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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

auf die Seitenlehne des Sessels gesetzt und den Arm um Thekla geschlungen, deren Wange sie an die ihrige drückte. „Wie das reizend aussieht, – unser liebliches Vögelchen“ –

„Neben einer halbverhungerten Maus!“ ergänzte trocken Thekla, welche es liebte, Agathens Ueberschwänglichkeiten in dieser Weise zu beenden.

„Gott soll mich behüten! Was für ein Vergleich ist das? Halbverhungerte Maus! Hat man es je gehört, daß eine Dame sich selbst so nennt?“

„Nun, dann hört man es jetzt!“ meinte Thekla gelassen. „Was tischen Sie denn da für gute Sachen auf, Frau Oberhoftafeldeckerin? Das mit dem Halbverhungertsein war mein heiliger Ernst. Geschwind den Thee her, Vögelchen!“

„Hier, Thea!“

„Fräulein, nehmen Sie diesen Fleischsalat, ich hab’ ihn genau so gemacht, wie Sie ihn gern mögen! Kann ich sonst noch etwas besorgen?“

„Feuer in den Kamin, Agathe, – nicht wahr, Thea? Bitte!“

„Bei diesem Frühlingswetter? Aber mag’s drum sein, die Abende sind noch kühl!“

Das Holz lag schon kunstgerecht aufgeschichtet im Kamin, gleich lohten die Flammen auf und spiegelten sich in dem braunen Eichengetäfel; das schöne, hohe Speisezimmer bot ein Bild des Geschmacks und Behagens.

Wäre Annie noch das kleine Mädchen früherer Tage gewesen, die ältere Schwester hätte ihr zugerufen. „Spiele nicht mit dem Essen, sondern iß auf, was Du auf Deinem Teller hast!“ Nun, das ging jetzt nicht mehr gut an, und Thekla sah still zu, wie Agathens schöne Leckerbissen beinahe unangerührt beiseite geschoben wurden. Dann kam der alte Lamprecht, den Tisch abzuräumen, die Schwestern wechselten em paar freundliche Reden mit ihm, er fuhr Thekla in ihrem Räderstuhl zum Kamin, Annie holte sich ein kleines geschnitztes Bänkchen, setzte sich zu Theklas Füßen, und nun blieben die Schwestern allein. Draußen ging der Frühlingswind über die erwachende Welt und sang den Menschen sein altes, immer neues Auferstehungslied zu – hier drinnen legte ein junges Menschenkind sein Haupt auf die Kniee der Kranken und sagte leise: „Thea – morgen wird er hierherkommen.“

„Wann, mein Kind?“ fragte die andere ebenso leise zurück.

„Zwischen fünf und sechs Uhr, habe ich ihm gesagt.“

„Und meinst Du –“ fing Thekla zögernd an.

„Ach, ich weiß nicht – weiß gar nicht! Er hat nichts Bestimmtes gesagt, aber er sah so ernst und bewegt aus!“

„Ihr habt heute lange zusammen gesprochen in der Gemälde-Ausstellung?“

„Ja, sehr lange – darum kam ich so spät! Ach, und sein Bild! Thea, Thea, daß Du dies Bild nicht sehen kannst!“

„Die jungen Mädchen wollten heute ein paar Mal darauf zu sprechen kommen, aber Du hast es immer zu verhindern gewußt, Kleine – und sehr gewandt, wie ich zugeben muß.“

„Ja – ich konnte es nicht zulassen, daß die darüber urtheilen. Das ist ein Bild, so unbeschreiblich schön – man könnte es vielleicht in Musik setzen, aber niemals schildern.“

In der Stille, die hier eintrat, streichelte Thekla sanft das kastanienbraune Köpfchen, das in ihrem Schoß lag.

„Thea,“ fing die junge, beklommene Stimme wieder an, „mir will es scheinen, als ob Du Dich nicht recht freuen könntest!“

„Das wird kommen, Liebling! Meinst Du, ich sei so herzlos und selbstsüchtig, mich nicht an Deinem Glück mit zu freuen? Aber erst muß es doch da sein – Dein Glück – und ich muß es als solches erkennen! Sieh, mein Herzblatt, dieser Mann ist allen fremd, niemand kennt ihn, niemand kann mir etwas über ihn sagen, und so oft ich mich auch über meines Vögelchens richtigen Blick und treffendes Urtheil gefreut habe … hier bin ich mit Recht ein wenig mißtrauisch, denn ein leidenschaftlich liebendes Mädchenherz kann keine Beweisführung abgeben.“

„Wenn es nicht gerade die beste Beweisführung wäre, daß es eben diesen Einen so leidenschaftlich liebt!“

Solche unwiderlegbaren Aussprüche überraschten Thekla oft bei Annie – gerade so hatte auch Annies Mutter oft gesprochen.

„Und Du wirst – wirst Du – mich auch immer lieb behalten, Thea, wenn es – wenn es – so kommt?“

Es klang sehr bittend und demüthig, und dazu küßte ein bebender Mund Theklas Hand.

