Seite:Die Gartenlaube (1890) 795.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Maria fühlte einen heftigen Schmerz im Herzen, sie preßte die Hand darauf und sah dem Scheidenden regungslos durch das Fenster nach.


6.

In starren Fesseln lag der Mastenwald im Hafen von H. Dichter Nebel braute ununterbrochen über der Stadt und kürzte den Tag.

In der „Grünen Auster“ ging es immer gleich lebendig zu, bis spät nach Mitternacht leuchteten die mit blutrothen Vorhängen versehenen Fenster.

Da saßen die Stammgäste an dem mit grünem Wachstuch überzogenen Tisch: Schiffsmakler, Viehhändler, einige Kapitäne, die in H. ihr Winterquartier aufgeschlagen hatten; und mitten unter diesen Ehrenwerthen saß Bill Lührsen, „der Herr Kapitän“, wie er hier genannt wurde. Seine jetzt heisere, aber noch kräftige Stimme war immer hörbar, er wußte stets etwas Neues, wußte überall Bescheid, sprach in großartiger Weise von seinen Leistungen, zuckte die Achseln über andere, übte die schärfste Kritik – ja, wenn er so ein Glücksvogel gewesen wäre wie der und der, was er dann geworden wäre! – und dann ging’s los über sein Pech, das alles je Dagewesene übersteige. Dabei trank er Glas auf Glas des feurigen Trankes in seinem Kneipzorn.

Später, als die alten Geschichten, die man sich allabendlich erzählte, nicht mehr genügten, griff man zu den Karten, natürlich nur zum Zeitvertreib, nicht etwa des Geldes halber.

Bill hatte erstaunliches Glück und eine tolle, fieberhafte Freude an diesem Glück. Er war der erste, der einen höheren Satz vorschlug, er fand wenig Widerspruch – „wenn er will, wir halten’s aus!“ mochten seine Kumpane denken. Auch das gewöhnliche heimische Spiel paßte nicht mehr, es ging zu langsam und wozu denn das Hirn sich dabei abmartern, das Zufallsspiel, sein Fall! Es prickele ihm in allen Nerven, wieder einmal, zum letzten Mal, wie er sich sagte, die große Frage an das Schicksal zu stellen. Verluste, die sich bald einstellten, machten ihn nicht irre, er entwickelte plötzlich einen ungewohnten Widerstand und Trotz gegen sein Verhängniß.

Laura wagte nur einmal eine Einwendung. Die spärlichen Einnahmen litten ja keine solchen Ausgaben. Da kam sie aber gut an!

„Wer ist der Herr im Hause? Etwa weil ich das Unglück gehabt habe, mich Dir zuliebe zum Krüppel zu fallen, soll ich mich in die Ecke stellen lassen und um mein Brot betteln? Nette Liebe das! und dafür ein Leben geopfert!“ so fuhr er auf die unbequeme Mahnerin los.

Die arme Frau hoffte auf Maria, er liebte ja sein Kind, ihren Bitten würde er nicht widerstehen können. Doch sonderbar, Maria lächelte immer so geheimnißvoll und wiederholte stets: „Gieb ihm nur, es wird bald anders werden.“

Erst als drei Monate in dieser den Hausstand vernichtenden Weise vergangen waren, zeigte sich in Marias Wesen eine auffallende Unruhe, ein ständiges ängstliches Warten, und oft überraschte die Mutter sie, wie sie in Thränen aufgelöst in einem Winkel ihrer Kammer saß.

So verstrich der Winter – ein trüber Sommer schlich vorüber, und langsam nahmen die Tage wieder ab. Mehr und mehr brannte das Hoffnungsflämmchen in Marias Herz herab und nur mit dem letzten Rest ihrer Seelenstärke klammerte sie sich noch an Jakob Tönningens Worte: „Nicht vergessen, sonst wirkt das Mittel nicht!“ Nein, vergessen wollte, konnte sie ihn und seine Verheißung nicht. –

*  *  *

Mäuschenstill war es am Stammtische in der „Grünen Auster“, selbst die Karten fielen lautlos auf das grüne Tuch. Die Köpfe waren erhitzt, man spielte heute besonders hoch, ein fremder Seemann betheiltgte sich, und es wäre doch ein Hauptspaß gewesen, den hübsch hereinzulegen.

Er saß neben Bill, der heute wieder seinen Pechtag hatte. Sein Gesicht war bleich, seine Hände zitterten, wenn er das Glas Gin zum Munde führte, seine Gestalt war auf den Tisch herabgebeugt, und seine gierigen Blicke auf das sich zusehends mehrende Geldhäufchen des Fremden entgingen diesem nicht.

Bill verlor den größten Satz, der heute gestanden hatte, er lachte wild auf, zerrte an seinem ergrauten Haar und wischte mit einer krampfhaften Bewegung der Hand seinen ganzen Geldvorrath seinem Nachbar, dem Fremden, zu.

