Seite:Die Gartenlaube (1890) 706.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Polarstern. Wer in der Astronomie bewandert ist, kann seine Uhr danach stellen: und der Seemann richtet sein Schiff danach. Auch unsern Lesern wird es nach dem Vorhergehenden nicht schwer werden, sich zu orientiren und den Mizar aufzufinden. Im September und Oktober ist die auf der Karte dargestellte Lage gegen Mitternacht zu sehen.

Bei den erwähnten Aufnahmen Pickerings zeigte sich nun die auffallende Erscheinung, daß sich die Spektrallinien des Mizar in Zeitabschnitten von 52 Tagen verdoppelten. Das Maß dieser Verdoppelung entspricht einer Verschiebung der Lichtwellenlänge um den viertausendsten Theil ihrer Größe. Da die Geschwindigkeit des Lichtes 40 000 Meilen in der Sekunde beträgt, so bedeutet diese Verschiebung der Spectrallinie eine Geschwindigkeit der Lichtquelle von 10 Meilen in der Sekunde. Da ferner diese Verschiebung nach beiden Seiten zugleich stattfand, so schloß Pickering, daß der für einfach gehaltene Stern in Wirklichkeit aus zwei Sternen bestehen müsse, die, einen Doppelstern bildend, wie das in andern Fällen vielfach beobachtet war, um einen gemeinschaftlichen Punkt kreisen.

Ein Blick auf die nebenstehende Figur wird die Sache sofort erläutern.

A und B bedeuten die einzelnen Sterne des Doppelgestirns, die sich in der Richtung der Pfeile bewegen, E sei unsere Erde, die man sich aber unendlich weit abstehend vorstellen muß. Man sieht, daß sich Stern A von der Erde entfernt und B sich ihr nähert. Nach 26 Tagen gelangt A in die Stellung bei D, und B geht nach C. In diesem Augenblick entfernen sie sich nicht mehr von der Erde, also die Spektrallinien werden einfach. Nach wiederum 26 Tagen tritt wieder der zuerst erwähnte Fall ein. Es ist klar, daß zu einem ganzen Umlaufe 104 Tage gehören. Läuft aber der Stern 104 Tage lang mit einer Geschwindigkeit von 10 Meilen in der Sekunde, so legt er 90 Millionen Meilen zurück, seine Bahn, die wir uns kreisförmig vorstellen dürfen, hat dann rund 30 Millionen Meilen Durchmesser; somit stehen die beiden Sterne um die Hälfte weiter voneinander, als die Entfernung der Erde von der Sonne beträgt. – Hat der Astronom aber Geschwindigkeit und Bahngröße gefunden, so ist es für ihn ein einfaches Rechenexempel, auch die Größe der Masse zu berechnen. Hiernach stellte sich heraus, daß der Mizar aus zwei Sonnen besteht, deren jede einzelne 20mal so viel Masse hat als unsere Sonne.

Wenn trotz dieser bedeutenden Größe der Sterne und trotz ihrer großen Entfernung voneinander der Doppelstern selbst in den stärksten Fernröhren als einfacher Stern erscheint, so beweist dies die sehr große Entfernung des Mizar von unserem Sonnensysteme.

Somit sieht unser geistiges Auge Dinge, die dem körperlichen Auge wohl für immer werden verschlossen bleiben.

Aber auch dasjenige, was wir sehen, ist wunderbar genug, um noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Wir erwähnten zu Anfang, daß das Licht in einer Sekunde einen Weg von 40 000 Meilen zurücklegt. Für die Entfernungen, nach welchen die Astronomie mißt, genügen, sobald es sich um Fixsterne handelt, die Meilen als Maßstab nicht mehr, die betreffenden Zahlen würden zu lang werden; auch der Erddurchmesser genügt nicht mehr, selbst nicht einmal der Sonnenabstand, obwohl er die stattliche Länge von 20 Millionen Meilen beträgt. In der Fixsternwelt mißt man nach Lichtjahren, das heißt mit Strecken, die das Licht in einem ganzen Jahre zurücklegt. Von der Sonne bis zu uns gebraucht das Licht etwa 8 Minuten, die Reise vom Polarsterne bis zu uns dauert dagegen ganze 15 Jahre, und bei den von Herschel für die entferntesten gehaltenen Sternen sind sogar 3541 Jahre erforderlich, bis die von dort ausgehenden Strahlen unser Auge erreichen. Wenn wir zur Fixsternwelt emporblicken, so sehen wir Strahlen, die schon vor Jahrtausenden ihre Heimath verlassen haben und seit grauester Vorzeit auf der Reise zu uns sind.

