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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


Akustik und einer prachtvollen Orgel – ich bin gleich am Tage nach meiner Ankunft hingegangen und habe meinen Vorgänger im Amt reden hören.“

Annie Gerold dachte sich den Klang der Stimme, die sie neben sich hörte, hinein in die Lukaskirche.

„Wie er wohl sprechen wird?“ Diese Frage hielt ihre Gedanken eine Zeitlang so umsponnen, daß sie eine erneute Anrede ihres Tischnachbars überhörte unb nun verwirrt zusammenschrak, als sie ihres Versehens inneward.

„Ich sprach von der Psyche dort,“ sagte er und deutete auf ein reizendes Köpfchen in schönstem Marmor, das von einer hohen schwarzen Säule an der gegenüberliegenden Wand zu ihnen herübersah, „die ist eine liebe Bekannte von mir!“

„O – so waren Sie in Neapel?“

„Gewiß! Und Sie auch?“

„Nein, ich nicht! Aber meine Schwester hat eine sehr ernste und große Hinneigung zu der Kunst, sie hat eine solche auch in mir zu wecken verstanden, und wir besitzen beide ein paar große Mappen mit Bildern, die schon eine ganz anständige Sammlung ausmachen – darunter befindet sich auch die Psyche.“

Sein Blick ging vergleichend und prüfend zwischen dem Marmorbild und Annie hin und her. In der Art, wie das feine Köpfchen sich an den Hals ansetzte, in der Haltung des Nackens und in der einfach anmuthigen Anordnung des Haars lag eine augenfällige Aehnlichkeit.

Annie sah dies Vergleichen und verstand es auch – eine zarte Röthe trat ihr ins Gesicht, und ihre breiten, sanftgeschweiften Augenlider senkten sich; sie war Weib genug, sich zu freuen, und sie fand es taktvoll von ihm, daß er schwieg und seinen Beobachtungen nicht in einer Schmeichelei Ausdruck verlieh.

„Waren Sie lange in Italien?“ fragte Annie, und nun konnte sie wieder aufsehen.

„Fast ein ganzes Jahr, – dann in Spanien, Griechenland, Südfrankreich, Konstantinopel.“

Ihrem Mienenspiel merkte er das Staunen an, das dieser Bericht in ihr erregte: ein Geistlicher, und so weite, lange Reisen!

„Ich ging auf Wunsch meines Vaters überall hin – er hoffte, ich würde in der weiten, schönen Welt lernen, zu vergessen … nein, nein, es war kein Herzenskummer, den man in mir zu ersticken strebte.“

„Den Tod Ihrer Mutter wohl?“ fragte Annie leise.

Er schüttelte ernst den Kopf.

„Auch das nicht! Es war ein harter Schlag, als sie mir genommen wurde, aber er traf mich nicht unvorbereitet – sie war hoffnungslos krank seit Jahren. Was ich auf Reisen vergessen und aufgeben lernen sollte, war mein Beruf, den ich gegen den Willen meines Vaters und der ganzen Familie ergriffen und, wie Sie sehen, trotz allem festgehalten habe!“

Aus seinen Augen brach ein siegesgewisser Glanz hervor, der ihn noch viel schöner erscheinen ließ, und Annie Gerold wollte ihm eben antworten, als eine fremde Stimme zu ihrer Rechten erklang. „Sie gestatten, gnädiges Fräulein, daß ich, wenngleich spät, eine versäumte Pflicht nachhole und mich Ihnen vorstelle: Karl Delmont, Maler.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_585.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)