„Fertig!“ keuchte er. „Ihr versteht’s – dürft Euch übrigens nichts einbilden drauf. Habt Ihr von Bill Lührsen noch nicht gehört, dem berühmten Pechvogel? Der bin ich!“

„Der Kapitän Bill Lührsen?“ fragte erstaunt der Fremde. „Das freut mich. Habe freilich schon gehört von ihm. – Jakob Tönningen!“ stellte er sich vor.

Bill wich zurück, er mußte sich am Stuhle festhalten.

„Tönningen? Wirklich Tönningen?“ schrie er und brach dann in ein tolles Gelächter aus. „Verwandt mit dem verstorbenen Kapitän Lars Tönningen?“

„Sein Sohn sogar.“

„Lars’ Sohn? Und mit dem – ? Haha! Das sieht mir gleich, gegen den setz’ ich meinen letzten Heller! Lars’ Sohn! Wenn’s jetzt nicht klar ist! – Gin! Gin!“ brüllte er, sich von neuem setzend und den Mann starr betrachtend, „spielt nur zu, ich bin fertig.“

„Unsinn, Kapitän! Was fertig? Hier!“ widersprach Jakob Tönningen und schob ihm einen Haufen Geld zu. „Kredit, so viel Ihr wollt, und Ihr werdet sehen, Ihr gewinnt jetzt!“

„Gegen Lars Tönningens Sohn?! – Wißt Ihr denn, daß wir – Gott, wo soll ich da anfangen? Die See fraß ihn vor meinen Augen; eine Katze war sein ganzes Unglück! Ja, eine einfache Katze! Das versteht Ihr nicht, nicht wahr? Und meines ist ein Glas! Ein einfaches, zersprungenes Glas! Ich sag’ Euch, ganz dieselbe Geschichte. Wir mußten lachen, so oft wir uns sahen, nur als wir uns zuletzt sahen, da lachten wir nicht, da nicht – und jetzt setze ich mein Letztes gegen seinen Sohn, gegen Lars’ Sohn! Ist das auch ein Zufall? – Sei’s denn! Zum Schlusse der dummen Geschichte!“

Er machte sich bereit, das Spiel fortzusetzen.

„Aber die Geschichte von der Katze und dem Glas muß ich dann hören,“ meinte der Sohn Lars’, dem das närrische Benehmen Bills nicht aufzufallen schien.

„Sollt Ihr hören! Werdet dann manches begreifen, was Ihr vielleicht über mich gehört habt.“

Das Spiel nahm seinen Fortgang, Bill gewann jeden Satz. Der Fremde war nämlich so unvorsichtig, sich jedesmal in die Karten sehen zu lassen, und Bill besann sich keinen Augenblick, diesen Vortheil zu benutzen, es war ja sein Geld, das er zurückgewann! Er hätte jetzt nimmer aufhören mögen – das Häufchen vor ihm stieg höher und höher, vielleicht war gar alles wieder gut zu machen – die „Laura“, das gebrochene Bein, der Kutter! Wenn es ihm nur nicht immer gewesen wäre, als säße Lars neben ihm mit den hinaufgezogenen Augenbrauen und auf seinem Schoß Rolf, der Kater, mit zugekniffenen Augen!

Die anderen merkten das falsche Spiel des Kapitäns und verlangten plötzlich den letzten Rundgang.

Bill athmete auf wie von einer furchtbaren Qual befreit. Jakob Tönningen hatte eine große Summe verloren, doch er mußte sehr reich sein, er sprach kein Wort darüber. Er schob nur die Karten beiseite und sagte: „Nun die Geschichte von der Katze und dem Glas!“

Die Tischgesellschaft machte sich spöttische Zeichen, sie hatte sie schon so oft, unzähligemal oft gehört.

Bill war heute in seiner Laune; der hohe Gewinn, der reichliche Gin – er konnte kein Ende finden. Der Kapitän schien sein Gesinnungsgenosse zu sein; besonders die Geschichte mit dem Glas erschien ihm sehr bedenklich: er begreife ganz wohl, wie einem so etwas nicht mehr aus dem Kopfe gehen könne, und das sei einmal sicher, es gäbe Dinge auf der Welt, die sich nicht erklären lassen. Dann fragte er nach Bills Familie, was die davon denke, und erstaunte nicht wenig, zu hören, daß seine Tochter nicht daran glauben wolle, was doch sonst Mädchenart sei.

Schwer geladen wankte Bill lange nach Mitternacht nach Hause am Arme Jakobs, der noch manche Fragen nach seiner Tochter that, die dem Vater, wäre er in nüchternem Zustande gewesen, aufgefallen sein müßten. Mit dem sicheren Versprechen eines Besuches verließ Jakob den Alten.

Laura wachte noch; sie hatte sich fest vorgenommen, heute mit Bill ein ernstes Wort zu sprechen, es ging so nicht mehr fort, es fehlte bereits am Nöthigsten; sie hatte im geheimen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_795.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2023)