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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

wurde nicht müde, die Einzelheiten zu besprechen und den Sinn der Stellen zu erläutern. Jene Nilfahrt hatte ihn so erfrischt, daß er nicht eher nachließ, als bis ich ihm das Versprechen gab, mit ihm zusammen noch einmal den Vater der Ströme hinaufzufahren. Es geschah im Winter 1887-1888 und da erschien er jeden Morgen, den Herodot oder Strabon in der Hand, und wir musterten das Land und die alten Trümmerstätten, ob und in wie weit sie den Erzählungen des ersten Historikers und den Schilderungen des gelehrten Geographen entsprachen. Nachrichten aus Europa erreichten uns wochenlang nicht. Den Tod des Kaisers Wilhelm meldete uns erst der Gouverneur von Wadi Halfa, und die ergreifenden Nachrichten über die Vorgänge in Deutschland erfuhren wir erst bei unserer Rückkehr nach Cairo. In der Abgeschlossenheit unseres Lebens blieb uns nur die unvergleichliche Ruhe dieser fernen Gegenden, von denen die aufständische Bewegung in Nubien und die verhältnißmäßig späte Zeit des Jahres fast alle fremden Besucher zurückhielt.

Unter solchen Verhältnissen versenkt sich der Geist unwillkürlich in die volle Hingabe an das Vorliegende, und wenn dieses, wie in Aegypten, überall von den Resten ältester Vergangenheit durchsetzt ist, so gewöhnt man sich täglich mehr, von den Vorgängen der Welt draußen abzusehen und sich nur mit der Natur und der Geschichte des Landes zu beschäftigen.

Niemand wird die Eigentümlichkeiten Schliemanns begreifen, der sich nicht vorzustellen vermag, wie häufig bei ihm solche Perioden der Zurückgezogenheit und der Vertiefung in weit zurückgelegene Zeiten wiederkehrten und mit welcher Ausdauer und Sorgfalt er sie auszunutzen verstand. Auch die gewaltigen Ausgrabungen, die er mit den größten Opfern an Zeit, Mühe und Geld unternahm und die eine völlige Umgestaltung der Anschauungen von der Vorgeschichte Griechenlands herbeigeführt haben, werden nur verständlich, wenn man erkennt, daß alle seine Pläne auf anhaltender und höchst eingehender Durchforschung der alten Schriftsteller beruhten, und daß er Entschlossenheit und Wagemuth genug besaß, um aus den viel bezweifelten Angaben der uns erhaltenen Werke sich eine eigene, selbständige Ueberzeugung von den Verhältnissen längst vergangener Geschlechter zu bilden und danach zu handeln, unbekümmert darum, ob die Zeitgenossen seine Pläne für thöricht und phantastisch erklärten. Es war kein Zufall, daß er aus der großen Masse möglicher Probleme sich eine beschränkte Zahl heraussuchte und daß gerade diese die wunderbarsten Ergebnisse lieferten. Ilos, Mykenae, Tiryns, Orchomenos, - das waren die Goldplätze, welche schon in den homerischen Dichtungen in den Vordergrund der Betrachtung gestellt waren, wenngleich nicht alle in gleicher Helligkeit. Schliemann war im voraus überzeugt, daß nur der besondere Gang der Darstellung die anderen Plätze neben Ilios in den Schatten zurücktreten ließ. Für ihn waren sie genügend bezeichnet, um ihn zu bestimmen, seinen Spaten gerade da anzusetzen.

Welcher Triumph, als er zuerst in Mykenae in glänzendster Weise die Richtigkeit der alten Schilderungen darlegte, und welche nachhaltige Wirkung für die gesammte Entwicklungsgeschichte des künstlerischen und geschichtlichen Vorlebens der hellenischen Stämme! Nicht gleich schnell vollzog sich die Aufdeckung der verschütteten Ueberreste in Tiryns und Orchomenos. Wiederholt nahm er das Werk in Angriff; kein Mißerfolg erschütterte ihn in der Zähigkeit der felsenfesten Ueberzeugung, daß hier Großes zu finden sei. Und er fand es endlich, unterstützt von dem Scharfsinn und dem feinen Verständniß der alten Architektur, welche der Helfer in allen späteren Unternehmungen, Wilhelm Dörpfeld, in seinen Dienst stellte. Die Zeit wird kommen, wo diese Errungenschaften in die Gesammtanschauung aller Gebildeten übergehen werden, ja man darf sagen, Schliemann ist nicht gestorben ohne das tröstliche Gefühl, daß die Aufgabe seines Lebens in der Hauptsache gethan und anerkannt ist.

Für uns Zurückbleibende aber mag es eine Mahnung sein, das, was wir planen, so musterhaft vorzubereiten, wie er es stets gethan hat. Welche lange Zeit der mühseligsten Vorbereitung hat dieser Mann durchgemacht, um sich zunächst nur die Mittel und dann das geistige Handwerkszeug zu beschaffen, die dazu gehörten, so großen Zielen nachzustreben! Er hat manche Wege vergeblich durchmessen, manche Arbeit umsonst gethan, aber stets hat er den Hauptweg wiedergefunden, der seinem prophetischen Geiste vorgeschwebt hatte.