„Ich – Dich? O, Du mein Kleines! Wie kannst Du nur fragen? Aber Du, in Deinem neuen, großen Glück –“

„Du weißt, daß ich Dich noch viel, viel lieber dann haben werde, wenn das möglich ist – nicht wahr, Thea, Du weißt es? Nie hab’ ich es verstehen können, wie das Glück engherzig machen kann! Tausendmal besser sein als bisher, und gut und hilfreich und geduldig mit andern, und immer geben, geben von dem eigenen, unerschöpflichen Reichthum – Gott danken und ihn noch viel inniger lieben als bisher, und alle Menschen lieb haben –“

Das Glaubensbekenntniß kam nicht zu Ende. Thekla preßte die junge Schwester an sich und murmelte gerührt:

„Segen über Dein goldenes Herz! Daß er es nur zu würdigen versteht!“

„Ach – würdigen! Er!“ Wieder eine Pause – endlich kam es sehr, sehr schüchtern und zaghaft über Annies Lippen: „Thea – hast Du eigentlich – eigentlich – früher, meine ich –“

„Jemand geliebt?“ vollendete diese ruhig. „Nun, Vögelchen, darüber hast Du Dir gewiß schon oft den Kopf zerbrochen?“

Es kam keine Antwort.

„Und mit Dir viele, die hier ein- und ausgehen,“ fuhr Thekla, allmählich in ihre gewohnte Redeweise übergehend, fort, „junge, naseweise Mädchen und würdige Mütter und reifere Damen – den Männern wird es herzlich gleichgültig sein. Aber die Weiber! Die alte Thekla Gerold – der Krüppel – das häßliche, kranke Geschöpf – die gelehrte alte Jungfer – ob die wohl jemals geliebt haben kann? Unmöglich! Sie, die sich so groß thut mit ihrer Klugheit, mußte doch so genau, wie zweimal zwei vier ist, wissen, daß das nie im Leben erwidert werden konnte, und wenn ihr der eigene Vater hundertmal aus Mitleid weisgemacht hat, sie sei ganz etwas Besonderes –“

„O nein, Thea! Liebe Thea! Nicht so! Ich bitte Dich!“

„Nein, nein, Vögelchen, ich will Dir nicht wehthun! Also ernsthaft denn! Ja, trotz dieser sogenannten Klugheit, Geistesschulung, Selbsterkenntniß – ist es mir gegangen wie andern auch, es hat mir das alles nichts geholfen. Das war zu der Zeit, als Deine Mutter zu uns ins Haus kam, begleitet von einer ganzen Schar von Hausfreunden, ehemaligen Verehrern, Vettern – was weiß ich! Und unter ihnen war einer, der that es mir an – Du wirst vielleicht denken, ein ernster, gelehrter Herr, mit allen Schätzen des Wissens ausgerüstet … nichts von alledem! Ein junger, heiterer, frischer Offizier – weißt Du, wer ihm ein wenig ähnlich sieht? Der Ulanenlieutenant von Conventius! – Es war damals soviel Liebe um mich her – wohin ich nur sah. Unser Vater war vollständig verwandelt, das Glück leuchtete ihm aus den Augen, lachte ihm von den Lippen, klang ihm aus der Stimme – und sie, unser Sonnenstrahl – nun, wer selbst einer ist wie Du, kann wohl nicht ganz den Zauber begreifen, der von einem solchen Wesen ausgeht; sie, Deine schöne, junge Mutter, liebte unsern Vater gleichfalls mit der ganzen Kraft ihrer frischen, ungebrochenen Seele … Wohin ich nur blickte, sah ich Liebe, Glück und Hingebung, und ich war damals selbst noch jung und merkte eigentlich zum ersten Male, daß ich auch ein Herz besaß, nicht bloß das bißchen Verstand, wovon alle Welt soviel Aufhebens machte, weil die Menschen wohl sahen, daß ich sonst nichts anderes hatte, womit ich Staat machen konnte, sondern einzig und allein auf die Wissenschaften angewiesen war. Jener junge Offizier war ein entfernter Vetter Ellinors, Deiner Mutter, und auch ein ehemaliger Freier von ihr – sie hatte alle andern abgewiesen, weil sie nun einmal keinen andern wollte als unsern Vater. Nun, der Vetter Lieutenant ging nicht zu Grunde an dem Korb, den sie ihm gab, er gewöhnte sich ganz tapfer daran, sie als eine glückselige junge Frau an der Seite ihres Mannes zu sehen, er kam oft und immer öfter in unser Haus, ein gerngesehener Gast bei uns allen – am meisten bei mir! Ich nahm mich wacker zusammen, sagte mir’s immer wieder vor, daß seine unbefangene Freundlichkeit mir gegenüber nichts anderes sei als die schuldige Höflichkeit eines wohlerzogenen Menschen gegen die Tochter des Hauses, in dem er soviel Gastfreundlichkeit genoß – ich sagte mir ferner, daß ich, ein krankes, halb verkrüppeltes Geschöpf, niemals im Leben auf Liebe und Glück Anspruch zu erheben habe, ganz von der Idee zu schweigen, die Gattin eines hübschen jungen Offiziers zu werden … liebste Annie, es half mir alles nichts! – Ich hörte unter allen seinen Schritt heraus, wenn er draußen auf der Treppe klang, der Ton

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