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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

regelrechter, gleichförmiger, ausdauernder Landregen, der Himmel ist mit einer Schicht von trübem Weißgrau überzogen, und aus den aufgesperrten Drachenmäulern an den Dachrinnen sprudelt es ohne Aufhören.

Thekla hat sich Kopf und Augen ein wenig müde gelesen und sitzt nun müßig da und sieht auf Annie. Ihr ist seltsam weich zu Sinn, schon seit längerer Zeit! Immer näher rückt nun die Frist, da man ihr den Augentrost, das Sonnenlicht, das Herzblatt, das Vögelchen fortnehmen wird, und die „gelehrte Thekla Gerold“ findet, daß das ganze Arsenal der Kantschen, Fichteschen, Schopenhauerschen, Hartmannschen Philosophie, mit dem sie gegen sich selbst zu Felde zieht, nichts ausrichtet gegenüber dem bangen, unsäglich trostlosen Gefühl, das sie jedesmal beschleicht, wenn sie es sich recht eindringlich sagt und vorstellt: ohne das Vögelchen! –

„Wann bekamst Du doch seinen Brief mit der Nachricht von der Reise?“ fragt sie, obgleich sie dies ganz genau weiß; sie weiß, Annie spricht am liebsten von ihm!

„Genau vor vier Tagen, am vierundzwanzigsten Juni, gegen Abend. Ich hatte ihn morgens fortgeschickt, weil ich unmöglich Zeit für ihn hatte, und wir hatten verabredet, er sollte am Abend kommen; statt seiner langte um sechs Uhr ein Zettel an, ganz eilig geschrieben, er müsse schleunigst verreisen, würde mir bald näheres melden. Bis jetzt warte ich noch darauf!“ Annies Stimmchen wurde etwas unsicher. „Es muß doch etwas Geschäftliches sein!“

„Selbstverständlich ist’s das!“ schaltet Thekla ein.

„Ja – wenn ich nur wüßte, was! Er hat ja alles mit mir besprochen, ich weiß, was er fertig hat! Das Wüstenbild kann’s nicht sein, das steht noch auf der Staffelei – aber freilich – einer kann es gesehen haben und wünscht, darüber zu unterhandeln – dann müßte doch aber der Kunsthändler hierherkommen, um mit Karl abzuschließen. Oder vielleicht das Nildelta – er hat schon so viele Angebote zurückgewiesen … reisen lassen will er das Bild nicht, zu Ausstellungen hat er’s auch nicht schicken mögen, und die Galerien, die es kaufen wollten, waren ihm nicht bedeutend genug. Er ist ja ein berühmter Künstler und weiß selbst am besten, welchen Werth seine Bilder haben! Aber daß es so furchtbar eilte! Daß er nicht ein paar Minuten mehr fand, Lebewohl zu sagen!“

„Und er hat Dir wirklich das Ziel seiner Reise nicht genannt?“

„Aber Thea! Würde ich Dir das verschwiegen haben?“

„Nun – er hätte Dich ja darum bitten können, es mir zu verschweigen!“

„Dann würde ich Dir gesagt haben, daß er dies that! Nein, ich habe keine Ahnung, wo er geblieben sein kann!“

„Findest Du es nicht etwas sonderbar, Vögelchen, daß er Dir, seiner Braut, dies verschweigt?“

Noch vor zwei Tagen würde Annie dies nie und nimmer zugegeben und ihren Geliebten kräftig vertheidigt haben; aber zwischen vorgestern und heute lagen achtundvierzig Stunden voll bangen Wartens, voll muthloser Gedanken, voll quälender Ungewißheit. Sie senkte daher jetzt das Köpfchen und sprach ein tonloses „Ja“.

„Möchtest Du einmal hierher zu mir kommen, Vögelchen?“ fragte Thekla sehr sanft.

Vögelchen kam. Es rückte sich den Schemel herbei und setzte sich so dicht als möglich neben Theklas Sessel, die Wange an Theklas Arm gelehnt. Es war lange her, seit sie diese Stellung zum letzten Male eingenommen hatte.

„Möchtest Du mir nicht vertrauen wie sonst immer? War nicht im Wesen Deines Verlobten zuweilen etwas, was Dir auffiel? Ich tadle ihn ja nicht“ – Annie hatte eine abwehrende Bewegung gemacht – „ich frage Dich nur! Er liebt Dich über alles, das weiß ich – Du liebst ihn wieder – er ist ein hochberühmter, gefeierter Künstler, dem Gold, Ruhm und Ehren von allen Seiten zuströmen … wie geht es zu, mein Herz, daß er bei alledem nicht glücklicher ist? Hast Du nicht oft darüber nachgedacht?“

„Sehr oft – sehr oft!“ Annie versteckte ihr Gesicht an Theklas Arm und brach in Thränen aus.

