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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Während sich Alten in solcher Weise in seinen Unmuth verbiß, verlebte Graf Snarre sehr vergnügte Tage in Kiel. Man hatte ihn wie einen lieben, langjährigen Freund im Ericiusschen Hause empfangen, und es schien ganz selbstverständlich, daß er schon vom zweiten Frühstück an sich nicht mehr von der Familie trennte. Frau Ericius begünstigte, theils aus wirklicher Vorliebe für Snarres Person, theils auch von dem Wunsche beseelt, einen so überaus angesehenen Mann als Schwiegersohn für ihre Tochter zu gewinnen, seine Neigung für Dina, und auch Susanne, so sehr sie die mögliche Trennung von ihrer Schwester bedauerte, hatte keinen lebhafteren Wunsch als eine Vereinigung beider. Eine offene Unterredung mit dem Grafen hatte ihr Verhältniß gleich am ersten Tage geklärt und die Gefühle freundschaftlichen Vertrauens in ihnen von neuem befestigt. Die alte Wahrheit, daß durch mündlichen Austausch die Herzen sich am besten aufschließen, hatte hier wieder ihre Bestätigung gefunden.

Wohl hatte sich bei seiner erneuten Begegnung mit der schönen Frau, die einst, wenn auch nur kurze Zeit, eine so große Rolle in seinem Leben gespielt hatte, in des Grafen Brust die verletzte Eitelkeit wieder geregt; es war wie das Zucken einer alten, lang vernarbten Wunde, die sich unter bestimmten Witterungseinflüssen wieder fühlbar macht. Selbst einer leichten Verlegenheit vermochte der Weltgewandte nicht ganz Herr zu werden. Sie aber, wohl ahnend, was in ihm vorging, kam ihm mit so unbefangenem, herzlichem Vertrauen entgegen, daß seine erste bittere Empfindung bald den Gefühlen aufrichtiger, freundschaftlicher Theilnahme und wunschloser Bewunderung Platz machte.

Es war ein tiefer Blick, den sie ihn in ihr Gemüthsleben thun ließ, in die Vergangenheit, die wie eine lange Reihe schwerer, selbstverschuldeter Irrthümer hinter ihr lag, deren Folgen sie nun tragen mußte, so gut es eben ging. Blind, nur dem Gesetz ihrer Laune folgend, war sie an dem Glück, wo es sich ihr in seiner reinsten und edelsten Verkörperung darbot, achtlos vorbeigegangen, ja sie hatte es trotzig beiseite gestoßen, um einem Idol nachzujagen, das sich, wie sie es erhascht hatte, als ein schillerndes Nichts entpuppte; und auch dann noch, als sie es in seiner Nichtigkeit erkannt, hatte sie sich aus Trotz und Eigensinn daran geklammert, unbekümmert um die warnende Stimme in der eigenen Brust, um das Weh, das sie sich selbst und andern damit bereitete, bis ihr endlich die Enttäuschung die Augen öffnete, da es zu spät war. Zu spät – einen Augenblick hatte sie es selbst kaum zu fassen vermocht, sie hatte gehofft, es müsse sich das Unrecht, das sie andern zugefügt, wieder gut machen lassen, aber es war zu spät, und das war die letzte, schmerzlichste Enttäuschung. Das Glück, das sie einst verschmäht hatte, dessen vollen Werth sie jetzt erst erkannte, das höchste Glück, das einem Weib bestimmt ist, ihr war es auf ewig verloren, sie hatte keinen Anspruch mehr darauf.

Sie war wieder frei, das war das einzige, was sie noch hatte erreichen können, und vor ihr lag die Zukunft nicht grau und trüb, nein, freundlich klar wie eine Herbstlandschaft mit sanft abgetöntem Licht, das die Augen nicht blendet, sondern nur um so deutlicher die Ziele erkennen läßt, denen man zustrebt.

„Eine Sühne der Vergangenheit,“ so schloß Susanne, „soll diese Zukunft für mich sein. Was nützen Reue und Selbstvorwürfe? Sie bringen das Verlorene nicht zurück. Aber im freudigen, selbstlosen Wirken und Sorgen für das Wohl anderer liegt eine Quelle der Zufriedenheit, jenes wunschlosen Glückes, das keine Enttäuschung kennt. Mir diese Quelle immer voller und reicher zu erschließen, das, Herr Graf, ist fortan mein Beruf. Es ist ein schöner, edler Beruf, und wenn Sie mich darin unterstützen wollen, so reichen Sie mir die Hand zu einem Bund uneigennütziger Freundschaft.“

„Gern und von ganzem Herzen!“ rief Snarre, indem er Susannens Hand ergriff und gerührt an die Lippen zog.

Der letzte Rest kleinlicher Eitelkeit schwand vor dieser Entsagungskraft, die er bewunderte, beneidete, ohne sich je zu ihr aufschwingen zu können. Ein Gefühl der Beschämung überkam ihn bei ihren Worten wie jüngst in Kopenhagen als er vor Tromholt stand. Tromholt – sollte er es sein, um den sie trauerte, den sie verschmäht und zu spät erst in seinem wahren Werth erkannt hatte, sollte er das verkörperte Glück sein das sie beiseite gestoßen? – Ja, es war kein Zweifel, Tromholt allein wäre dieser Frau würdig gewesen, er war ein Nebenbuhler, vor dem selbst ein Graf Snarre neidlos zurücktreten mußte. Ihn verkannt zu haben, das war freilich ein Irrthum, der einer großen Sühne werth war.

