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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

den Beschützer der kleinen Ingeborg Elbe zu spielen, er vertrat mit kräftiger Faust ihre Partei, wo immer es unter den Kindern Zank und Streit gab, und Ingeborg ließ sich das gern gefallen, ja, es schmeichelte ihrer Kindeseitelkeit, den starken, muthigen Burschen zum Ritter zu haben. Allein aus dem Recht des Beschützers, das sie ihm einräumte, leitete er schon früh auch ein künftiges Besitzrecht her.

Schon als die Kinder noch zusammen spielten, dachten die Alten, wenn sie des Abends auf der Bank saßen: „Aus den beiden muß einmal ein Paar werden!“ Bald aber dachten sie’s nicht nur, sondern sie sagten sich’s, und mit der Zeit wurde es zu einem bindenden Vertrag zwischen ihnen, an dem sie mit der ganzen Zähigkeit ihres Alters und Standes festhielten, blind gegen alle Hindernisse, die sich ihrem gemeinsamen Wunsch etwa in den Weg stellen mochten.

So standen die Dinge, als Klaus Larsen seine erste Seereise antrat. Um diese Zeit erkrankte eine Verwandte von Ingeborgs Mutter, welche in Kopenhagen lebte, und erbat sich Ingeborgs Besuch zu ihrer Pflege und Gesellschaft, wogegen der alte Elbe nichts einzuwenden hatte. Der erst nur auf kurze Zeit berechnete Besuch verlängerte sich, Ingeborg verbrachte mehrere Jahre im Haus der Tante, wie man jene in der Familie nannte, und erhielt dort eine Erziehung, die weit über ihren Stand hinausging.

Gleichzeitig mit Larsen kehrte sie nach Mückern zurück, blühend und kraftvoll in ihrer äußeren Erscheinung und mit Lebensanschauungen, die von denen in ihrem Vaterhaus wesentlich abwichen, wenn auch die Liebe zu ihrem Vater und ihr kindlicher Gehorsam nicht darunter gelitten hatten. Nur diesen Gefühlen der Pietät verdankte es Larsen, daß sie jetzt, dem Drängen der beiden Alten mehr als Larsens stürmischer Werbung nachgebend, seine Braut wurde.

Indessen er sich zu einer zweiten Reise anschickte, ging sie, gleichsam zur Vorbereitung für ihren künftigen Beruf, nach Limforden zur Aushilfe bei der Wirthschaft und dort sah sie zum ersten Male Richard Tromholt. Sie sah ihn und liebte ihn. Nun erst erkannte sie die Kluft, die sie von Larsen trennte, allein es war ihr Verhängniß, das sie diesem nur um so sicherer in die Arme trieb. An eine Erwiderung jenes Gefühls, dessen überwältigender Stärke sie sich selbst erst nach und nach bewußt wurde, von seiten Tromholts wagte sie nicht zu denken. Mit dem scharfen Blick aller Liebenden hatte sie rasch erkannt, daß sein Herz einer anderen gehöre, aber auch abgesehen davon stand er in ihren Augen viel zu hoch über ihr, als daß sie je hoffen konnte, die Seine zu werden. Die achtungsvolle Güte, mit der er ihr begegnete, vermehrte unter solchen Umständen nur ihre Seelenqual, ihr Stolz gebot ihr, zu fliehen vor dem, zu dem ihr Herz sie hinzog, und als nun, gerade da dieser Kampf widerstrebender Gefühle am heftigsten tobte, ein Brief von Mückern eintraf, der ihr Larsens Rückkehr nach bestandenem Steuermannsexamen meldete und sie schleunigst dorthin rief, da jener nun ein eigenes Schiff erworben hatte und der Hochzeit kein Hinderniß mehr im Weg stand, da hielt sie dies für einen Wink der Vorsehung, dem sie gehorchen mußte, und reiste entschlossen, wenn auch mit angstvollen Empfindungen von Limforden ab. Der innere Kampf hatte ihre Kraft erschöpft, und mit einer Art stumpfsinniger Ergebenheit ließ sie die Ereignisse ihren Lauf nehmen.

Allein sie hatte sich doch zuviel zugetraut. Larsen, dessen brutal sinnliche Natur jetzt, da er dem Ziel seiner Wünsche so nahe stand, erst ganz unverhüllt hervortrat, empörte sie durch seine aufdringliche Zärtlichkeit um so mehr, als immer noch das Bild Tromholts vor ihrer Seele schwebte.

Da geschah es, daß Ingeborg, als sie eines Abends spät vom Besuch einer Freundin heimkehrte und ihr Weg sie durch eine in die Hauptstraße von Mückern einmündende Lindenallee führte, die unfreiwillige Zeugin einer Scene wurde, die sie mit Grausen und Abscheu erfüllte. Aus einer Laube an dem von Gärten begrenzten Weg drang nämlich ein lebhaft geführtes Flüstergespräch an ihr Ohr und veranlaßte sie, da sie deutlich ihres Bräutigams Stimme unterschied, einen Augenblick stillzustehen. Sie vernahm, daß Larsen einer anderen, in der sie an der Stimme eine längst auf leichtsinnige Wege gerathene Schulfreundin erkannte, zärtliche Liebesworte zuflüsterte und sie der Fortsetzung des früher begonnenen Liebeshandels versicherte, auch wenn Ingeborg sein Weib werde.

