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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Rührung an, und selten wohl hat ein Lehrer mit mehr gutem Willen und jugendlichem Feuereifer sein Amt betrieben, selten ein Schüler mit solcher Begeisterung und solchem Ehrgeiz gelernt, als es in dem kleinen, kahlen Hinterzimmerchen geschah, welches ich bewohnte. Dies Zimmerchen bekam auch meines jungen Freundes und Lehrers kühne Zukunftsideen zu hören, die alle darin gipfelten, der Mutter, die er abgöttisch liebte, ein behaglicheres Los, ein Jahr im Süden und beste Pflege zu bieten – ‚es ist ja meines Vaters ewiger Kummer, daß er dies nicht kann, denn er liebt die Mutter, wenn das möglich ist, noch mehr als ich. Aber mit guten Bildern kann man natürlich hundertmal mehr verdienen als in dieser elenden Buchhalterstelle! Ist’s nicht eine Sünde und Schande, daß ein Mann mit den Fähigkeiten und Kenntnissen meines Vaters in einer so erbärmlichen Stellung aushalten muß?‘

Ja – es war eine Sünde und Schande – er hatte recht! Daß es ein eisernes, unerbittliches ‚Muß‘ war, welches den Mann zwang, für ein unglaublich geringes Gehalt Dienste zu leisten, die ein anderer zehnfach so hoch bezahlt hätte, das begriff ich schon in den ersten Tagen – welcher Art dieses ‚Muß‘ war, das erfuhr ich erst viel später!“ –

„Sie haben mir aber noch kein Wort von Ihrem eigentlichen Prinzipal gesagt!“ erinnerte hier Conventius den Redenden.

Ein Zug von Ekel und Abscheu ging über Schönfelds Züge.

„Es fällt mir schwer, von ihm zu sprechen!“ murmelte er. „Aber ich kann mir’s ja nicht ersparen; es gehört mit dazu – und wie sehr! Glauben Sie es, Herr Pfarrer, daß Gott seinen Geschöpfen seinen Stempel aufdrückt, sie böswillig und lasterhaft aussehen läßt, wenn sie es sind, und umgekehrt ihnen freundliche, gute Gesichter giebt, wenn es in ihrem Herzen ebenso aussieht?“

„Das thut nicht Gott – die Menschen selbst sorgen dafür, daß die Tugenden und Laster, die ihr Handeln bestimmen und ihr Leben lang mit ihnen gehen, ihren Ausdruck finden in ihrem Antlitz: aber auch das täuscht oft, und es gehört viel Seelenkenntniß dazu, solche Schrift jedesmal richtig zu deuten!“

„Nun – diesmal täuschte es nicht! Selten wohl hat Gottes Sonne eine so niederträchtige Physiognomie beschienen; ein kleiner kahler Schädel von abschreckender Häßlichkeit, ruhelos funkelnde, böse Augen ohne Wimpern und Brauen, die dünnen Lippen beständig in zuckender Bewegung; der Unterkiefer weit vorgeschoben, die Hände zitternd gekrümmt wie die Krallen eines gierigen Raubvogels, dazu eine hohlklingende, pfeifende Stimme und seltsam schleichende, tastende Bewegungen! Er gab vor, sehr kurzsichtig und schwerhörig zu sein, hatte aber die feinsten und schärfsten Sinne, die mir je vorgekommen sind. Zahllose Leute, denen er seine Gebrechen vorheuchelte, glaubten ihm und gingen so in die Falle, die er ihrer Einfalt stellte, indem sie sich in seiner Gegenwart gehen ließen, was er natürlich stets zu seinem Vortheil ausbeutete. In der ganzen Nachbarschaft nannte man ihn allgemein den ‚Bluthund‘ – die Kinder, die vor den Thüren spielten, liefen scheu davon und versteckten sich, sobald er auf die Straße trat, ja, ein paar katholische Frauen, die in seiner Nähe wohnten, bekreuzten sich heimlich, wenn er vorüberging. Die Leute, die geschäftlich mit ihm verkehrten, setzten sich aus den verschiedensten Arten zusammen: da war der elegante Offizier, der hochmüthig mit dem Peitschchen an seine hohen Reitstiefel schlug und mit der Mütze auf dem Kopf im Zimmer stehen blieb – da der derbe, sonnenverbrannte Matrose – die verarmte Witwe aus guter Familie – der heruntergekommene Gutsbesitzer – der stellenlose Handwerker – der verschuldete Student … alle sah man in dem nach dem kleinen, rauchgeschwärzten Hof gelegenen Comptoir verschwinden, in welchem der ‚Bluthund‘ seine ‚Privatgeschäfte‘ betrieb, während der Buchhalter und ich in dem kahlen Vorderzimmer an unsern Pulten das ‚Offizielle‘ erledigten, die Korrespondenz besorgten, Listen ausfertigten, mit Schiffsmaklern und Kapitänen Abrechnung hielten und was sonst noch zum ‚anständigen‘ Betrieb des Geschäfts gehörte. Freilich mußten auch wir tanzen, wie unser Herr und Gebieter pfiff: unnachsichtlich jede Forderung einklagen, keine Stunde über die festgesetzte Frist hinaus Geduld üben. Mahn- und Drohbriefe in den härtesten Ausdrücken abfassen, uns von der beweglichsten Bitte ungerührt abwenden – und so fort. Aber die ‚Privatgeschäfte‘ waren noch viel schlimmerer Art, es war ein Gaunersystem der allergemeinsten Sorte, aber ich ahnte nur einiges davon, denn der ‚Bluthund‘ ließ niemand in seine Karten sehen, und der Buchhalter, der vielleicht um alles wußte, sprach mit mir nie eine Silbe über seinen Prinzipal – sobald ich die Rede auf ihn brachte, verstummte er, bis er mich eines Tages geradezu ersuchte, dies Thema ihm gegenüber nicht wieder zu berühren, es sei ihm unmöglich, darauf einzugehen.

