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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Foßwinkel, wo er die Frau des Amtsvorstehers entbunden habe, nach Mückern zurückgefahren sei, habe er schon aus den Moorstrichen verzweifelte Schreie wie von einem Sterbenden gehört; darauf sei er mit seinem Knecht sofort der Stelle zugeeilt, habe aber bei dem tiefen Nebel und da jetzt plötzlich alles wieder ganz still geworden, nicht gleich finden können, was es sei, und sei erst nach längerem Suchen auf Ingeborg Elbe gestoßen, die bis unter die Arme im Morast gesteckt und kein Zeichen von Leben mehr gegeben habe. Die Arbeit, sie aus dieser Lage zu befreien, sei keine leichte gewesen, endlich sei es ihnen aber doch mit eigener Lebensgefahr gelungen; sie hätten dann Ingeborg auf den Wagen getragen und nach dem zunächst gelegenen Heidekrug gebracht, wo sie unter der Pflege der Wirthsleute im heftigsten Fieber liege, demnach auch über die Art, wie sie in solche Gefahr gerathen, nicht die mindeste verständliche Angabe machen könne. Doch sei aus ihren Fieberphantasien zu schließen, daß Larsen und der rothe Jeppe, den man wieder habe laufen lassen, die Hand dabei mit im Spiel gehabt haben, und es sei dies um so wahrscheinlicher, als die beiden am Abend vorher mit einem Wagen ganz erhitzt im Heidekrug angekommen, dort in Streit gerathen und spät in der Nacht wieder abgefahren seien.

Im übrigen habe der Doktor gemeint, das starke Mädchen werde sich von dem Anfall schon wieder erholen, man möge sie nur ruhig drüben lassen, ihr das Nöthige, das er selbst mitnehmen wolle, hinüberschicken und abwarten, bis ihr Zustand die Ueberführung nach Trollheide gestatte.

Mit diesem Trost kehrte Snarre zurück, während der alte Elbe es sich nicht nehmen ließ, sofort nach dem Heidekrug zu seinem kranken Kinde zu eilen. Herr von Alten begleitete ihn dorthin, nachdem er Bianca entsprechende Botschaft gesandt hatte.


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Es war dunkle Nacht. Draußen am Himmel schoß gedankenschnell eine Sternschnuppe durch die unendlichen Räume. Auf den Feldern und Wiesen und Mooren lag’s wie unheimliches Grauen; die Ruhe der Natur hatte etwas Furchterregendes, als müßte plötzlich alles sich verwandeln, die Stille tobender Gewalt weichen, der Himmel sich verfinstern, die Sterne verschwinden und der Sturm hereinbrechen über die von zitternden Ahnungsschauern ergriffene Erde.

Bisweilen nahm wirklich der Wind einen stoßweisen Ansatz, verfing sich mit unheimlichem Rauschen in den Weiden am Uferrand der Moorlachen und stürmte durch die kahlen, gespensterhaft um das Heidewirthshaus aufragenden Bäume. Und wenn er wieder innehielt, ging’s erst wie leises Beben durch die Natur, und dann war’s, als ob sie zuckend den Athem anhielte, das Entsetzliche, das noch kommen werde, erwartend.

Zuletzt brach’s wirklich los. – Ein Gewitter entlud sich, erhellte meilenweit die Gegend mit seinen Blitzen, und in dem fahlen, elektrischen Lichte glichen die Regenfäden einer straff gespannten Riesenharfe.

Die Fluth nistete sich ein in die Felder und Moore, füllte die Tümpel und Ausstichseen und knickte die letzten Halme auf der nackten, armseligen Flur.

Drinnen im Heidewirthshaus aber lag in einem Hinterzimmer Ingeborg Elbe und schrie wie von Furien gepeinigt durch die Nacht, wollte aus dem Bett und zurück in das Moorgrab, aus dem sie wie durch ein Wunder errettet worden war.

Die Wirthin, eine hagere Frau mit strohgelbem Haar, großen wasserblauen, dummen, aber guten Augen und langen, mageren, knochigen Händen, saß, vom Wachen erschöpft, neben der Kranken und rührte sich auch dann kaum, wenn jene ihre Fieberphantasien laut austobte. Sie war müde zum Umfallen, und nach Art dieser Leute nahm sie das Schreckliche eben nur als etwas Unabänderliches, und ihre Gedanken gingen mehr auf ein „sanftes Ende“ als auf Genesung.

„So wat fleit up de Nerfen un grippt an’t Hart“, hatte ihr Mann gesagt, der auf der anderen Seite des Hauses in einem kleinen, viereckigen, kahlen Raume mit kleinen Fenstern ohne Vorhänge sich niedergelegt hatte. Er schlief, als gäbe es weder Unwetter draußen, noch einer Sterbenden Wehruf in seiner Kate.

Endlich schlummerte auch die Frau ein. Wie durch Bleigewichte herabgezogen, sanken ihre Lider; sie würde diesem Naturtrieb erlegen sein, selbst wenn Kanonen draußen ihre Schlünde geöffnet hätten.

In ihrem Bett jedoch richtete sich Ingeborg Elbe auf, suchte ihre Gedanken zu sammeln und schaute mit irren Augen um sich.

