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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Ich verstehe Dich nicht mehr, Wolfgang! Aus einem Zwiespalt, von dem ich selber nicht das Geringste bemerkte?“

„Würden wir Menschen denn so oft geradeswegs in unser Unglück rennen, wenn wir rechtzeitig bemerkten, auf einer wie verderblichen Bahn wir uns befinden? Und glaube mir, mein Liebling: Du warst bedenklich nahe daran, Dich in der absichtlich gewählten Einsamkeit Deines elenden Stübchens bei Deinen schlecht bezahlten Malereien in ein tief unglückliches Dasein hineinzuleben. Nicht durch Deine Schuld – denn Du warst eben erzogen worden für eine Gesellschaft, die da meint, über der großen Menge der Menschen zu stehen, und die sich darum das Recht nimmt, diese Menge zu verachten. Alle Deine Gedanken und Lebensanschauungen wurzelten in dem Boden dieser Erziehung, und wie wohlthätig auch eine angeborene Herzensgüte Deinen aristokratischen Hochmuth dämpfen mochte, er war darum doch in nur zu entschiedener Ausprägung vorhanden. Du schüttelst den Kopf und siehst mich beleidigt an – Du glaubst mir alsa nicht! Nun wohl, so gieb mir ehrliche Antwort auf einige ehrliche Fragen: Warum machtest Du gerade das geringste und unvollkommenste Deiner Talente für den Broterwerb nutzbar, wenn nicht in dem hochmüthigen Irrthum, daß es Dir nicht anstehe, Dich gleich der ersten besten Bürgerstochter in der abhängigen Stellung einer Erzieherin oder eines Wirthschaftsfräuleins durch die Welt zu schlagen? Warum gabst Du Dir so wenig Mühe, Deine Entrüstung über die von mir getroffene Berufswahl zu verhehlen, und warum lehntest Du es ohne Besinnen ab, meinem Hauswesen vorzustehen? – Sieh, ich erinnere Dich gewiß nicht an diese Dinge, um Dir einen Vorwurf daraus zu machen, denn Du dachtest und handeltest eben nur, wie Du es von Kindheit auf gelehrt worden warst. Aber Du mußt mir glauben, daß es mich aufrichtig schmerzte, Dich in so gefährlicher Verblendung zu wissen. Wer sich völlig unabhängig von den Menschen fühlt, der mag es ja wagen dürfen, sie ungestraft zu verachten. Wer aber mitten im großen Strome dahintreibt, allen Stürmen preisgegeben und stündlich darauf angewiesen, nach der Hand eines lieben Nächsten zu haschen, um sich an ihr mit genauer Noth über Wasser zu halten, der hüte sich vor der Hoffahrt als vor der verderblichsten aller Thorheiten. Ob er sich den Haß oder den Spott der anderen zuzieht, in jedem Falle wird er sehr bald unglücklich und einsam sein. Was die Menge an den Großen und Mächtigen ehrfürchtig anstaunt und bewundert, das erscheint ihr bei ihresgleichen nur zu oft verdammenswerth oder verächtlich – und ihresgleichen ist ihr jeder, der mit der gemeinen Noth des Lebens zu ringen hat wie sie. Den Hochmuth des Fräuleins von Brenckendorf, das in einer wappengeschmückten Equipage dahinsaust, mag sie vollkommen begreiflich finden – für den Hochmuth des Fräuleins von Brenckendorf aber, das sie mühselig um das tägliche Brot arbeiten sieht, würde sie sicherlich nur Hohn und offenkundige Geringschätzung haben.“

„Und warum, wenn Du dies alles erkanntest, warum hast Du es mir nicht schon damals gesagt?“

„Weil Dir meine Worte nicht den geringsten Eindruck gemacht haben würden, liebste Marie! – Wenn es ein Mittel gab, Dich vor so verfehltem und verbittertem Dasein zu bewahren, so war es einzig der Versuch, Dir die Welt Deiner Träume und Wahnbilder einmal im nüchternen Lichte der Wirklichkeit zu zeigen, Dich durch eigene Erfahrung zu überzeugen, daß Lauterkeit des Charakters und Größe der Gesinnung mit adliger Abstammung so wenig nothwendig verbunden sind als Ehrlosigkeit und feige Schwäche mit niedriger, ruhmloser Herkunft. Wie die Dinge sich jetzt gestaltet haben, muß ich freilich zugeben, daß es ein gefährlicher Versuch war und daß ich vielleicht besser gethan hätte, ihn nicht zu wagen.“

Verständnißlos starrte ihn Marie an; dann aber ergriff sie mit einer heftigen Bewegung seinen Arm.

„Ein Versuch, den Du unternommen hast, Du? – Ja, um Gotteswillen, was soll denn das heißen?“

„So ist Dir niemals eine Ahnung gekommen, wem Du die freundliche Einladung des Generals zu danken hattest? So hast Du nie etwas Auffälliges in der plötzlich erwachten Theilnahme unserer lieben Verwandten gefunden?“

Wie von einem furchtbaren Schlage getroffen, senkte Marie das Haupt.

