Seite:Die Gartenlaube (1890) 734.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Sie fährt empor. „Tante, denkst Du, ich genüge nicht?“

„Deshalb nicht! Die Damen, die sich dort engagiren lassen, sind – nun, ich möchte Dich nicht mit ihnen in eine Linie gestellt wissen.“

Sie ist ein Weilchen still, wie erschreckt. „Ach, Tante,“ antwortet sie dann, „jetzt verstehe ich Dich; aber sieh, ich bin dagegen gefeit. Daß man über mich spricht, muß ich mir gefallen lassen, ich trat ja an die Oeffentlichkeit; aber ich wünschte nur, ich könnte Dir sagen, welch einen starken Schutz ich habe durch das Andenken an die Eltern, und außerdem –“

„Denke daran, was Emilia Galotti sagt, als sie von ihrem Vater den Dolch erbittet, um sich zu tödten.“

„Ja, Tante, ich habe die Emilia gespielt, aber Du weißt nicht, Tante –“ Sie ist purpurrot geworden und sieht zu Boden, dann schlingt sie wieder den Arm um meinen Hals und küßt mich, als wollte sie mit diesem Kuß gewaltsam ein Geheimniß zurückdrängen, das ihr schon auf den Lippen schwebte. „Tante,“ flüstert sie endlich, „ich wollte, Du könntest mich einmal spielen sehen; ich weiß, Du hast ein Urteil.“

„Ich will Dich nicht sehen, Martha, es thut mir zu weh. Aber nun Gott befohlen, ich bin müde.“ Sie hat wieder so einen flehenden zärtlichen Ausdruck in den Augen; sie küßt meine Hand und verläßt das Zimmer. In der That, ich fühle mich kaum noch fähig, zu sprechen.

Wie sie fort ist, nehme ich mein Tuch. Ich muß noch Luft schöpfen. Der Garten hinter dem Hause wird leer sein bei dem Wetter, freilich, es regnet noch. So benutze ich die Kegelbahn als Wandelgang, denke ich. – In dem dunklen Gärtchen ist es wirklich völlig einsam, wunderbar duftet der Flieder, die Luft legt sich wohlthuend kühl auf meine heiße Stirn. Allmählich gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, ich erkenne deutlich die Tafel an der Wand der Kegelbahn, in der ich auf- und abgehe, erkenne die Baumpartien und die schwarze Masse der Häuser oberhalb des Gartens, der terrassenförmig aufsteigt; das große hohe Dach dort muß das Pfarrhaus sein.

„Arme Elisabeth!“

Ich bleibe am Ende der Bahn stehen, lehne mich an eine der schmucklosen Holzsäulen, die dem Gebäude einen hallenartigen Anstrich verleihen sollen, und schaue hinauf. „Arme Elisabeth!“ wiederhole ich. Wie lange ich da meinen Gedanken nachhänge, weiß ich nicht, da höre ich Schritte und Flüstern, das leidenschaftliche, unverständliche Sprechen einer Männerstimme zunächst. Jenseit des Bosketts müssen sie stehen, die da mit einander reden. Nun antwortet eine Frauenstimme – das ist Martha. – „Quäle mich nicht so furchtbar!“ sagt sie eben, und ihre Stimme klingt müde.

„Ich Dich quälen?“ fährt er auf, „Du quälst mich und Dich! Glaubst Du, es sei schön für mich, Dein Schwanken anzusehen, zu merken, daß Du am liebsten noch heute abend mit bloßen Füßen und Asche auf den Haaren in die Pfarre flüchten möchtest? Geh doch, geh, aber rede nie wieder davon, daß Dir die Kunst heilig ist; lege nie wieder Deine Arme um meinen Hals und sage mir, daß Du jetzt erst wüßtest, was Leben heißt, jetzt wo Dir das Heiligtum der Kunst erschlossen, jetzt – wo Du liebst. – Geh hin in die alte Stickluft und stäube die Bücher ab in der Studierstube Deines Vaters und setze Dich dann fein sittsam an das Fenster und ziehe die Fäden durch die Leinwand! Versuche, wie das Leben Dir wieder gefällt in dieser Beschränkheit, nachdem Du goldene Freiheitsluft geathmet; ich sage Dir, Du wirst das elende Weib beneiden lernen, das mit dem Leierkasten von Ort zu Ort zieht.“

„Ich liebe Dich ja, Waldemar, und ich liebe meine Kunst; Du weißt am besten, wie sehr. Nur hier, hier – glaube es mir, ich kann hier nicht spielen!“ vertheidigt sie sich weinend.