So dachte Snarre in diesem Augenblick, aber das Eintreten Dinas unterbrach seine Grübeleien, und da nun Susanne mit freundlichem Kopfnicken, als sei sie durch eine Beschäftigung abgerufen, das Gemach verließ, war ihm die Unterhaltung des liebenswürdigen Mädchens um so willkommener, als er sich nicht gerne allzulange dem für ihn demüthigenden Eindruck so ernster Gespräche wie das eben geführte hingab, sondern seinem ganzen Wesen nach einer leichteren Lebensauffassung zuneigte.

Dina stand noch unter dem Eindruck, den die kostbaren Geschenke auf sie gemacht hatten, welche Graf Snarre ihr mitgebracht.

„Zunächst, liebster Herr Graf, muß ich eine Weile Ihnen in stummem Danke gegenübersitzen,“ hub sie scherzend, aber doch in einem Tone, der ihre freudige Rührung nicht verbarg, an. „Bitte, hier – wenn’s Ihnen gefällig ist. Ich liebe so sehr den Blick auf den Hafen, auf die Ufer und die Kriegsschiffe – und ich weiß, Sie mögen auch den Erkerplatz am offenen Fenster – oder wünschen Ew. Erlaucht lieber in den Garten zu gehen und dort mit der kleinen bürgerlichen Ericius zu plauden?“

Snarre lachte und schüttelte den Kopf. „Darf ich fragen,“ entgegnete er, „was Sie so stumm macht, ohne daß man etwas davon bemerkt, was Sie so bewegt und wofür Sie mir eigentlich danken? Sind’s die Kleinigkeiten, die ich Ihnen mitgebracht habe?“

„Kleinigkeiten? Das Pantherfell, das chinesische Schachspiel, der Federfächer, der indische Schmuck, die seidenen Stoffe und so weiter und so weiter? Es ist wirklich, als ob Sie beabsichtigt hätten, einen Bazar im Ericiusschen Hause zu veranstalten! – Aber nun ernsthaft, Erlaucht“ – hier streckte Dina mit einem bezaubernden Ausdruck Snarre die Hand entgegen – „ich danke Ihnen tausendmal, ich habe mich ganz unbeschreiblich über die Sachen gefreut! Es ist wahrlich zu viel, Sie haben mich durch Ihre Güte tief beschämt.“

„Wenn ich Ihnen wirklich eine Freude bereitet habe, dann ist der Zweck erreicht,“ erwiderte der Graf, bescheiden ihrem Danke ausweichend. „Und wissen Sie wohl,“ fuhr er fort, „daß kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht das dringende Bedürfniß hatte, mich mit Ihnen zu beschäftigen?“

„Nein!“ entgegnete Dina kurz und mit drolligem Ernst.

„Nein?! Sie zweifeln?“

„Ja! Sie bilden es sich vielleicht ein, aber offen gesprochen, ich vermag es schon deshalb nicht zu glauben, weil Sie mir wenig Beweise dafür gegeben haben. Alle zwei Monate haben Sie einmal geschrieben. ‚Ach, da fällt mir ein, ich muß der kleinen Ericius doch ein paar Worte gönnen!‘ dachten Sie, und wirklich stand auf dem Papier häufig nichts anderes als: ‚Todmüde, zerstochen von Moskitos, verhungert wie eine Kirchenmaus, verdurstet wie ein versiegter Brunnen, kann ich Ihnen heute nur einen herzlichen Gruß senden. Nächstens Ausführlicheres von Ihrem ergebenen Graf Snarre.‘ Aber Ausführlicheres kam nicht; nicht ein Wort über die schönen Gegenden, die Sie durchreist, die merkwürdigen Bekanntschaften, die Sie gemacht haben. Und das nennen Sie: sich mit jemand beschäftigen, Erlaucht?“

„Bevor ich Ihnen, meine vortreffliche und verehrte kleine Dame, genannt Fräulein Dina Ericius, antworte, gestatten Sie mir die Frage, weshalb Sie mich stets ‚Erlaucht‘ nennen? Warum nennen Sie mich nicht schlichtweg Snarre, und –“

„Es geht nicht, Herr Graf!“

„Es geht nicht? Weshalb – wenn ich fragen darf?“

„Weil es unser schönes, freundliches Verhältniß stören würde. Seien Sie aufrichtig, Erlaucht, Sie hören ihn ja so gern, diesen Titel, sind stolz darauf, und offen gestanden, dieser Stolz gefällt mir ganz gut an Ihnen. Alle Vertraulichkeit in Ehren, aber die Etikette darf man bei Ihnen nie ganz vernachlässigen, wenn man sich Ihre Freundschaft erhalten will. Sie sind der Mann mit den angeborenen Kammerherrnschlüsselallüren. Ich bin sicher, Sie würden selbst dem Tod im letzten Augenblick mit der ausnehmendsten Höflichkeit begegnen und ihm zurufen: ‚Gestatten Sie, Herr von Klapperbein, bevor Sie mir daß Lebenslicht ausblasen, gütigst, daß ich noch das letzte Tüpfelchen in meinem Testament auf ein i setze. Ich stehe dann gleich ganz und mit größtem Vergnügen zu Ihren Diensten!‘ Würde dann der Tod erwidern: ‚Bitte ganz gehorsamst, Herr Graf! Wollen Herr Graf durchaus nach Belieben verfahren!‘ so würden Sie sich aus

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