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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Meinetwegen – alles weiß und blau! Es war Annie alles einerlei; was fragte sie danach!

„Hör’ einmal, Herzenskind, der Lamprecht murmelte da so etwas davon, Du wolltest Deine Blumen wegschicken. Ich habe wohl nicht recht verstanden!“

„Doch! Er soll sie alle im Lauf des Vormittags zu Herrn Pfarrer von Conventius hinschaffen lassen, hier ist die Adresse.“

„Alle Deine Blumen?“

„Alle meine Blumen, ja!“

„Zu dem schönen Blonden, der gestern hier war? Schickt sich denn das auch, Vögelchen? Die Herren haben doch sonst Dir Blumen geschenkt!“

„Du kannst beruhigt sein. Die Blumen sind nicht für ihn, sondern für einen Gefangenen, der zum Tode verurtheilt ist!“

„Zum Tode! Ach Du mein Gott!“ Agathen war der Schreck in die Glieder gefahren, sie mußte sich setzen. „Was Du aber auch für ein Herz hast! Wie von lauterem Gold, sogar Mörder und Räuber mußt Du noch erfreuen! Ja, ja, der Mann, der mein Vögelchen ’mal bekommt, der kann lachen! Und es sieht in dem Kleid und dem Hut zum Verlieben schön aus!“

Es war richtig, Agathe hatte nicht übertrieben, Annies Spiegel sagte dasselbe. Sie hatte sich sonst ehrlich und unbefangen dessen gefreut, heute ließ es sie kalt – für wen sollte sie schön sein?

Aber der freundliche, lustige Zufall, der, welcher es gut mit den Menschen meint, nahm sich Annie Gerolds an und wollte seinem Liebling das vergüten, was der schlimme andere Bruder gestern an ihm gesündigt hatte. Er gab Annie den Gedanken ein, sie müsse Lamprecht doch noch selbst Bescheid wegen der Blumen sagen, da Agathe zuweilen etwas vergeßlich war; und so kam es, daß sie, um zum Treibhaus zu gelangen, in welchem der Alte jetzt herumhantierte, ihren Weg durch den Garten nahm und, nachdem sie ihren Auftrag ertheilt hatte, durch eine Hinterpforte eben dieses Gartens eine kleine, stille Seitenstraße gewann, auf welche besagtes Pförtchen mündete. Sie kam hier, wenn auch auf einem ganz anderen Wege, ebensogut zur Pferdebahn, die sie nach Heinrichslust bringen sollte; sie konnte aber nicht wissen, daß unterdessen ein Bote von Frau Hedwig Weyland durch die Hauptstraße auf ihr Haus zueilte, um ihr zu sagen, das Zusammentreffen sei leider im letzten Augenblick vereitelt worden, da Frau Weyland unerwartet auswärtigen Besuch bekommen habe. Der Bote erfuhr, das Fräulein sei schon fort, Annie aber setzte sich ahnungslos in die Pferdebahn und fuhr ihrem Schicksal entgegen.

Heinrichslust war ein reizendes Rokokoschlößchen, von einem großen Park umgeben, ehemaliger Besitz eines Prinzen, dessen Namen es trug und der viel zur Ausschmückung des Schlosses und Erweiterung wie Verschönerung des Parks gethan hatte. Seine Nachkommen hatten aus Mangel an Geld Schloß und Park an die Väter der Stadt abgetreten, die dafür einen hübschen Kaufschilling hergaben, weil es der stark bevölkerten Stadt lange schon an einem geräumigen Platz für ihre Spaziergänge und Vergnügungspartien gemangelt hatte. Seit vielen Jahren bildete nun Heinrichslust das beliebteste Ziel der Bewohner von F. Eifrige Fußgänger wanderten dorthin, schöne Equipagen brachten die wohlhabende Bevölkerung heraus, die Pferdebahn that das übrige; man fuhr vom Wasserthor eine knappe halbe Stunde, dann erblickte man die an einen mäßigen Hügel gelehnten schönen Parkanlagen, den Fluß, der sich in allerlei anmuthigen Windungen unter Brücken von Balkenwerk, Stein oder ungeschälten Birkenästen hervorschlängelte, einmal sich sogar dazu verstand, einen Wasserfall in einer Felsgrotte darzustellen, was sich abends bei bengalischem Feuer sehr malerisch ausnahm – und endlich auch das Rokoko-Schloß. Ein strebsamer Restaurateur hatte darin eine altdeutsche Wirthschaft eingerichtet, um welche herum er eine Menge von gußeisernen Gartenmöbeln gruppiert hatte.

Die Pferdebahn war dicht besetzt, aber bei Annies Erscheinen sprangen ein paar höfliche Herren auf, um ihren Platz anzubieten, für welche Liebenswürdigkeit sie sich durch unausgesetztes neugieriges Anstarren der schönen jungen Dame zu entschädigen suchten. Sonst wäre dies Annie lästig gefallen – heute achtete sie nicht darauf. Nur als eine Thurmuhr in der Nähe einer Haltestelle elf Uhr schlug, zog sie ihr Taschenührchen und überzeugte sich, daß sie zu ihrem Stelldichein entschieden zu früh kommen würde. Nun gut, dann suchte sie ihre Lieblingsplätze auf und ging erst um halb zwölf Uhr an die ihr von Hedwig bezeichnete Stelle. In ihrer Ungeduld, von Hause fortzukommen, Theklas fragenden Augen aus dem Wege zu gehen, hatte sie sich zu zeitig aufgemacht.