Desto mehr ging sein Sohn darauf ein. Der junge, leidenschaftliche Mensch schäumte vor Wuth und Empörung, sowie nur der Name Heßberg genannt wurde, und ich möchte darauf schwören, daß die allgemein gewordene Bezeichnung ‚der Bluthund‘ von meinem jungen Freunde stammte. Er wußte nicht, auf welche Weise sein Vater diesem Scheusal verpflichtet war, sonst hätte er es mir gewiß gesagt; er sah nur, was auch ich sah, daß der hochgebildete und begabte Mann sich rastlos von früh bis spät im Dienst dieses Schurken mühte, daß er mehr leistete als drei andere, daß ihm dafür der kärglichste Lohn zutheil ward, daß er, die Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit in Person, die nichtswürdigen Räubereien des anderen klar durchschaute, durchschauen mußte – und dennoch auf seinem jammervollen Posten ausharrte, scheinbar taub und blind für alles, was um ihn her vorging … genug, um den Sohn, der seinen Vater über alles liebte und verehrte, außer sich gerathen zu lassen. Nur die unausgesetzte Thätigkeit, seine Vorstudien zum Abiturientenexamen, seine Malerei, die Musik, für die er ebenfalls hervorragend beanlagt war, hoben den Jüngling über dieses Elend des täglichen Lebens, über die Angst um seine Mutter, deren Aussehen immer ätherischer wurde, hinweg, nur, wenn er angestrengt und eifrig arbeitete, konnte er für den Augenblick vergessen. Wenn er einmal zufällig Herrn Heßberg auf der Straße oder im Hausflur traf – was zum Glück selten geschah – konnte er es nicht über sich gewinnen, ihn auch nur zu grüßen. Die Zähne fest aufeinandergebissen, Haß und Verachtung in jedem Zuge des edlen, stolzen Gesichts, sah er starren Blicks an jenem vorbei, als sei er leere Luft. Glückselig machte es ihn, wenn er hier und da ein kleines Bildchen, eine Zeichnung verkaufen konnte; von diesem Gelde rührte er keinen Heller an, er kaufte Wein, Früchte und allerlei Leckerbissen für die Mutter, fuhr bei mildem Wetter ein Stündchen mit ihr spazieren und stellte ihr blühende Blumen ans Fenster. Fast sah es aus, als beneide der Vater den Sohn um diese kleinen Freuden, die er selbst mit all seiner harten Arbeit der geliebten Frau nicht erringen konnte, um jeden kleinen Ritterdienst überhaupt, den der junge Mensch der zarten Frau erwies. –

So ging unser Leben während einiger Jahre hin; meine Freundschaft mit Karl – so hieß der Sohn des Buchhalters – war immer wärmer und fester geworden, und mit unbeschreiblichem Kummer sah ich unserer baldigen Trennung entgegen. Er hatte sein Examen mit Auszeichnung bestanden und sollte in einem halben Jahr die Kunstakademie in München beziehen, woselbst ihm der Vater eines Schulfreundes ein billiges Unterkommen verschafft hatte und ihm einige Mittel zum weitern Studium vorschießen wollte. Daß meines Bleibens dann auch nicht länger in Hamburg sei, stand bei mir fest – ich hatte mir jetzt einige Geschäftskenntnisse angeeignet, auch meine dürftigen wissenschaftlichen Errungenschaften einigermaßen befestigt und erweitert … es ließ sich annehmen, daß ich nun ohne zu große Mühe eine bessere Stellung in einem Comptoir erlangen würde.

Inzwischen waren verschiedene Versuche gemacht worden, bei Herrn Heßberg einzubrechen und die Reichthümer des Geizhalses, die der Glaube der kleinen Leute bis ins Märchenhafte und Unermeßliche steigerte, zu rauben – bisher waren aber diese Unternehmungen jedesmal mißglückt. Bei dem ohnehin mißtrauischen, menschenfeindlichen Charakter des alten Mannes, seinem regen Bewußtsein des grimmigen Hasses, mit dem man ihn von allen Seiten verfolgte, wuchs seine Furcht, ausgeraubt und erschlagen zu werden, von Tag zu Tag. Er ließ kunstvolle Schlösser an seine Thüren, Pulte und Schränke legen, er überwachte die Leute, die dies besorgten, aufs ängstlichste, er versteckte seine Gelder, Papiere und sonstigen Werthsachen auf die ausgesuchteste Weise, gönnte sich bei Tag und Nacht keine Ruhe, schlich zu den ungewöhnlichsten Stunden wie ein Geist mit einer Kerze durch alle Räume, aß und trank kaum mehr, aus Furcht, mau wolle ihm Gift beibringen, und wagte sich nur bei hellem Sonnenlicht, wenn alle Straßen ungewöhnlich belebt waren, ins Freie. Ein geladener Revolver lag tagüber auf seinem Pult im ‚Privatzimmer‘, des Nachts auf einem Tischchen neben seinem Bett, er beargwohnte die Leute, die ihn bedienten, ihm die Nahrungsmittel

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_814.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)