„Sage mir alles, Wolfgang!“ bat sie mit matter Stimme. „Jetzt darfst Du mir nichts mehr verschweigen!“

Und er berichtete ihr in der That getreulich von seinem einzigen Besuche bei dem General und von dem seltsamen Vertrag, welcher damals zwischen ihnen geschlossen worden war.

„Hättest Du Dich in jenen Kreisen dauernd wohl befunden, meine liebe Marie, so würdest Du aus meinem Munde nie erfahren haben, welche Bewandtniß es mit der liebevollen Fürsorge Seiner Excellenz für die Tochter des armen Jugendfreundes hatte. Meine Rechnung wäre dann einfach falsch gewesen, und im Anblick Deines Glückes hätte ich die Erkenntniß meines Irrthums wahrlich leicht verschmerzt. Jetzt aber mußt Du freilich zu allem anderen auch noch diese Enthüllung in Kauf nehmen. Du mußtest erfahren, weshalb ich mich meines Adels entäußerte und weshalb Engelbert von Brenckendorf es wagen durfte, mich vor seinen Freunden zu verleugnen.“

Er war offenbar einer wohlüberlegten Absicht gefolgt, aber es hatte ganz den Anschein, als ob die Wirkung seiner Mittheilungen eine wesentlich andere sei, als er es erwartet hatte. Marie war todtenbleich geworden, und als er sich nun aufs neue ihrer Hand bemächtigte, lag dieselbe eiskalt in der seinigen. Wolfgang wartete ruhig auf ihre Erwiderung, obwohl Minuten vergingen, ehe sie, all ihre Kraft sichtlich mühsam zusammenraffend, sagte:

„Du hast es gewiß gut mit mir gemeint, und das Opfer, welches Du mir gebracht hast, ist viel größer, als ich es um Dich verdient habe. Ich danke Dir dafür; aber Du siehst nun wohl selber ein, daß es besser gewesen wäre, den Versuch zu unterlassen. Du hattest eben nicht daran gedacht, eine wie unwürdige Rolle ich in den Augen des Generals und seiner Angehörigen spielen mußte, nachdem ich infolge solcher Abmachung in sein Haus gekommen war, – Du hattest die Demüthigungen nicht vorausgesehen, die mir unter solchen Umständen früher oder später unfehlbar beschieden sein mußten, und – doch genug, es könnte den Anschein gewinnen, als ob ich Dir Vorwürfe machen wollte, und das ist sicherlich nicht meine Absicht. Noch einmal: ich danke Dir – auch für Deine Offenheit! Und nun: adieu – für heute!“

In lebhaftester Ueberraschung hielt Wolfgang noch immer ihre Hand.

„Du willst fort – jetzt? – Und die Genugthuung, welche ich Dir verschaffen sollte?“

Sie sah ihn fest an, und es war ein eigenthümliches Leuchten in ihren Augen.

„Ich selbst werde sie mir nehmen, Wolfgang – besser und vollständiger, als irgend ein Beschützer es an meiner Stelle könnte.“

„Aber Du wirst mich zuvor in Dein Vertrauen ziehen, nicht wahr? Und von nun an wird mein Haus Deine Heimath sein?“

Ohne Unfreundlichkeit, doch mit einem Ausdruck unerschütterlichen Entschlusses auf dem blassen Gesicht schüttelte Marie den Kopf.

„Zürne mir nicht, wenn ich Dir darauf zum zweiten Mal mit Nein antworten muß. Es ist gewiß nicht Hochmuth, der mich heute dazu bestimmt.“

„Aber der Grund? Du mußt doch irgend eine Ursache haben für solche Weigerung?“

Ein schwaches, wehmüthiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Vielleicht habe ich keine triftigere als der kleine Vogel, der sich vor dem neuen Käfig fürchtet, nachdem er dem alten entronnen ist. Ich weiß, Du wirst mich nicht mißverstehen! Und Du wirst mir auch künftig gestatten, mich an Dich als an meinen einzigen Freund zu wenden, wenn ich des Schutzes bedürftig bin. Ohne Groll wirst Du mir Deine Hand zum Abschied reichen, auch wenn meine Ablehnung Dich ein wenig gekränkt hat – nicht wahr?“

„Wie sollte ich Dir grollen, mein Liebling! Aber es will mir nicht in den Sinn, daß ich Dich so von mir gehen lassen soll! So sage mir wenigstens, was Du zu beginnen gedenkst!“

„Und wenn ich darüber nun mit mir selber noch nicht ganz im reinen wäre? Würdest Du nicht begreifen, daß ich dann vor allem Zeit gewinnen muß, darüber nachzudenken?“

„Ich fürchte, meine liebe Marie, Du bist in diesem Augenblick nicht ganz aufrichtig gegen mich. Aber ich will nicht in Dich dringen, mir ein Vertrauen zu schenken, das Dir nicht von Herzen käme. Daß Du nichts Verwerfliches unternehmen wirst, dessen bin ich ja – Gott sei Dank! – gewiß.“

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