„Du kannst nicht?“ braust der Mann auf; „Du willst nicht, sage es gerade heraus! Wenn ich Dir glauben soll, daß Du mich liebst, so beweise es, indem Du durch Dein Auftreten der ganzen Welt zeigst, daß Du auf einer höheren Stufe stehst als auf der einer philisterhaften Engherzigkeit, daß es Dir Ernst ist um Deinen Beruf, daß Du eine wahre Künstlerin bist. Zeige es ihnen durch Dein Spiel; stolz tritt ihnen entgegen, und sie werden Dir zujauchzen.“

„Waldemar, Du hast ja tausendmal recht,“ sagt sie – „aber die Eltern –“

„Nun, ist etwa ein Pfarrer nicht auch ein halber Schauspieler?“ fragt er bitter, „tritt er nicht vor das Publikum und redet dasselbe an wie Du und ich, wie allabendlich Tausende von Künstlern? Wo ist da ein Unterschied? Ist die Bühne nicht ebenfalls ein Erziehungsmittel für das Volk, sogut wie die Kanzel? Wollen nicht die großen Geister, die unsere Dramen gedichtet haben, das Sittliche, das Gute im Menschen wecken? Wie, Tosca? Was hast Du darauf zu sagen? Wärst Du am Königlichen Schauspielhaus in Berlin angestellt, jubelten Dir allabendlich Tausende zu, so würden Dir die Pfahlbürger hier die Pferde ausspannen und Deine Pflegeeltern stolz Dich segnen. Aber Du schämst Dich des kleinen Anfangs, der umherziehenden Truppe, und vergißt, daß der Weg zum Gipfel des Ruhmes über Dornen und Disteln geht. Deine Begeisterung, Deine Kraft reicht nicht aus. Gehe hin zu Deiner Gönnerin, die Dich dem Direktor abkaufen will, lasse Dich von ihr zurückführen in das träge Wasser dem entronnen zu sein Du so glücklich warst, vergiß, was Du erlebt hast, und kümmere Dich nicht darum, was aus mir wird! Ich muß mich schon ohne –“

Hastige Schritte eilen jetzt den Weg entlang. Dann ein Schrei, so recht aus einem armen gequälten Herzen heraus: „Waldemar, gehe nicht!“

Eine lichte Gestalt fliegt hinter dem dunklen Gebüsch dem Manne nach, und im nächsten Augenblick hält sie ihn, nicht drei Schritte von mir, umschlungen, wortlos, schluchzend.

„Du bleibst bei uns?“ fragt er drohend und zärtlich zugleich, während ich mich, so sehr ich kann, in das tiefste Dunkel hinter die Säule drücke.

„Ja, ja!“ schluchzt sie.

„Bei mir, Tosca?“

„Ja – immer!“

„Und Du spielst morgen?“

„Ja!“ schreit sie auf, „weil Du es willst!“

Da hebt er sie ungestüm empor und küßt sie, als wolle er sie ersticken, und in förmlichem Sturmschritt eilt er mit seiner schönen Last an mir vorüber. Ich höre die Gartenpforte zuschlagen, und nun ist’s ganz still um mich her. Ich fasse mich an die Stirn und schüttele den Kopf. Will sie – wird sie wirklich spielen? Aber freilich, wie die Sachen liegen – o, dies unselige Kind!

Jetzt klingen die Töne eines schrecklich verstimmten Klaviers aus dem Gartensaal an mein Ohr, zu denen eine gar nicht üble Tenorstimme singt. Es ist das kleine traurige Lied Koschats:

„Verlassen, verlassen, verlassen bin i –“

Unfähig, es weiter zu hören, kehre ich in das Haus zurück und in mein Zimmer.

Auf dem Tische vor der brennenden Lampe liegt ein Schreiben. Ich öffne es und muß lachen beim Lesen. In ausgesucht artigen Worten teilt der Direktor mir mit, daß er eventuell geneigt sei, Fräulein Korinska zu dispensiren, falls die gnädige Frau gewillt wäre – und nun kommt eine Forderung, die an Unverschämtheit nichts zu wünschen übrig läßt.

Nun, Martha hat ja entschieden, diese Angelegenheit ist erledigt. Freilich weiß ich von ihr selbst nichts, ich habe nur gelauscht, und ich will doch den Beweis geben, daß ich alles zu thun bereit bin, um sie – Elisabeths wegen – von einem Auftreten hier loszukaufen. Mit dem Briefe in der Hand erklimme ich noch einmal die Treppe zu dem obern Stock. Die erbärmliche Flurlampe ist im Erlöschen, und ich habe Mühe, die Thür der Mansardenstube zu finden, die Martha bewohnt. Ohne weiteres drücke ich die Klinke auf und trete ein. Das Mädchen sitzt halb ausgekleidet auf dem Rande ihres Bettes und hat das Haar aufgeflochten, um es durchzukämmen. Sie erinnert mich in diesem Augenblick so lebhaft an das reizende Kind von ehedem, wenn es mit den aufgelösten goldenen Wellen vom Badestrand kam und Elisabeth mich hastig am Kleide zupfte, sobald ich meiner Bewunderung über diesen Anblick Worte geben wollte.

„Tante!“ ruft sie verlegen und springt auf.

„Nun, Kind, ich bringe Dir etwas Gutes,“ sage ich, „der Direktor läßt sich auf Unterhandlungen ein – Du brauchst nicht zu spielen.“

Sie hat ihr weißes Kleid hastig vom Stuhle geräumt und hängt es auf. Als sie mir jetzt wieder ihr Gesicht zuwendet, ist es dunkelroth, und ihre Augen blicken an mir vorüber. „Ach, Tante,“ ist alles, was sie äußert; sie will sprechen und vermag es nicht. Ich kann den Kampf ihrer Seele in dem zuckenden Gesicht erkennen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_734.jpg&oldid=- (Version vom 19.6.2023)