Und dann, welches Vorbild hat er uns gegeben in der sorgsamen Durcharbeitung des Gewonnenen! Wenn eine Campagne des Grabens und Suchens vorüber war, dann setzte er sich für lange Zeit nieder, um aus seinen Tagebüchern und aus der fast unübersehbaren Fülle seiner Funde ein zusammenfassendes Bild zu gestalten und der Welt Rechenschaft zu geben von seinem Thun und von den Schlußfolgerungen, die er aus seinen Entdeckungen ableitete. Monate und wieder Monate unermüdlicher und immer wieder an den Thatsachen und Gegenständen geprüfter Niederschreibung waren erforderlich, um jene umfangreichen Bände zusammenzustellen, welche jetzt die Bibliotheken füllen.[1] Und jeder neue Band erschien in verbesserter Gestalt, jede neue Ausgabe erhob sich freier über das anfängliche Gewirre der Meinungen. So wuchs auch die Anerkennung.

Selten hat es größere Schwierigkeiten gemacht, daß ein Autodidakt sich zu einer solchen Sicherheit im Urtheil entwickelt, daß er so sehr die Zustimmung der Fachgelehrten, man darf wohl sagen. sich erzwungen hat. Schliemann war ein vorsichtiger Forscher, aber auch ein entschlossener Kämpfer: er wußte es, daß in einer Periode, wo die Presse einen so großen Einfluß auf das allgemeine Urtheil ausübt, dicke Bücher allein das Publikum, das ihnen oft ganz fern bleibt, nicht überzeugen. Seine Sprachgewandtheit befähigte ihn, auch der periodischen Presse stets mundgerechte Berichte zu liefern. In erster Linie war es meist die englische, welche ihm von Anfang an hilfreich gewesen war und welcher er sich daher mit Vorliebe zuwendete. Gleicherweise waren auch seine ersten großen Bücher in englischer Sprache abgefaßt. Er schrieb diese Bücher größtenteils direkt in der fremden Sprache. Aber er unterwarf sie der Prüfung von Sachverständigen, ehe er sie herausgab.

Manches seiner Blätter ist auch durch meine Hand gegangen. Das große Buch „Ilios“ hat mir in allen seinen Teilen vorgelegen, ehe es das Licht der Welt erblickte. Einen ganzen Sommer hindurch erschien von London her ein Revisionsbogen nach dem andern, und ich bin immer noch von Dank erfüllt, wenn ich daran zurückdenke, wie ernsthaft Schliemann jede meiner Bemerkungen, auch die sprachlichen, aufnahm und wie ausführlich er mir in zweifelhaften Fällen seine Gegengründe entwickelte.

In Deutschland hat man es als einen Mangel empfunden, daß die deutschen Ausgaben theils erst nachträglich, theils in weniger glänzender Ausstattung erschienen. Für die letzte Zeit hat sich das Verhältniß thatsächlich geändert. Aber für die frühere Zeit sollte man nicht vergessen, daß das Band zwischen Schliemann und dem Vaterlande stark gelockert war, zunächst durch seine langjährige Abwesenheit und durch die ganze Gestaltung seines geschäftlichen Wirkens, für welches ihm Deutschland keinen Anhalt gewährte, dann aber auch durch die unwillkürliche Anpassung an das Fremde. Als ich ihn zum ersten Male in Hissarlik besuchte, war ihm das Verständniß zahlreicher deutscher Wörter, ja die Erinnerung an ihr Dasein ganz abhanden gekommen. Nicht selten sagte er mir überrascht: „Das Wort habe ich seit 30 Jahren nicht gehört.“ Vorzugsweise galt das von Provinzialismen, die in seiner Heimath so zahlreich sind. Als Pommer kannte ich nicht wenige dieser Worte: jedesmal, wenn ich, sei es absichtlich, sei es unabsichtliche ein solches aussprach, weckte es in ihm Gedanken seiner Jugend, und dann hoben sich aus der Dämmerung seines Gedächtnisses nach und nach lichte Gestalten der Heimath empor. Es waren das jene Tage, wo auch das Gefühl für das Vaterland wieder in fernem Herzen erstarkte. In dem Maße, als die Sprache seines Volkes ihm wieder näher trat, wuchs auch die Sehnsucht des Wiedersehens, und es dauerte nicht lange Zeit, da kam er mit Weib und Kind und setzte sich still in sein altes Ankershagen, um in dem vollen Gefühl der Heimath zu schwelgen und - daselbst ein neues Buch zu vollenden"


  1. Vor etwa Jahresfrist ist bei F. A. Brockhaus in Leipzig ein Buch erschienen, welches die Ergebnisse der Schliemannschen Forschungen zusammenfassend und in einer für weite Kreise verständlichen Form behandelt. Auch ein kurzer lebensgeschichtlicher Abriß findet sich daselbst, und ein reicher Schatz von Abbildungen, meist nach den Schliemannschen Originalwerken, ist ihm beigegeben. Das Buch führt den Titel: „Schliemanns Ausgrabungen in Troja, Tiryns, Mykenae, Orchomenos, Ithaka im Lichte der heutigen Wissenschaft. Dargestellt von Dr. Carl Schuchhardt, Direktor des Kestnermuseums in Hannover.“ Anmerk. der Redaktion.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_108.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)