Acht Minuten von der Sonne zu uns – Jahrtausende vom Fixsterne zu uns – in jeder Sekunde 40 000 Meilen – Wer lernt’s fassen und begreifen?! H.




Blätter und Blüthen.

Die Ueberfüllung der gelehrten Berufsarten ist eine der brennenden Fragen der Gegenwart, mit der sich in jüngster Zeit die öffentliche Meinung vielfach befaßt hat. Die socialen Gefahren, die mit ihr verbunden sind, dürfen nicht weggeleugnet werden, das sogenannte „gelehrte Proletariat“ ist ein Uebelstand, dessen Aufkommen mit allem Ernst verhindert werden sollte. Der „Allgemeine deutsche Realschulmänner-Verein“ hatte einen Preis ausgesetzt für die Beantwortung der Frage: „Woher rührt die Ueberfüllung der sogenannten gelehrten Fächer und durch welche Mittel ist derselben am wirksamsten entgegenzutreten?“ Es wurden zwei Arbeiten, die eine von Oberlehrer Dr. Pietzker, die andere von Professor P. Treutlein, mit Preisen ausgezeichnet, und dieselben sind unter dem Titel „Der Zudrang zu den gelehrten Berufsarten, seine Ursachen und etwaigen Heilmittel“ im Verlage von Otto Salle in Braunschweig erschienen. Die Schulreformen, welche die beiden Verfasser wünschen, sind ziemlich eingreifend und die nähere Prüfung und Erörterung derselben gehört wohl in den Kreis der Fachmänner. Das große Publikum, die Eltern, welche ihren Söhnen eine höhere Schulbildung angedeihen lassen, können vorderhand mit Reformplänen nicht rechnen; sie müssen sich in die gegebenen Verhältnisse fügen, aber für sie ist es von großem Interesse, zu erfahren, wie es eigentlich um die Ueberfüllung der gelehrten Fächer bestellt ist. Eine nähere Prüfung dieser Frage finden wir in der Arbeit von Prof. Treutlein. Das Bild der Ueberfüllung ist in den verschiedenen deutschen Staaten verschieden. Im großen und ganzen dürfte jedoch das folgende Gesamtergebniß als allgemein gültig und zutreffend angesehen werden:

Eine entschiedene Ueberfüllung ist bei den Juristen und Lehrern für höhere Schulen festgestellt worden. In diesen Fächern giebt es mehr Kandidaten als freie Stellen, und selbst die Nebenfächer, die von dieser Klasse der Gelehrten versorgt werden, die der Bibliothekare und Archivbeamten, sind ungemein übersetzt.

Dasselbe ist auch bei den Chemikern der Fall. Im ärztlichen Stande tritt die Erscheinung zu Tage, daß nur die Großstädte zum größten Theil mit Aerzten überfüllt sind, während auf dem Lande sich noch vielen Aerzten das Feld zu einer ersprießlichen Thätigkeit bietet. Man hört zwar Klagen über den verschärften Wettbewerb auf diesem Gebiete, aber die Statistik zeigt, daß von einer Ueberfüllung in diesem Berufe im ganzen nicht eigentlich die Rede sein kann. Was endlich das vierte Fach, das der „Gottesgelahrtheit“ anbelangt, so verlautet hier nichts von einem übermäßigen Zudrang; im Gegentheil, sowohl in der protestantischen wie in der katholischen Kirche ist ein Mangel an Theologen fühlbar.

Es erhellt nun daraus, daß namentlich diejenigen Fächer, welche auf eine Amtsstelle Aussicht eröffnen, überfüllt sind. Thatsache ist es, daß, während unsere Bevölkerung in den letzten 18 Jahren im Verhältniß von 100 auf 114,8 gewachsen ist, in derselben Zeit eine Steigerung der Studentenzahl von 100 auf 211,6 vor sich gegangen ist.

Wenn auch viele neue Amtsstellen geschaffen, neue Schriften etc. gegründet worden sind, so ist doch die Nachfrage nach Stellen größer als das Angebot, eine Ueberfülle von gelehrten Kandidaten unverkennbar.

