkansasflusses zu durchschneiden, welches neben dem Grand-Cañon des Coloradostromes wohl die wildeste, großartigste Steilschlucht des ganzen Erdballs ist.

Bis zu ihrer Erschließung durch die Eisenbahn war die Schlucht unzugänglich im vollsten Sinne des Wortes, nur selten einmal, wenn ein besonders strenger Winter den brausenden Strom in Fesseln geschlagen hatte, dann wagte es der eine oder andere Abenteurer, diesen eisigen halsbrecherischen Pfad zu benutzen und in die geheimnisvolle Nacht des Cañons vorzudringen. Zurückgekehrt, wußte er dann nicht genug zu erzählen von den Wundern, die sich ihm gezeigt hatten; er berichtete von steinernen Wänden, die sich tausend Meter hoch lothrecht in den Aether reckten. Durch diese furchtbare Schlucht donnern jetzt hie Züge her Denver- und Rio Grande-Bahn. Unter den unsäglichsten Schwierigkeiten drangen die Arbeiter in den Engpaß ein; an vielen Stellen waren sie gezwungen, von oben her mittels langer Seile sich in die Schlucht hinabzulassen, um schwebend den Pfad für das Dampfroß zu brechen. Jahrelang dauerte das Werk, mußte doch der ganze Weg dem diamantenharten Granit und dem tosenden Flusse förmlich abgerungen werden!

Bietet schon eine. Eisenbahnfahrt durch dieses Cañon eine Fülle der Merkwürdigkeiten, so eine Fußwanderung noch viel mehr, da die großartigen Bilder nicht so schnell vorüberfliegen und man all den anziehenden Punkten mit Muße verweilen kann. Um diese Muße voll und ganz zu haben, ließ ich mich am Ende des Cañons aussetzen, übernachtete in einem nahgelegenen Blockhause und trat in der Morgenfrühe den Rückweg durch die 14 englische Meilen (= 22½ Kilometer) lange Schlucht an. Ein Irregehen war ausgeschlossen, da gar keine Seitencañons in die Schlucht münden. Und so wanderte ich einsam dahin, von thurmhohen Klippen ganz umschlossen. Nicht der geringste Laut eines lebendigen Wesens ist in dieser Grabesschlucht zu vernehmen, nur der Fluß rauscht fort und fort, in kochenden Wirbeln sich drehend. überstürzend und durch die grausige Enge thalwärts eilend. Mächtige Felstrümmer, von oben herniedergestürzt. liegen umher, als hätten sie einem Riesengeschlechte zum Spielball gedient. Und zwischen diesen gewaltigen Trümmermassen liegen einzelne Baumruinen. die der Strom vom Hochgebirge hierher getragen hat; Stämme und Aeste sind im Kampfe der Wellen entrindet worden. bleich und nackt wie die Skelette der im Wüstensande umgekommenen Thiere bieten sie sich dem Auge des Wanderers dar.

Bisweilen treten die Felsen so nahe zusammen, daß es scheint, als müsse nunmehr die Schlucht ein Ende haben. Sind wir aber dicht vor der den Abschluß bildendem Wand angelangt, so sehen wir, wie der Strom in einer plötzlichen scharfen Wendung auch diesen Widerstand gebrochen oder umgangen hat und unaufhaltsam weiter tobt. Namentlich verzweifelt erscheint der Weg in der sogenannten „Royal-Gorge“. An dieser unheimlichsten Stelle des Cañons blieb kein Raum für den Bahnkörper, hier hat der Fluß Mühe, sich durchzuzwängen, und lärmend und tosend durchjagt er die dunkle Felsengasse. Diese Enge haben die Ingenieure vermittels einer Schwebebrücke überwunden, und gar mancher der hier Vorüberreisenden mag erbleichen, wenn er das angestrengte Keuchen und Stöhnen der Lokomotive vernimmt, das starke Knarren und Zittern der Brücke, das Schwanken der Wagen verspürt. Ueber ihm hängen nachtschwarze Klippenmassen, unter ihm schäumt und rast der Fluß – nur ein Stein braucht zu fallen, nur eine Schraube der Brücke sich zu lockern – und alles ist vorüber! Hochauf athmet die Brust, wenn die Lichtstrahlen wieder voll und breit von oben fluthen und wir hoch, hoch über uns ein Stückchen Himmelsblau gewahren. Und doch fehlt es auch in dieser grabähnlichen Gasse nicht an Leben. Einmal beobachtete ich eine widerlich gelbbraune Tarantel, die langsam, mit bedächtigen Schritten die Felswand emporkroch, das andere Mal sah ich in schwindelnder Höhe, wo die Steinmassen sich in Tausende von Zinnen, Vorsprüngen und Thürmchen zergliedern, einige Bergschafe von Klippe zu Klippe springen. Ueber ihnen, dem Auge kaum bemerkbar, zog ein Adler seine stolzen Kreise.

Fast einen ganzen Tag lang war ich gewandert, da öffnete sich mir spät nachmittags die Schlucht. Die Felsen traten zeitweise mehr zurück, bildeten kleine Kessel und wurden niedriger. Ruhiger strömte der Fluß dahin, und, ihn zum Führer nehmend, gelangte ich bald in das Städtchen Cañon-City.

Kein Besucher Colorados wird es versäumen, auch einige Tage am Fuße des Pikes Peak und in Manitou, dem Ems der Felsengebirge, zuzubringen. Läßt sich doch von hier aus am bequemsten der 4370 Meter hohe Gebirgsriese besteigen, und der berühmte „Garden of the Gods“, der „Göttergarten“, am leichtesten erreichen, bei dessen Anblick man, wie ein Reisender richtig bemerkt, die Empfindung nicht los wird, daß die Natur eigentlich doch nicht dazu da ist, gerade solche Spaße zu machen. Da ragen sie aus der Erde hervor, die hochroth und weiß gefärbten Sandsteingebilde, Ueberreste von Gebirgen, die vor Jahrtausenden durch Fluthen weggewaschen wurden. Wie mit riesigen Steinpilzen erscheint der Boden bedeckt, dazwischen stehen gewaltig aufragende Klippen, von denen die eine „Montezumas Kathedrale“, die andere der „Thurm von Babel“ getauft wurde. Da und dort stehen Obelisken und Thürme, die an das Wahrzeichen von Pisa erinnern. Wer Zeit und Neigung hat, mag Hunderte von sonderbaren Profilen und Fratzen aus den zernagten Felsen heraussuchen. Ein wahrhaft überwältigendes Bild aber hat man an der berühmten Pforte des Göttergartens. Zwei scharfgeschnittene, 120 bis 130 Meter hohe Klippen stehen wie zwei Coulissen einander gegenüber. Genau in der Mitte zwischen diesen beiden brennendrothen Wänden liegt ein kleiner, über 15 Meter hoher Block, der Pförtner dieses Paradieses, und über denselben hinweg grüßt ans weiter Ferne der sich hier in seiner ganzen Schönheit zeigende Pikes Peak. Und in welchen Tinten prangt das Gemälde! Ein wahres Farbendelirium: ziegelrote Felsen, braune, gelbe, graue, weiße Steinpfeiler und Riesenspargel, ein herbstlich gelber Rasenteppich, aus dem dunkelgrüne Kiefern und Fichten, blutrothe Sumachbäume aufragen, in der Ferne die schneeigen Berge und über all dieser

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_190.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)