„Vögelchen – mein liebes – mein Kind – weine nicht so, ich bitte Dich! Sieh, mir ist es aufgefallen, wie Delmonts Gesicht oft einen so harten, fremden Ausdruck annahm, wie seine Augen sich verdüsterten, er immer wortkarger und finsterer wurde, – es ist für mich ganz sonnenklar, daß ihn etwas drückt und quält; hast Du keine Idee, was es sein könnte? Hat er Dir’s niemals angedeutet?“

„Nein, niemals, Thea!“ Annie hob ihr Gesichtchen empor und wischte sich die Thränen aus den Wimpern. „Ich hab’ es ein einziges Mal in letzter Zeit versucht, ihn zu fragen, als diese düstern Stimmungen immer häufiger wurden – jetzt, da unsere Hochzeit so nahe ist! – aber er hat mir nichts sagen wollen. ‚Ich kann nicht!‘ hat er ausgerufen, mit einem so gequälten Gesicht, daß ich mir innerlich Vorwürfe machte, nicht meinem Vorsatz treu geblieben zu sein, nämlich, abzuwarten und ihm zu vertrauen in dem Gedanken, er müsse es am besten wissen, ob er mir etwas sagen könne oder verschweigen müsse! Hedwig Weyland sagte einmal, im Leben der Männer gebe es mancherlei, was sie allenfalls ihrer Frau, nie aber ihrer Braut anvertrauen würden. Daran habe ich immer denken müssen und versucht, mich damit zu trösten – es wollte aber nicht recht gehen!“

Thekla streichelte sanft Annies Haar. Sie litt nicht an Ahnungen wie Hedwig Weyland, aber sie sagte sich aus eigener Beobachtung jetzt zum hundertsten Mal innerlich, daß ihr Vögelchen kein glückliches Los erwarte an der Seite dieses Mannes. Warum mußte Annie gerade ihn lieben? Wer ihr das hätte sagen können!

Es blieb lange still im Zimmer. Vor den Fenstern machten ein paar Spatzen mit verregnetem, gesträubtem Gefieder einen schüchternen Versuch, zu zwitschern, gaben aber bei dem trostlosen Wetter diesen verwegenen Gedanken alsbald wieder auf. Eintönig – eintönig plätscherte der Regen herab, die Luft war weich und schwer.

An der Hausthür klang das Glockenspiel. „Ich wollte, wir bekämen Besuch,“ dachte Thekla, „sei es nun schon, wer es sei, meinetwegen Hertha Kreutzer oder sonst eine von den jungen Zieräffchen – es wäre immerhin eine kleine Zerstreuung.“

Es kam kein Besuch, sondern Agathe mit einem Brief. „Für Dich – Vögelchen, ’s ist eine italienische Postmarke drauf, die kenne ich!“

Thekla sah, daß Annie jählings erblaßte beim Anblick des Briefes, sie winkte darum der Alten, die erwartungsvoll dastand, das Zimmer zu verlassen, und wandte sich selbst ihrem Buche zu, um anscheinend eifrig zu lesen. Annie war aufgesprungen und las ihren Brief in der Nähe des Fensters.

Thekla zwang sich gewaltsam dazu, ihre junge Schwester nicht zu beobachten; sie sah unausgesetzt in das Buch hinein, aber sie hatte keinen Schimmer von Verständniß für das, worauf ihre Augen ruhten.

Endlich drehte sich Annie vom Fenster weg und kam auf Thekla zu, und diese hob den Blick und sah in das junge Gesicht, das todesblaß war und einen hilflosen Ausdruck zeigte.

„Lies Du, Thea – und sag’ mir, ob das sein kann – und wenn Du es begreifst, erklär’ es mir – ich kann das ja gar nicht verstehen!“

Sie griff sich mit beiden Händen an die Stirn – dabei fiel der Brief in Theklas Schoß. Diese nahm ihn und faltete ihn auseinander; Annie setzte sich auf die Seitenlehne des Sessels, legte ihren Arm um Theklas Schulter und sah mit ihr in den Brief hinein. Er war aus Florenz datirt.

„Ich bin hierher gegangen, Annie – nicht, weil ich Geschäftliches hier zu thun habe, sondern weil ich geflüchtet bin vor Dir – ja, vor Dir – und auch vor mir selber!

In meinem Wesen ist Dir manches räthselhaft gewesen, ich weiß es genau, und das wäre geblieben – ich hätte Dir mein Inneres nie ganz erschließen können, auch wenn Du mein Weib geworden wärest. Das hätte die schönste Blüthe des ehelichen Glücks, das Vertrauen, im Keim erstickt, es hätte Dein sonniges Gemüth getrübt und Dich unsicher und unglücklich gemacht, denn Du sahst den dunklen Schatten jetzt schon, wie er schwer und erdrückend über mir hing … um wieviel mehr würdest Du ihn empfunden haben im engen Verkehr des ehelichen Zusammenlebens, dessen vornehmste Bedingung in dem Satz enthalten ist: was trifft – trifft beide! –

Es hätte beide getroffen, aber nicht in dem Sinn, in welchem dieser Satz gemeint ist! Oft schien es mir, als ob in Deiner Nähe alles Finstere von mir weiche, wie Nebel vor der Sonne

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 876. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_876.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)