Wie die Pferdebahn jetzt Halt machte, sprang Annie eilfertig hinaus und bog von dem übrigen Schwarm ab, der unverweilt den breiten, sanft aufsteigenden Pfad zum Schlößchen und zum Restaurationsgarten verfolgte. Das junge Mädchen kannte jeden Schleichweg, jedes Eckchen des weitläufigen Parks; ihr Vater hatte ihn sehr geliebt und war oft mit ihr herausgefahren, um Arm in Arm mit dem Liebling, abseits von den beliebten Wegen, die grüne Wildniß mit ihm zu durchstreifen. Was war da alles zur Sprache gekommen! Für alles hatte der Vater Interesse gehabt, sein Vögelchen konnte ihm vorzwitschern, was es nur wollte: von seinen neuen, hübschen Kleidern, den Aufgaben zu den Stunden, den Freundinnen, den Büchern – kraus durcheinander sprudelte es von den jungen Lippen, und nie gab es ein Zweifeln, ein Stocken … es war ja so einfach! Der Vater war ihr liebster, bester Freund, er liebte sie mehr als alles auf der Welt, wie hatte ihr Kinderherz nicht vor ihm liegen sollen wie ein offenes Buch?

Würde es auch heute so vor ihm liegen, wenn er neben ihr wäre? Ach, es war eben kein Kinderherz mehr! Nie gekannte Schauer, ahnungsvolle Träume durchbebten es, und es sehnte sich, sehnte sich grenzenlos nach dem Einen, der verstanden hatte, es zu wecken, der aus dem harmlosen Mädchen ein liebendes Weib gemacht hatte!

Am Saume des äußeren Parks entlang führte ein schmaler, fester Weg; den ging Annie, bis sie an einen Graben kam, der halb mit vorjährigem Laub angefüllt war. Eine kleine, etwas baufällige Brücke führte hinüber und geradeswegs auf eine verquollene Lattenthür zu, die Annies Hände mit einiger Mühe öffneten. Dafür war sie jetzt auch allein, ganz allein in einem der abgelegensten, unbekanntesten Theile des Parkes. Hier gab es keine Aussichtspunkte, keine Tempel und Borkenhäuschen, aber darum war es der einsam Wandelnden auch wahrlich nicht zu thun. Junge Birken standen am Wegrande und schwenkten, von der linden Mailuft bewegt, sacht ihr lustiges, grünes Fähnlein, weiter hinein standen ernste Gruppen kräftiger Buchen und Ulmen beisammen, und zu ihren Füßen breitete sich’s blüthenweiß aus, die Windröschen waren es, die lieblichen Anemonen, zu hundert und aberhunderten wachgeküßt vom Maisonnenstrahl; ganz strahlend frisch und fleckenlos lächelten sie zum blauen Himmel empor, manche noch halb zusammengerollt, langsam ein Blättchen nach dem andern aus der Knospenhülle lösend! Weiter blühte hier noch nichts, im tiefsten Schatten standen die grünen Blatthülsen der Maiglöckchen, aber ihre Blüthen waren noch winzig klein und hellgrün, die hatten ihre spröden Aeuglein noch nicht aufgeschlagen. Die Luft jedoch war von einem würzigen Hauch durchzogen, von dem frischen, herben Duft, wie das junge Laub ihn spendet, das, vom Nachtthau gekühlt, von der Sonne durchwärmt, dem Menschen die alte, ewig neue Kunde vom Frühling ins Herz hineinschmeichelt, der alle Wunden zu heilen, alle Schmerzen zu lindern verspricht.

Annie bückt sich, pflückt eine Handvoll Anemonen und steckt sie sich an die Brust. Ach, wie wohl ihr die Einsamkeit that inmitten der aufsprossenden Natur! Wenn doch Hedwig, die gute, prächtige Hedwig, heute lieber nicht käme, wenn sie doch allein bleiben könnte!

Aber nein, das kann sie nicht! In die sie umgebende tiefe Stille fällt ein Geräusch, wie wenn etwas in leichtem Trab auf der weichen Erde näherkommt – ein kurzes Schnaufen, da biegt er um die nächste Baumgruppe, der kluge, schöne Neufundländer; er bleibt stehen, legt den Kopf ein wenig zur Seite und wedelt mit dem buschigen Schweif, als wollte er sagen: ich weiß, wer Du bist – aber warten wir lieber doch ab!

„Ego!“ Mit versagenden Knieen, mit stockendem Herzschlag stößt Annie das Wort heraus. Es ist doch nicht möglich, gerade heute, gerade hier! Haben ihre unablässigen Gedanken, hat ihr sehnsuchtgequältes Herz ihn, der jetzt langsam auf sie zuschreitet, ihr entgegengeführt?

Noch sieht er sie nicht; seinen breitrandigen Hut in die Stirn gerückt, kommt er tief in Gedanken daher und stutzt erst, als er den Hund mitten im Wege stehen findet.

Dann aber …

Er vergißt es, als höflicher Mann seinen Hut vor der Dame zu ziehen. Ungestüm eilt er auf sie zu, faßt ihre Hände beide, sieht ihr prüfend in die Augen und nennt leise ihren Namen: „Annie!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_743.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)