Dies sollte für die Eltern ein Wink sein, dort, wo wirkliche Begabung nicht in Frage kommt, von dem Erzwingen einer gelehrten Lebenslaufbahn bei ihren Söhnen abzusehen. Der Allgemeinheit erwächst aber angesichts dieser Thatsache die Pflicht, dahin zu wirken, daß die „nicht gelehrten“ Berufsarten, Gewerbe, Handel, Handwerk und Landwirthschaft, mehr zu der ihnen gebührenden Ehre und Anerkennung in der Oeffentlichkeit gebracht werden, als dies bis jetzt mitunter der Fall ist.

Auf das Ehrenvolle, Nützliche und Ebenbürtige dieser Berufe im Vergleich zu den gelehrten Fächern sollte namentlich die Jugend schon frühzeitig und nachdrücklich aufmerksam gemacht werden. Das ist ein Mittel, mit dem die Gesellschaft selbst zum Theil jener schädlichen Ueberfüllung steuern kann.

*

Der letzte Menschenfresser. Berka heißt ein kleines Bad bei Weimar an der Ilm. Der Ort selbst ist nach den Birken, von denen auf der Schloßseite manche hundertjährige Exemplare stehn; eine prächtige Pappelallee nach Goethe, der sie pflanzte; eine Stahlquelle nach dem Herzog Karl August benannt.

An diesen idyllischen lieblichen Ort, dieses „Meran Thüringens“, das alle Jahre angenehmer und reicher an bequemen Schlössern, Burgen und Villen für die Fremden wird, knüpft sich eine merkwürdige Erinnerung. Vor einem Jahrhundert ereignete sich hier der letzte unzweifelhaft beglaubigte Fall, daß in Deutschland jemand aus Geschmack für Menschenfleisch wiederholt mordete. Vor einem Jahrhundert gab es hier einen Kannibalen, einen Oger, gleich den Menschenfressern, wie sie in unseren Märchen, in Klein Däumling, Rapunzel mit dem langen Haar und Riquet mit dem Schopf, als ein dumpfer Nachklang der vorhistorischen Menschenfresserei fortleben.

In einer alten Innungslade findet man unter den „Exekutionen, so allhier in Berka geschehen“ (nach der Verbrennung der alten Glasern auf dem sogenannten Hexenberge im Jahre 1673) folgende schaurige Notiz: „A. D. 1772, den 3. April ist Joh. Nikol. Goldschmidt, ein Kühhirt aus Eichelborn allhier zur gefänglichen Haft gebracht worden, weil er einem Mädchen von 11 Jahren, einzige Tochter einer Witfrau zu Eichelborn, in seinem Hause die Kehle abgeschnitten und mit dem Beile vollends todtgeschlagen, den Körper entkleidet und in lauter Kochstücke zerhackt, sich auch ein Stück davon gekocht und gegessen. Selbiger hat im Verhör gestanden, wie er auch einen Handwerksburschen auf dem Felde erschlagen, ins Holz geschleppt und des Abends in einer Berre Holz stückweise nach Hause getragen. Es wurde ihm nach eingeholtem Urtheil das Rad zuerkannt, welches auch den 24. Juli 1772 unter Zuschauung vieler tausend Menschen an ihm vollzogen worden. Gott behüte alle und jede Christen vor bösen Thaten, damit sie nicht den gleichen Lohn bekommen! –“

Noch etwas ausführlicher meldet eine Chronik von Berka: „In eben diesm Jahr (1772) erlebten wir ein sehr trauriges Exempel. Joh. Nikolaus Goldschmidt, der in Eichelborn Hutmann war, erschlug an einem Bußtag einen Handwerksburschen, als er ihm auf dem Felde begegnete, theilte ihn und nahm jeden Tag bei dem Eintreiben des Viehs ein Stück davon in einer Welle Holz mit sich nach Hause, welches er kochte und davon aß. Da es aber zu riechen begann, fütterte er damit seinen Hund, schlachtete alsdann denselben und fraß ihn auch. Einige Zeit darauf bekommt er Appetit nach jungem Menschenfleisch; er wählte also, seinen grausamen Hunger zu stillen, ein artig Kind, wie er mir selbst gesagt, daß er vor anderen dieses (10–11jährige) Mägdlein immer lieb gehabt hätte. Dieses locket er, indem es aus der Schule geht, zu sich, zeigt ihm unter anderem auch seine Stubenuhr, und indem das Mägdlein darnach sieht, nimmt er

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 706. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_706.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2023)