Und da öffnete sich die Thür und es erschien Larsen mit seinem furchtbaren Gesicht, – und als sie unter dem Leuchten des Blitzes entsetzt den Blick fortwandte, stieg er neben ihrem Bett aus dem Fußboden empor, streckte die Arme aus und suchte sie zu würgen. Und da schrie die Fieberkranke so fürchterlich auf, daß die Bäuerin wieder erwachte.

Nun erhob sich das Weib, drückte mit ausdruckslosem Gesicht die Kranke tief in die Kissen, ging in die Küche, holte Wasser und benetzte der Fiebernden Stirn, Wangen und Schläfen. Auch feuchtete sie ein Handtuch an und legte es der Stöhnenden in den Nacken. Und nachdem dies geschehen, trat sie ans Fenster und spähte hinaus, bis ein jäher Blitz, der das Gemach erhellte, die mit einem unwillkürlichen Schreckensruf Zusammenfahrende zurücktrieb. Es brüllte der Donner und heulte der Sturm und dem Weibe schauderte es; sie schob den Stuhl hinter das Bett der Kranken, dehnte die Glieder, gähnte, zog ein Tuch dicht über Kopf und Augen und schlief von neuem ein. –

Alten und Peter Elbe hatten Mühe, sich Einlaß in das einsame Gehöft zu verschaffen, denn die Wirthsleute waren mißtrauisch, und erst nachdem sie sich genau über die Personen der späten Ankömmlinge vergewissert hatten, öffneten sie ihnen das Thor. Ingeborg war jetzt etwas ruhiger geworden, und Alten ließ Peter Elbe, der von Schmerz überwältigt an dem Lager seiner Tochter lautlos zusammengesunken war, bei ihr und fuhr, nachdem er noch befohlen hatte, daß der Arzt von Mückern ihm morgen in Limforden selbst näheren Bericht über den Zustand der Kranken erstatte, etwas beruhigter nach dem Gute zurück, wo Bianca in großer Angst seiner harrte.

Am kommenden Tage fand sich auch der Doktor dort ein und erzählte ausführlich, wie und wo er Ingeborg gefunden habe. Bianca wohnte diesem Gespräch bei, und als der Arzt, ein Mann, der, unter dem Seevolk aufgewachsen, auch das Aussehen eines Seemannes besaß und durch auffallend blondes Kopf- und Barthaar und hellblaue Augen den Bewohner des Nordens verrieth, geendigt hatte, erbot sie sich sogleich, selbst nach dem Heidewirthshaus zu fahren und nach Ingeborg zu sehen.

Diesem Vorschlag stimmte der Doktor, in aufrichtiger Sorge um die Kranke, lebhaft zu und empfahl sich mit dem Versprechen, jeden anderen Tag nach der Leidenden zu sehen.

Zum Glücke erwiesen sich seine weiteren Besuche bald als überflüssig. Nach wenigen Tagen schon hatte die Kranke sich unter Biancas Pflege soweit erholt, daß sie nach Trollheide gefahren werden konnte, wo ihre Besserung rasche Fortschritte machte.

Die Nachrichten, die über Ingeborgs Befinden einliefen, wirkten sichtlich erheiternd auf die Stimmung in Schloß Snarre. Namentlich gewann Dina, welcher der Kummer um die Freundin am nächsten gegangen war, rasch ihren früheren Frohsinn wieder und wurde nicht müde, des Grafen Kavalierdienste in Anspruch zu nehmen.

Das Leben, das Graf Snarre seinen Gästen bereitete, war das denkbar angenehmste. Morgens richtete sich jeder nach seiner Bequemlichkeit ein und nahm das erste Frühstück in seinem Zimmer. Das zweite aber fand an gemeinsamer Tafel statt, und bei dieser Gelegenheit wurden die Pläne des Tages besprochen.

Um das Mißverhältniß in der Anzahl von Herren und Damen auszugleichen, lud Graf Snarre Bekannte aus der Umgegend zu mehrtägigem Besuch ein, sorgte für stete Abwechselung und hielt namentlich darauf, daß sich abends fast immer ein gewählter Kreis zusammenfand. Um zwölf Uhr morgens ward das zweite Frühstück, um halb fünf Uhr das Mittagessen aufgetragen; um neun Uhr folgte Thee und ein Nachtmahl, und vor zwölf Uhr ging man selten zur Ruhe. Niemals aber übte Graf Snarre Zwang auf seine Gäste aus. Wollte der eine oder andere sich ausschließen, so war ihm dies durchaus freigestellt, und es kam auch einigemale vor, daß die alte Gräfin und Frau Ericius abends nicht mehr erschienen.

Dina konnte sich kein größeres, kein „himmlischeres“ Vergnügen denken, als vormittags auszureiten. Wenn sie die gesattelten und den Erdboden mit den Hufen scharrenden Pferde vor dem Schloß erblickte, klopfte ihr das Herz, und wenn gar Graf Snarre sich ihr anschloß oder sie ein bißchen „pachtete“, wie sie sich ausdrückte, war sie überglücklich. Es kam ihr trotzdem gar nicht in den Sinn, daß sie irgend einen Eindruck auf ihn machen könnte, da ihre schöne, kluge Schwester auf der Welt war. Aber warum sollte nicht von den Huldigungen, die jener zugedacht waren und von ihr – Dina ahnte wohl, warum – verschmäht wurden, ein Stückchen für sie abfallen!



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