Sie hörte nichts weiter, ein Schauder erfaßte sie vor der Verdorbenheit des Menschen, dem sie in wenigen Tagen angehören sollte, und sie irrte einen Theil der Nacht planlos am Meeresstrand umher, entschlossen, eher zu sterben, als das über sich ergehen zu lassen. Der Gedanke an ihren Vater allein hielt sie noch von der Ausführung solchen Entschlusses zurück. Als aber die Ereignisse unaufhaltsam ihren Lauf nahmen, der Tag der Hochzeit herankam und mit ihm Tromholt, da, im letzten Augenblick, wo sie sich zu dem Kirchgang schmücken sollte, bäumte sich ihre beleidigte Weiblichkeit auf und bestimmte sie, alle anderen Gefühle zurückdrängend, zur Flucht.

Wohin aber sollte sie sich wenden, um der Verfolgung zu entgehen? In ihrer namenlosen Verwirrung, ihrer völligen Hilflosigkeit sah sie außer dem Tod nur ein Asyl: bei Tromholt! Er würde sie beschützen, das wußte sie, und er würde sie auch verstehen und entschuldigen, wenn sie ihm alles gestand. Alles? Nein, alles durfte sie ihm nicht gestehen, aber doch die Gründe ihrer Losreißung von Larsen. Er allein auf der Welt noch konnte ihr helfen, und so flüchtete sie sich denn, alle anderen Bedenken niederkämpfend, zu ihm. –

Inzwischen hatte Larsen, anstatt, wie es vor seiner Begegnung mit Ingeborg seine Absicht gewesen war, Hamburg am nächsten Tage wieder zu verlassen, nicht geruht, bis es ihm gelungen war, die verlorene Spur des Mädchens wieder ausfindig zu machen.

Am sechsten Tage nach der erwähnten Begegnung brachte die Post einen Brief, der Ingeborg in eine neue furchtbare Aufregung versetzte:

„Ich liege im Hotel zum Englischen Hause in der Admiralitätsstraße hoffnungslos, vom Arzte aufgegeben, darnieder. Aus Mitleid besuche mich, damit ich Dich noch einmal vor meinem Ende sehe!

Klaus Larsen.“

Mehrere Stunden verflossen, ehe sich Ingeborg zu einem Entschluß aufzuraffen vermochte. Endlich siegte das Mitleid und sie entschied sich zum Gehen. –

In Limforden war inzwischen ein Schreiben aus Kiel eingelaufen, in dem Frau Ericius neben anderen nicht unwichtigen Dingen mitgetheilt hatte, daß Graf Utzlar sich endgültig entschlossen habe, künftig in Limforden seinen Wohnsitz zu nehmen, und daß die Hochzeit, sobald dies schicklicherweise mit den traurigen Vorfällen zu vereinbaren sei, stattfinden werde. Da Utzlar schon in wenigen Tagen seinen Austritt aus der Marine bewirkt haben würde, habe sich das Brautpaar entschieden, nach dem Gute zu reisen, um sich seine künftigen Wohnräume anzusehen und eine Uebersicht zu gewinnen, was etwa an Mobiliar und sonstigen Einrichtungsgegenständen anzuschaffen sein werde. Gleich mit dem Frühlingsanfang solle dann die Uebersiedelung stattfinden, und Frau Ericius bitte sämmtliche Betheiligte, ihrer Tochter und Utzlar möglichst in allem Vorschub zu leisten. Im übrigen erwarte sie Richard baldmöglichst in Kiel behufs weiterer Rücksprache.

„Also die ganze Generalität wird ihr Standquartier hier beziehen! Na, das wird ja fortan ein paradiesisches Leben werden!“ – stieß Alten heraus. „Ich sehe schon alles vor mir! Der Graf wünscht dies und wünscht das, der Graf ist schlechter Laune, der Graf findet, glaubt, meint, erwartet, befiehlt – kurz, der Graf wird die Tarantel unseres Daseins werden, und wir werden jeden Tag die Zeitungen studieren, ob etwa ein Nachtwächterposten in Buxtehude oder anderwärts in der bunten Welt frei geworden ist. – Und Sie, Tromholt, werden natürlich ganz ruhig bleiben! Aber passen Sie auf, zuletzt werden auch Sie den Spaten ins Moor stoßen, drüben die Dampfventile pfeifen lassen, welche Melodie sie wollen, und rufen: ‚Ich danke, ich danke, ich danke! Sucht euch das Lastthier eurer Launen anderswo!‘ – Wahrhaftig, wenn mir der alte Besserwisser Ericius nicht gar so zuwider gewesen wäre, jetzt könnte ich beten, daß er wieder auferstehen möge –“

Alten stockte plötzlich und musterte mit einer Mischung von Ernst und Humor die Züge Biancas, die bei den berathschlagenden Männern saß. Dann fuhr er in seiner lebhaften Weise fort: „Ah, meine gnädige Frau, Sie schelten wieder! Ja, Sie schelten! Ich seh’s an Ihren unmutig zuckenden Nasenflügeln, die sich immer im Halbtakt bewegen, wenn ich einen nach Ihrer Ansicht strafwürdigen Einfall habe! Aber ich kann nicht dafür. Kupfer kann ich nicht für Gold erklären. Und fragen Sie nur Seine Hochwohlgeboren Herrn Direktor Richard Tromholt, ob er sich der kommenden Dinge freut!“

Richard und Bianca lachten, aber ehe sie antworten konnten, ward von der alten Marieken eine Depesche für den ersteren gebracht. Dieselbe kam aus Hamburg und lautete in dänischer Sprache:

„Kommen Sie, ich beschwöre Sie, sofort Hotel Englischer

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