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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Halbheft 20.   1890.
      Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1890. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Sonnenwende.
Roman von Marie Bernhard.

(1. Fortsetzung.)


3.

Als die Thurmuhr von Sankt Lukas die vierte Morgenstunde schlug, bog ein einsamer Wanderer um die scharfe Ecke, welche die gewaltige alte Kirche, ein Denkzeichen aus dem vierzehnten Jahrhundert, hier bildete, und blieb vor dem Hauptportal stehen.

Es fiel kein Regen mehr, allein die Wolken hingen so tief, als wollten sie sich jeden Augenblick von neuem entladen. Eine lichtlose, stille Märznacht! Nur von den Dächern rieselte und tropfte es, sonst unterbrach kein Laut die tiefe Ruhe. Der Mann war in einen dunklen Mantel gewickelt und hatte einen breitrandigen Hut tief in die Stirn gesetzt; er schob ihn jetzt ein wenig zurück, um unbehindert die Kirche ansehen zu können, deren gewaltiger Bau nur wie eine dunkle, dräuende Masse vor ihm lag. Wie weisende Finger hoben die Eckthürme sich gen Himmel, und ein leichter Nachtwind, der sich eben aufmachte, erzeugte oben in den Schalllöchern ein seltsames, fernes Klingen. Der Mann im Mantel umging die Kirche und blickte die Straße hinab, die sich rechts von ihm ausdehnte; der „Holländer Weg“ hieß sie, und gleich das dritte Haus darin war ein stolzes Gebäude aus alter Zeit, reich mit Schnitzwerk und allerlei sonderbarem Zierat versehen. Der Wanderer sah daran hinauf, als erwartete er von dorther irgend eine Botschaft, er wandte sich dann wieder zu der Kirche zurück und ließ seine Blicke hin- und hergehen – endlich drehte er sich hastig ab und ging mit beschleunigten Schritten über den Lukasplatz durch die nächstliegenden Straßen und über eine Brücke hinweg, unter welcher der breite Fluß, noch halb in eisigen Banden gefangen, in starrem Schweigen ruhte. Nur hier und da waren die Schollen voneinander geborsten, und mit leisem Gurgeln drängten sich dunkle Wasser dazwischen, unaufhaltsam schiebend und treibend, still geschäftig und rastlos bei ihrem Werk. – Das Haus, bei welchem der eilig Ausschreitende endlich stehen blieb, lag ein wenig abseits von den andern, gleichsam von der breiten, schönen Straße auf Vorposten gestellt; es war auf einer leichten Anhöhe erbaut, hatte einen hübschen Garten hinter sich und mußte im Sommer, seiner freien, erhöhten Lage wegen, einen schönen Blick bieten


Das IV. deutsche Sängerbundsfest in Wien: Die Gruppe „Germania“.
Zeichnung von T. Rybkowski.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_613.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2018)